Formstrenge Stille

Jürgen Nendzas „Auffliegendes Gras“ ist ein eindrucksvolles Bekenntnis zur Zukunft des deutschsprachigen Naturgedichts

Von Marcus NeuertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcus Neuert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gerade einmal vier Jahre ist es her, dass der schottische Dichter John Burnside mit seiner subjektiven und gleichwohl grandiosen Auswahl Natur! 100 Gedichte lyrische Stimmen von der Antike bis in die aktuelle Gegenwart aus allen Teilen der Welt zusammentrug und damit ein weithin vernehmbares Signal für die Brisanz der Naturdichtung auch und gerade in unserer Zeit setzte. Freilich war das Buch nur eine Art Leuchtturmprojekt für dieses im Laufe der letzten Jahre wiederentdeckte Subgenre der Lyrik – etliche weitere Einzelpublikationen und Anthologien sind in den letzten Jahren erschienen, die die ganze Bandbreite der Wechselbeziehungen von Mensch und Umwelt im weitesten Sinne thematisierten.

Eine wichtige literarische Gestalt für das deutschsprachige Naturgedicht hat Burns dabei allerdings unterschlagen: den 1957 in Essen geborenen und heute in Aachen lebenden Autor Jürgen Nendza, der auch mit Hörspielen, Radio-Features und Prosa bekannt geworden ist. Die Natur als Schwerpunktzuschreibung für sein lyrisches Werk mag vielleicht etwas kategorisch klingen, doch erscheint sie als häufiger Dreh- und Angelpunkt seiner in viele menschliche Lebensbereiche eintauchenden Texte – so auch in seinem neuesten Band Auffliegendes Gras, welches im vergangenen Frühjahr beim poetenladen in Leipzig herauskam.

Die fünf Kapitel des schmalen Bändchens fallen schon beim ersten Durchblättern durch ihre Formstrenge auf: der erste Teil, „Abraum, versammelt titellose Gedichte, die jeweils mit der Konjunktion „und“ beginnen und in kurze, dreizeilige Strophen gegossen sind, die optisch an eine Aneinanderreihung von Haiku erinnern; thematisiert wird der rheinische Braunkohlentagebau und seine tiefgreifenden landschaftsverändernden Aspekte. Im zweiten Kapitel, Arboretum, geht es vordergründig schlicht um Baumbeschreibungen – konsequent in Gedichten mit zweiversiger Strophenstruktur. Der dritte kleine Abschnitt namens Was zusammenfällt beschäftigt sich mit poetisierten Natur- und Menschenbeobachtungen, die Gleichzeitigkeit der Abläufe deutet sich durch drei Punkte vor und nach jedem der meist nur wenige Zeilen umfassenden, wie Prosa im Flattersatz wirkenden Texte an. Der vierte Teil heißt Vor dem Nachtquartier und besteht aus einem Langgedicht, wiederum in dreizeilige Strophen mit regelmäßigen Einrückungen gefasst. Der Text besteht eigentlich aus einem einzigen Satz, lediglich durch Kommata und Doppelpunkte stukturiert und hat die Konstellationen des Kranichfluges und deren reflexive Wirkung auf ein sie beobachtendes Menschenpaar in der Natur zum Inhalt. Im Schlusskapitel geht es um „Kretisches Gelände – so auch der Titel, unter zahlreichen Anspielungen auf kretisch- und griechisch-mythologische Bezüge wiederum in konsequent zweiversigen Strophen gestaltet.

Bereits beim ersten Lesen wird klar: diese Gedichte sind sehr bewusst gebaut – es handelt sich um eine poetisierte Ingenieurskunst im positivsten Sinne. Für ein emotional überbordendes Moment ist in ihnen kein Platz, Natur und ihre Bearbeitungsstadien bzw. -zustände werden nicht als Spiegel menschlicher Befindlichkeiten missbraucht, sondern stehen für sich selbst. Und dennoch erscheinen Jürgen Nendzas Zeilen weder blutleer noch überkonstruiert, im Gegenteil: der Dichter versteht es, ein wohlgezügeltes Pathos durchscheinen zu lassen, das jedoch an keiner Stelle unkontrolliert die Oberhand zu gewinnen droht.

In den Abraum-Versen fallen Versatzstücke aus der Fachsprache des Tagebaus auf wie „Rüttelverdichtung“, „Setzungsfließen“ und „Trümmerbirne“, die sich in ihrem Technikbezug dem ingeniös verbundenen Zeilenspiel wie maßgeschneidert anverwandeln und gleichzeitig auf kunstvolle Weise rhythmisiert und der auktorialen Sprachlichkeit gegenübergestellt werden wie etwa in dieser Szene eines Hausabbruches für eine zu erschließende Kohleformation:

UND KEINE FESTIGKEIT
            der Oberfläche: Setzungsfließen
hinter der Stirn, das Nachzittern

Andonnern der Greifer
            und nichts Greifbares,
das man für wahr halten könnte:

Wüstung aus Elternhaus,
            Hausgeburt, Lesefund:
Duschkopf, Sprenkler

zischen in die Bruchkante
            Rede: Gebundene
Schwebstoffe, Lehm,

schaufelnde Schaufeln.
            Immer bleibt etwas
stehen in der Luft

[…]

Der Sprödigkeit dieser Verse über gewaltvolle Landschaftsveränderung kontrastiert die Opulenz der Baumgedichte aus Arboretum. Als ob uns Jürgen Nendza das synästhetische Paradoxon onomatopoetischer Hologramme hätte vermitteln wollen, so lautlich vollmundig kommen seine Charakterisierungen daher, etwa in dem Gedicht Rotbuche:

Hingehaucht, so wimpernfein gesäumt
ist das Oval ins Grün gespannt, gebuchtet

und ins Nervennetz gewellt: Der Schattenbaum
wird aufgeblättert, der Säulenbaum, gradwüchsig,

unbeastet, rank und auflauschend in seinem ersten
Austrieb. Die hohe Stunde ist eine schöne Buche,

die lautlos wächst zum Ruheraum ins kathedrale
Bild […]

In der kleinen Sammlung Was zusammenfällt offenbart sich mitunter eine surrealere Herangehensweise Nendzas an seine Sujets. Hier fällt die Kontextualisierung von Natur und lyrischem Ich besonders gelungen in eins mit dem poetischen Anspruch, ohne gegebenenfalls eingestreute Schlüsselworte technischer Provenienz gänzlich zu unterschlagen:

… was ist es, was mich beschäftigt:
die Maserung deiner Lippen in der Rinde,
das Delfinauge im matten Schwarz
der Olive, also ein Restlichtverwerter, japsend
vielleicht wie ein Säuglingsmund oder dieser
Hintergrund, unscharf und ungewiss …

Wie sehr das Sein in und das Teilhaben an der Natur auch noch uns zivilisatorisch über-überformten Subjekten zu mental und physisch kraftspendenden Erlebnissen gereichen kann zeigt Nendza mit seinem Gedicht Vor dem Nachtquartier. Der Blick an einen vogeldurchflogenen Abendhimmel nimmt die Betrachtenden auf ganz unverhoffte Weise gefangen: 

[…] aufsteigend zu einer Lawine
            aus Schwärze, die ein wehendes Seepferd
                        entrollte in einer Wolke,

in der nichts wirklich angrenzte und blieb
            und jede Erwartung verflog:  Wir
                       saßen beisammen, sahen auf

und deckten uns zu mit Sätzen,
            unter denen unsere Füße hervorschauten,
                       saßen in einem Energiefeld

außerhalb des Intendierten

[…]

es gab nichts zu beweisen
            nur unsere Anwesenheit
                       verbunden zu einem Trost

im großen Trostlosen […]

Das Heraustreten der lyrischen Perspektive aus dem unmittelbaren heimatlichen Landschaftsumkreis erfolgt erst ganz am Schluss in den Gedichten des kleinen Zyklus Kretisches Gelände und wirkt ein wenig, als bedürfe es einer wie auch immer gearteten Verallgemeinerung des bisher schon zum Ausdruck Gebrachten. Das tut es freilich nicht, und so scheinen diese letzten Texte aufs erste Anlesen ein wenig aus dem bisherigen poetischen Guss herauszufallen. Doch der spontane Eindruck täuscht, denn Nendza schafft wieder einmal die Integration über den Faktor der Form: strenge zweizeiligen Strophenstrukturen, deren letzter Vers im ersten des jeweils nächsten Gedichts wieder aufgenommen wird und ganz zum Schluss  wieder in die Anfangszeile des ersten Textes mündet. Auch wird u.a. das Kranichmotiv nochmals variiert und mit mythischer Bedeutung aufgeladen, in „vibrierende[n] Schallräume[n], ausgehärtet mit Motorengeräusch“ scheint auch der Technikbezug nochmals auf und das spielerisch-surreale Moment begegnet uns wieder „in der Gleichzeitigkeit eines Traums, bevor alles zur Klarheit verblasst“.

Die Bandbreite von Jürgen Nendzas Ausdrucksmöglichkeiten ist enorm, ohne dass ihm dabei der stilistische Zusammenhalt verloren geht. Es ist fast ein wenig, als hätte der Autor so etwas wie ein lyrisches Konzeptalbum herausbringen wollen, einen qualitativen Orientierungspunkt für das deutschsprachige Naturgedicht des frühen 21. Jahrhunderts. Wenn dies sein Anspruch gewesen sein sollte, so kann man das Unterfangen getrost als sehr gelungen bezeichnen. Wenn nicht, so spräche es für die Bescheidenheit einer der ganz großen poetischen Stimmen in diesem Land.

Titelbild

Jürgen Nendza: Auffliegendes Gras. Gedichte.
Poetenladen, Leipzig 2022.
68 Seiten, 18,80 EUR.
ISBN-13: 9783948305130

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