Kunst des Kotzens und Kadenzen des Skatologischen

Andrea Abreu lässt in ihrem Coming-of-Age-Roman „So forsch, so furchtlos“ dem Kreatürlichen freien Lauf

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„So forsch, so furchtlos“, so heißt es auf dem Klappentext, sei „in Spanien der größte Überraschungserfolg der letzten Jahre“ und seine Autorin „der neue Shootingstar der spanischsprachigen Literatur“. Vielleicht hat sich Andrea Abreu mit ihrem Erstling, im Original Panza de burro (2020, wörtlich „Eselsbauch“), eine mehr oder minder solide Position in der Literatur ihrer Heimatinsel Teneriffa erschrieben; ob der Hype um den Roman in den 19 Ländern, in denen Übersetzungen erschienen sind, andauern wird, sei dahingestellt.

Zwei befreundete Mädchen im Teenageralter haben ihre Kindheit auf Teneriffa verbracht – in den Gebieten, die im Abseits der Tourist*innenströme liegen. Zwölf bis vierzehn Jahre mögen sie nun zählen – die Erste, Isora, ist etwas älter, körperlich weiter entwickelt und übergewichtig, die Zweite im Bunde ist die namenlos bleibende Ich-Erzählerin. Beide besuchen die ortsansässige, klassenübergreifende Schule, in der die Ferien gerade begonnen haben.

Isora wächst bei ihrer Tante Chuchi und ihrer Großmutter Chela auf. Ihre Mutter ist verstorben, vom Vater erfährt man nichts. Chela drängt Isora immer wieder dazu, Diäten auszuprobieren. Anstatt jedoch z. B. nur Zwiebelsuppe zu essen, verschlingt das Mädchen, so oft sie die Gelegenheit dazu hat, große Mengen an Nahrung und erbricht sie. Die Erzählerin schaut ihr dabei zu, bewundert sie und scheut nicht davor zurück, sich neben Gameboy-Sessions und meist harmlosem Barbiepuppenspiel auf besondere Aktionen, z. B. ein sehr körpernahes Spiel mit Unterwäsche, einzulassen.

Bei einem Spaziergang in freier Natur mit Isora und einer Gruppe von Jungen kommt es zum Äußersten: Isora ist mit einem der Anwesenden verschwunden, ein anderer vergewaltigt die Erzählerin, die am Tag danach, geplagt von Zecken und Flöhen im Schritt, Isora nicht mehr sehen möchte. Binnen Kurzem hält sie es aber nicht mehr aus, sie begibt sich zur Freundin und verzeiht ihr. Ein paar Tage später kommt es zwischen den beiden zu einer heftigen handgreiflichen Auseinandersetzung, nach der sie sich erneut versöhnen, bevor Isora im Meer verschwindet.

Mit dem Megathema Adoleszenz ordnet sich Abreu in eine jahrhundertealte literarische Tradition ein, deren Lebendigkeit bekanntermaßen alle Zeiten überdauert hat. Die Entwicklungsaufgaben, die aufgegriffen werden, so sehr sie vom jeweiligen historischen Moment determiniert sein mögen, partizipieren in erster Linie an der conditio humana schlechthin.

Der schmerzhafte und partikulare Individuationsprozess, den die Erzählerin durchläuft, konzentriert sich auf die Monate Juni, Juli und August in einem der 2000er Jahre, schätzungsweise 2005 bis 2009, als MP3-Player, Gameboy, Pokémon, Telenovelas, Klapphandys und der Chat über ein Messenger-Programm angesagt waren. Neben den zwischenmenschlichen Begegnungen füllen diese Gadgets und Aktivitäten die Ferienwochen, deren Darstellung in Episoden eine sehr geringe Raffungsintensität aufweist. Die einzelnen Kapitel, in denen erzählte Zeit und Erzählzeit zur Deckung hintendieren, könnten in den meisten Fällen isoliert gelesen werden.

Isora und ihre Freundin wohnen in einem unterprivilegierten Viertel, „El Paso del Burro“. Dort, „ganz oben im Nirgendwo“, werden lediglich einige Landhäuser an Tourist*innen vermietet. Die anderen Häuser sind meist illegal errichtet – sie reihen sich in unvollständiger Bauweise, „wie unfertige Monster“, aneinander. Nur oberhalb des Strands von San Marcos sind die Viertel noch ein bisschen düsterer, „bedeckt von Wolken, Schwerfälligkeit, dunkelgrauer Traurigkeit“.

Vor den Mädchen liegt ein Sommer, der sich nicht danach anfühlt. Isora leidet unter dem Kommandoton ihrer Großmutter, die Ich-Erzählerin begleitet ihre Mutter zum Putzen in die Landhäuser, wo die Toiletten verschmutzt sind und Nahrungsreste auf den Tellern kleben. Dort empfindet sie den Graben zwischen Einheimischen und „blöden Touris“ als besonders tief, zieht zudem Frust und Ärger auf sich, weil sie beim Saubermachen helfen soll und viel zu langsam sei, so die Mutter. Es sehe aus, als ob sie „totes Blut“ habe. Anstatt zu fegen, träumt sich die Erzählerin in das Leben der „Touris“ hinein, so lange, bis „eine Wand aus Cellophan“ vor ihren Augen ersteht und sie realisiert, dass sie nur „die Tochter der Putzfrau“ ist.

Was das Leben des jüngeren Mädchens dominiert, ist die Beziehung zur Freundin. Isora ist klug und über vieles gut informiert. Sogar ihre Ferienhausaufgaben hat sie, im Gegensatz zur Erzählerin, bereits erledigt. Diese Aspekte der kognitiven Kompetenz und des Wissens rücken gegenüber unverblümter und kruder Körperlichkeit leider stark in den Hintergrund. Dasselbe gilt für Isoras dunkle Seite, ihre psychische Problematik im Allgemeinen sowie das Buhlen nach Aufmerksamkeit, ihre bulimischen Attacken und ihre Depressivität im Besonderen. Vergeblich eifert sie dem Ideal nach, das die Großmutter einfordert, das Schlankheit zum Allheilmittel für alle Misslichkeiten emporstilisiert und mit Glück gleichsetzt.

Die Bewunderung der Jüngeren gipfelt in einem Kapitel mit dem Titel „Zum Fressen gern“. Gänzlich ohne Interpunktion kommt dieses aus und vor allem die Akkumulation von Wörtern in Minuskeln erweist es als offen sexualisiertes „Hohelied der Liebe“, das vom Kannibalismus („ich hab isora zum fressen gern will sie aufessen“), zur Digestion danach („ausscheißen damit sie mir gehört die kacke aufbewahren in einer schachtel damit sie mir gehört“), über die weitere Verwendung des Produkts („meine zimmerwände mit der kacke streichen“) schließlich in Fusion und Metamorphose („damit ich sie überall sehen kann und mich in sie verwandle ich will isora sein in isora drinnen sein“) gipfelt.

Während dieses hymnische Kapitel mit seinen verbalen, einem gastrointestinalen Schwall ähnelnden Eruptionen mit Wohlwollen als experimentell eingestuft werden kann, es sogar eine gewisse Neigung zum Innovativen in sich birgt, gewinnt meistens eine schlichtweg plumpe Physis die Oberhand, deren Expressionsspektrum des Intestinal- und Fäkalsprachlichen nicht zuletzt wegen der thematischen Nähe – die Freundschaft zweier Mädchen – an Lize Spits Und es schmilzt (dt. 2017) erinnert. Ein solches Procedere ist im weitesten Sinne in einer Ästhetik des Hässlichen zu verorten, gleichwohl in einer extrem reduzierten Variante.

Es wird „gerülpst“, „gekotzt“, „gekackt“, „gepinkelt“ und „sich gerubbelt“, die daran beteiligten Körperteile werden unverschlüsselt in einer Art Sozio-Slang benannt. Szenen der Kopulation (Isoras Tante vergnügt sich mit einem Unbekannten im Gebüsch) und ein „Organmus“ (sic) vom Hörensagen tun ein Übriges, um selbst in einer liberalen Leserschaft Aufsehen zu erregen. Aus all dem sticht die ungestüme Zelebration des Analen hervor, eine Regression, deren psychoanalytische Deutungsoption sich ein bisschen zu schnell und plakativ aufdrängt.

Einerseits triggert die Quantität skatologischer Lexeme ob ihres repetitiven und hypertrophen Charakters ein ausgeprägtes Gefühl der Ödnis und Langeweile. Andererseits wird der Text nicht uninteressant, weil sich das Somatische in die Sprache hinein fortsetzt und sich somit das mimetische Potenzial der Signifikanten aktiviert. Onomatopoesien – „Isora kotzte wie eine Katze. Uckuckuck“ – und Wiederholungsstrukturen – in erster Linie Parallelismen – initiieren eine Verselbstständigung des Sprachlichen, die eine Vielzahl von Vergleichen ergänzen. Indem Abreu mit ihnen auf die Tierwelt rekurriert, gehen Distanzierung und Degradierung damit einher – dann etwa, wenn „Touristen […] neben die Kloschüssel schissen oder in den Papierkorb, wie die Köter, wie dreckige Köter“ oder „Jungs“ ekelhaft waren, „so eklig wie die weißen Würmer, die aus den Mülltonnen quollen und bei den Hunden aus dem Po“. Im spanischen Titel manifestiert sich diese Animalisierung ganz unmittelbar.

Mit ihrer homodiegetischen Coming-of-Age-Narration gibt Andrea Abreu ein Höchstmaß an Intimität der Öffentlichkeit preis, liefert dies aber paradoxerweise häufig einer Entemotionalisierung aus. Sie platziert die Themen so im Abseits der Affektwelt, dass sie dissoziiert von der Erzählerin erscheinen und daher eine intrapsychische Trauma-Bewältigung erahnen lassen.

Nichtsdestoweniger evoziert die Autorin, in erster Linie auf den ersten und den letzten Seiten des Romans, eine packende Atmosphäre des affektiv Dichten und Authentischen, was die Abspaltung an anderer Stelle potenziert. Es gelingt Abreu unter anderem, die Gefühlsintensität der erzählenden Protagonistin zu spiegeln, als in ihr eine diffuse Angst vor den Sommermonaten dräut. Der Alltag ist in weite Ferne entschwunden, aber kein „Dazwischen“ an seinen Platz gerückt, kein produktiver Wartebereich zwischen Vergangenheit und Zukunft, wie er sich z. B. in Der große Sommer (2022) von Ewald Arenz ergibt. Vielmehr greift eine wabernde, amorphe Desillusion um sich, „diese unendliche Erschöpfung“, „die Traurigkeit der tief hängenden Wolken über unseren Köpfen“.

Andrea Abreu läuft zweifelsohne dann zu ihrer literarischen Höchstform auf, wenn sie „nah dran“ ist an ihren Figuren, sich reifizierende Text-Anteile partiell verabschiedet haben, so wie in den folgenden proleptischen Zeilen:

Wenn die Telenovela vorbei war und wir uns die Stirn an den Wolken stießen, wurde Isora ganz seltsam traurig, als wäre sie weit fort, ihre Traurigkeit war wie ein Hämmern, wie ein Specht, der Holz durchlöcherte, pickpickpickpick, und sie sagte immer wieder, ich will mir das Leben nehmen, ich will sterben. Das sagte sie genau so, mit diesen Worten, als wäre sie fünfzig und nicht zehn.

Zwar beweisen die bekannten Stilmittel auch hier Präsenz und erfüllen ihren Zweck der Distanzierung. Im Fokus steht jedoch Isoras suizidale Traurigkeit, klassifiziert als Leiden eines Mädchens, das ihrem Alter voraus ist.

So forsch, so furchtlos ist vielversprechend, aber nicht überwältigend. Wie Leser*innen auf Abreus Roman in seiner Gesamtheit reagieren, könnte altersabhängig sein. Anbieten würde er sich sicherlich dafür, im Deutschunterricht der Oberstufe oder während eines Studiums Neuerer Literaturen in einer Einheit mit anderen Coming-of-Age-Romanen rezipiert und analysiert zu werden. Fragt sich nur, ob das irgendeine Lehrperson möchte.

Titelbild

Andrea Abreu: So forsch, so furchtlos.
Aus dem Spanischen von Christiane Quandt.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022.
192 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783462001754

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