Ein Filmvorführer als Heilsbringer

In seinem grandiosen Debütroman schildert Baret Magarian „Die Erfindung der Wirklichkeit“

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Autor, der seinem Debütroman ein Zitat aus Der Meister und Margarita von Michail Bulgakow voranstellt, könnte als übermütig gelten. Im Falle von Baret Magarians grandiosem Roman Die Erfindung der Wirklichkeit wirkt das Zitat nicht überzogen. Zwar gibt der in London geborene und in Florenz lebende Autor anglo-iranischer Herkunft sein Debüt als Romancier. Doch er verfügt über reiche künstlerische Erfahrungen als Theaterregisseur, Übersetzer, Kritiker und Komponist, schreibt für führende britische Zeitungen, interviewte Peter Ustinov und Salman Rushdie und verfasste einen Theatermonolog. Laut einem Interview von 2017 für eine Publikation über Künstler in der Toskana sucht Magarian, von sinnlichen Wahrnehmungen in der vielfältigen, teils schrecklichen Welt überwältigt, nach dem „Schatten-Ich“, der Identität jenseits des Ich. Es verwundert nicht, dass dieser Autor die Absurdität menschlicher Existenz erkennt und thematisiert.

Auch gibt es deutliche Parallelen zwischen Bulgakows Meisterwerk und Magarians Roman. Hier wie da ist das Scheitern eines Schriftstellers der Ausgangspunkt für satirische und phantastische Erfindungen. Der von Magarian erdachte Schriftsteller heißt Daniel Bloch, ist 48 Jahre alt und hat mit zahlreichen „populären“ Büchern großen Erfolg gehabt. Nun will er endlich einen Roman schreiben, den die Literaturwelt ernstnimmt. In einer Schreibblockade gefangen, kommt er auf die Idee, den rund zwanzig Jahre jüngeren Oscar Babel, dem er ein väterlicher Freund ist, als Protagonisten zu wählen. Teil I des Romans heißt denn auch Die Idee.

Der attraktive und naive Oscar ist als Maler gescheitert und arbeitet als Filmvorführer kurz vor dem Ende jener Zeit, als noch die Spulen gewechselt werden mussten. Sonderlich aufregend fände man dieses Buchprojekt nicht ohne Magarians grandiosen Einfall, dass alles, was Bloch über seinen Schützling schreibt, schnellstens Wirklichkeit wird. Das beginnt mit einem Vermieter und einer Katze und macht Oscar vorübergehend zum Aktmodell, eine Erfahrung, die er mit Magarian teilt. Bloch erschrickt über die Wirkung seiner Texte und will nicht weiterschreiben. Dann tut er es doch, wird immer schwächer und spricht Notizen aufs Tonband.

Oscar begegnet in Teil II (Der Guru) dem diabolischen, aber hohlen Medienprofi Ryan Rees, der es müde ist, immer neue banale Leute als Promis zu vermarkten. Dieser Mann ist Public-Relations-Spezialist, Medienagent, Influencer, vor allem aber Betrüger. Er beschließt, den Niemand Oscar zum Heilsbringer zu hypen. Mit aufdringlicher Werbung erhöht er systematisch dessen Bekanntheitsgrad, so dass auswendig gelernte Bruchstücke von Blochs Tonbandtexten aus Oscars Mund massenhaft offene Ohren finden. Vor 3.000 Leuten im Kensington Garden ruft Oscar dazu auf, im ganzen Leben so hellwach zu sein wie beim Geschlechtsverkehr. Das löst eine sexuelle Massenhysterie aus, die dem dritten Teil des Romans den Titel Die Orgie gibt. In dem Maße, wie Oscar berühmt wird, geht es mit Bloch abwärts, als müssten sich beide in eine Lebenskraft teilen.

Der Autor hat sich für durchgehend auktoriales Erzählen entschieden; das Innenleben seiner Figuren wird nicht bis ins Letzte ausgeleuchtet. Auch geraten Babel, Bloch und Rees seitenlang aus dem Blickfeld. Doch bei strafferem Plot und flotterem Erzählen müsste man auf groteske Nebenschauplätze verzichten. Bühnenreif ist eine Szene, in der ein schwuler Wahrsager von der Frau, die er seinen Eltern als Verlobte vorstellt, dazu gebracht wird, sich endlich zu outen.

Magarian rückt auch Schicksalsschläge ins Skurrile. So hat Blochs Frau Natalie den Schriftsteller verlassen, weil sie sich ausgerechnet in ihren Schwiegervater verknallte. Dieser Daniel Bloch ist anders als Oscar eine interessante und vielschichtige Gestalt. Ein annehmbarer Autor wohl auch, wie bemerkenswerte Äußerungen über Liebe und Sehnsucht zeigen.

Der Malerin Najett traut man eine Zeitlang zu, Oscar mit der Kraft ihrer Liebe von seinem als Höhenflug empfundenen Holzweg abzubringen. Am Ende gibt es einen kurzen Höhenflug im wörtlichen Sinn. Aus einem gegen den Willen von Rees aufsteigenden Ballon gleitet Oscar freiwillig hinunter in die Leere.

In der Absurdität des Geschehens geht die Logik nicht verloren, die teuflisch ist wie Rees und viel wirkmächtiger als er: Wo Wirklichkeit erfunden, also – wie im Originaltitel The Fabrications verdeutlicht – fabriziert wird, gibt es keine Wahrheit mehr. Da werden „Promis“ willkürlich geschaffen und wieder abserviert, ohne dass echte Leitbilder entstehen. Eine Kathedrale wird zur Werbefläche, der Glaube zum Irrglauben, ein Niemand zum Guru. In Magarians Roman verkommen absurde, urkomische und satirische Einfälle nicht zum Selbstzweck, sondern stehen im Dienst eines todernsten Themas: der Frage nach dem Sinn des Lebens angesichts der realen Gefahr einer irrealen Scheinwelt.

Cathrine Hornung, die sich in Florenz mit dem Autor traf und ein aufschlussreiches knappes Nachwort als „Dank der Übersetzerin“ beisteuert, hat einfühlsam und kreativ vom Englischen ins Deutsche übertragen. Dadurch kommen gewichtige Aussagen ebenso unbeschadet herüber wie skurrile Formulierungen und originelle bildliche Vergleiche. Warum der bereits 2017 in den USA erschienene brillante Roman den deutschen Büchermarkt erst jetzt erreicht hat, wäre eine andere Geschichte.

Titelbild

Baret Magarian: Die Erfindung der Wirklichkeit.
Aus dem Englischen von Cathrine Hornung.
Folio Verlag, Wien 2022.
480 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783852568614

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