Wer sich eine Grube gräbt …
Lucia Jay von Seldeneck macht einen ehemaligen Kindergarten namens „Weltfrieden“ zum wichtigsten Schauplatz ihres Debütromans
Von Rainer Rönsch
Der Weltfrieden, Idealzustand und höchstes Ziel der Menschheit, wurde in der DDR zum Namensgeber für unterschiedliche Objekte. Bei der „Weißen Flotte“ in Dresden fuhr ein Schaufelraddampfer „Weltfrieden“, in Brandenburg gab es einen Betriebskindergarten dieses Namens. Jedenfalls in Lucia Jay von Seldenecks Debütroman, der aus auktorialer Perspektive und in unbeschwerter Sprache erzählt wird und zwischen Oktober 2001 und Mai 2002 spielt. Da ist das fiktive Fermentationswerk Königswerder West („FKW“) am Ufer des Groß Rietzener Sees beim Dorf Wolzow unweit von Berlin bereits seit sieben Jahren abgewickelt.
Parallelen zu einem DDR-Betrieb in Rüdersdorf, ebenfalls in jener Gegend, liegen nahe. Dort produziertes Futterphosphat fand im westlichen Ausland reißenden Absatz, was die Treuhand nicht daran hinderte (oder sogar bewog?), das Werk zu schließen.
Beim „FKW“ hätten Bakteriophagen („Bakterienfresser“) als resistenzfreie Antibiotika der Zukunft entstehen können. Die Treuhand aber beauftragte einen Insolvenzanwalt mit dem Verkauf des Werks, und der rekrutierte einen gewissen Sascha Behrends von der anderen Seeseite als Assistenten. Ihm begegnen wir später.
Zunächst haben wir es mit Erika und Hermann Grüning zu tun, ehemals Laborassistentin und Hausmeister, die sich nach Schließung des „FKW“ nicht mit der Arbeitslosigkeit abfanden, sondern in den neuen Wochenendhäusern auf den alten Grundstücken am See für Ordnung sorgen. Reiche Berliner haben in der schönen Landschaft investiert. Bei einer Hausbesitzerin muss Erika Grüning eine Kittelschürze tragen. Damit kommt sie zurecht. Immerhin kann sie die eigene Wäsche in den Ferienhäusern waschen und muss ihre defekte Waschmaschine nicht ersetzen. Ein Auftraggeber vermeidet feinfühlig das Wort „putzen“ für die Tätigkeit der Grünings.
Sie und ihre Freunde gebrauchen ein anderes Wort nicht – statt von der „Wende“ reden sie von „damals“ oder „früher“. Von den Freunden seien die ehemalige Produktionsleiterin und redselige Martina und der ehemalige Chemiker und jetzige Fischergehilfe Joppe erwähnt. Er engagierte sich schon vor 1989 für den Umweltschutz und liebte dennoch seine Frau Billa, die die Massenchoreographie für Aufmärsche in Ost-Berlin verantwortete und nach dem Verschwinden der DDR keinen Lebenssinn mehr sah. Joppes aufkeimende Liebe zu Els, einst das begehrteste Schulmädchen in Wolzow, dann Schauspielstudentin in den USA und nun Inhaberin eines zum beliebten Treffpunkt gewordenen Imbisswagens, wird feinfühlig geschildert.
Grünings Tochter Heike wollte nach der Schule sofort von zu Hause weg und um keinen Preis als Ostdeutsche erkannt werden. Die Kapitel über ihr Leben unter Aussteigern in Berlin bringen nicht viel Neues über dieses Milieu.
Auftritt Sascha Behrend, nunmehr Besitzer des Grundstücks mit dem Kindergarten. Behrend wollte und will nach oben. Die Begründung, warum ihm dafür jedes Mittel recht ist, ist zwar originell, aber etwas dürftig: Schon als Zehnjähriger spürte Sascha so etwas wie Unternehmergeist in sich und verkaufte Hühnereier auf eigene Rechnung. Dafür bekam er Prügel vom Vater, der diese Aktion als „Verrat am Kommunismus“ geißelte.
Behrend ist eine flache böse Figur. Er hält Kontakt zu Betrügern und Großmäulern, denen er mit Misstrauen begegnet. Während sich an ihm wenig Interessantes findet, ist einer seiner Kumpanen clever genug, Autozusammenstöße auf einem Kreisverkehr so zu inszenieren, dass ihm die Zahlungen für die „Schadensereignisse“ immer teurere Autos einbringen.
Höhepunkt des Romans ist der Zusammenprall zwischen Behrend als neuem Eigentümer des Kindergartens und den Rechtschaffenen. Hier gilt eine Variante zum Sprichwort von dem, der andern eine Grube gräbt, denn Behrend hat die Grube selbst ausgehoben, in der er belastende Papiere versenkt hat und in die er nun hineinfällt. Die Gegenseite weiß nicht recht, ob sie gerichtlich vorgehen oder lieber gleich abkassieren soll. Verraten sei der Ausgang nicht – wohl aber, dass Heike und ihre Eltern wieder zueinanderfinden.
Das kluge und warmherzige Buch ist eine beredte Argumentationshilfe gegen das Gefasel des Bundesfinanzministers von einer ökonomischen Dolchstoßlegende gegen die „Treuhand“. Deren Name wirkte auf viele Leute aus der DDR so, als würde sich ein Schutzgelderpresser als Ordnungshüter bezeichnen. Westliche Raubritter und einige östliche Spießgesellen waren eben keine Legende, sondern unglückbringende Realität. Der Roman ist aber auch ein unpathetisches und zuweilen humorvolles Bekenntnis zu Menschen, die in vorgerückter Lebenszeit einen neuen Anfang wagen und alte Freundschaften hochhalten.
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