Gegen die linken Eiferer

Bölls Stockholmer Rede (1973)

Von Marcel Reich-RanickiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcel Reich-Ranicki

Mit der gerade noch zulässigen Verspätung von fast einem halben Jahr hat Heinrich Böll in Stockholm seine Nobelpreisrede gehalten. Es ist ein „Versuch über die Vernunft der Poesie“, der sich selber als ein poetisches und zugleich, den clownesken Zügen zum Trotz, als ein sehr vernünftiges Prosastück erweist.

Nur vernünftig? Ich weiß, diese Vokabel steht im Deutschen nicht hoch im Kurs: Sie klingt brav, bieder und hausbacken, ordentlich und glanzlos. Denn Vernunft versteht sich in Deutschland von selbst – und ist wahrscheinlich eben deshalb so selten. Daher gehört es zu den Aufgaben der Schriftsteller, immer wieder an die Vernunft zu appellieren.

Böll beschäftigt sich mit der neuen Kunstfeindschaft und sein Ton ist, zumal gegen Ende, alarmierend. Entrüstet protestiert er gegen die „scheinbar antiimperialistischen Versuche, die Poesie, die Sinnlichkeit der Sprache, ihre Verkörperung und die Vorstellungskraft … zu denunzieren“, gegen jene also, die sich unentwegt bemühen, „die Poesie auf den Abfallhaufen zu verweisen und alle Formen und Ausdrucksarten der Kunst dazu“. Er wendet sich gegen „die falsche Alternative“, die auf der einen Seite die Information und die Agitation sieht und auf der anderen die Poesie und die Kunst. „Man kann nicht die Kraft der Mitteilung von der Kraft des Ausdrucks, den diese Mitteilung findet, trennen“ – das ist, zugegeben, eine sehr triviale Mahnung, die mir jedoch keineswegs überflüssig scheint.

„Viel Pfäffisches“, meint Böll, sei in den „neuen Katechismen“, „wo von einzig richtigen und wahrhaft falschen Ausdrucksmöglichkeiten gesprochen wird“. Er halte es für „beinahe selbstmörderisch, wenn wir immer noch und immer wieder die Teilung in engagierte Literatur und die andere überhaupt diskutieren“. Denn zum Widerstand, den die Literatur leisten könne, gehörten auch „die Sinnlichkeit, die Vorstellungskraft und die Schönheit“.

Vor „der Zerstörung der Poesie“ warnt Böll und „vor der Bilderstürmerei eines, wie mir scheint, blinden Eiferertums, das nicht einmal das Badewasser einlaufen läßt, bevor es das Kind ausschüttet“. Aber nicht darum geht es ihm, daß manche, „um einen asketischen Weg der Veränderung zu wählen, auf Kunst und Literatur verzichten“, sondern darum, daß sie allen die Kunst und die Literatur wegnehmen möchten.

Hiermit trifft Böll ein charakteristisches und nicht ungefährliches Phänomen der gegenwärtigen Kultursituation. Reden wir offen und machen wir uns nichts vor: Die Kunstfeindschaft, die sich hierzulande und in diesen Jahren rasch und auf höchst bedenkliche Weise ausgebreitet hat, kommt leider von links oder, richtiger gesagt, von solchen, die sich, meine ich, zu Unrecht als „Linke“ bezeichnen.

Wichtigtuer und Nichtskönner, die sich natürlich fortwährend auf Marx und Lenin berufen, und verwöhnte und gelangweilte Sprößlinge der Wohlstandsgesellschaft, die sich den Kommunismus und womöglich die Weltrevolution als pikante Freizeitbeschäftigung auserwählt haben, als Hobby mit nur geringem Risiko, wollen Kunst und Literatur lediglich dann gelten lassen, wenn sie sogleich und unmittelbar zur angestrebten Weltveränderung beitragen können.

Sie fühlen sich sehr fortschrittlich und überaus rebellisch und ahnen nicht einmal, daß die Hoffnungen, die sie mit einer für den politischen Kampf schnell umfunktionierten Literatur verbinden, weltfremd und übrigens antimarxistisch sind und von einer rührenden Naivität zeugen.

Die Folgen sind komisch und traurig zugleich: Während man sich jenseits der Elbe letztlich sehr deutlich von der proletarischen Kunst entfernt und diese nur noch als eine Entwicklungsphase verstehen will, versuchen manche in der Bundesrepublik die Literatur der Gegenwart auf das Agitpropniveau der späten zwanziger Jahre zurückzuschrauben: Was die Künstler in der DDR fast überwunden haben, das wird uns hier als zukunftsträchtige Proletkunst und als smarter Klassenkampf mit echt plebejischem Aroma offeriert.

Natürlich hat das schon gewisse Vorteile, denn besonders anzustrengen braucht man sich dabei nicht: Um solche Vokabeln wie „Kapitalismus“ oder „Ausbeutung“ ranken sich die Sätze wie von selbst. Und man muß ja nicht Hegel kennen, um bei jeder Gelegenheit das Zauberwort „Dialektik“ wie einen Joker im Kartenspiel zu gebrauchen. Man muß auch nicht unbedingt Marx oder Engels gelesen haben, um mit den Begriffen „bürgerlich“ und „proletarisch“ wie mit einer Peitsche und mit einer Fahne herumzufuchteln.

Aber siehe: Der Klassenkampf ernährt seinen Mann – jedenfalls im bundesrepublikanischen Kulturleben. Wer in diesem Land ein Schriftsteller sein will, doch nicht schreiben kann, der wendet sich geradezu automatisch der Gesellschaftskritik zu.

Wer nicht erzählen kann, der erzählt vom Alltag der Arbeiter – das macht sich bezahlt. Wer über die Liebe und die junge Generation so gut wie nichts zu sagen hat, der spricht (ich zitiere einen neuen Buchtitel) von „Klassenliebe“ – und wird prompt beachtet und sehr ernst genommen. Und wer vollkommen unfähig ist, der präpariert Collagen und Montagen und erklärt uns, nur in ihnen könne sich die Epoche spiegeln. Nicht Kunst und Literatur seien wichtig, hören wir immer wieder, sondern Dokument und Protokoll. Und so weiter.

Zu diesem Klima der militanten und düsteren Kunstfeindschaft hat einiges jene berühmte „Kursbuch“-Nummer beigetragen, in der vor bald fünf Jahren der angebliche Tod der Literatur in bester Laune verkündet wurde. Erfreulich allerdings und sehr charakteristisch, daß der Herausgeber des „Kursbuch“, Hans Magnus Enzensberger, seine und seiner Mitarbeiter Thesen und Empfehlungen am wenigsten zu befolgen bereit war: Den von ihm ausgestellten Totenschein munter ignorierend, schrieb er neue Gedichte und keineswegs politische und auch gar nicht üble.

Sollte es etwa so sein, daß derartige Tendenzen Schriftstellern mit Talent – wie eben Enzensberger – in der Regel nichts anhaben können? Das mag schon sein. Aber wer wird es wagen zu behaupten, daß dies auch für Anfänger gilt? Daß sie sich nicht verleiten lassen?

Vor allem: Es geht hierbei in erster Linie gar nicht einmal um Autoren, sondern um jene, die es besser wissen müßten als die fanatischen Bilderstürmer und die dennoch diese dumpf-bornierte Politisierung der Literatur, diese unter pseudorevolutionären Vorzeichen stattfindende, doch in Wirklichkeit reaktionäre Kunstfeindschaft mitmachen und sogar organisieren – nämlich die Leiter, Verwalter und Multiplikatoren des Kulturlebens.

Ich meine die beflissenen Dramaturgen und Verlagslektoren, die so oft Literatur mit Ideologie verwechseln, die Rundfunk- und Fernsehredakteure, die auf ihrer krampfhaften Suche nach dem Aktuellen meist nur beim Modischen landen, die hilflosen und verwirrten Feuilletonchefs, die sich einreden lassen, die Kunst sei endgültig passé, die Kritiker, die jedes Buch und jedes Stück hochloben, wenn nur die Worte „Arbeiter“ und „Klassenkampf“ häufig genug vorkommen.

Ich meine ferner die für Kultur zuständigen Abteilungsleiter und Referenten in den Ministerien und Stadtverwaltungen. Und ich meine auch und nicht zuletzt die von ihren Studenten eingeschüchterten Professoren der Germanistik, die statt Hölderlin und Novalis nur noch die (leider meist so mäßigen) Poeten von 1848 interpretieren und die auf Kafka und Thomas Mann verzichten, um die frühe Periode im Werk von Willi Bredel (der ein wackerer Kommunist und ein sehr dürftiger Erzähler war) andächtig zu untersuchen.

Das alles hat dazu geführt, daß wir, die wir immer schon für das Engagement der Dichtung waren und die wir die Gesellschaftskritik in der Literatur für etwas Selbstverständliches hielten und halten, das Wort „Gesellschaftskritik“ nicht mehr verwenden können; und daß wir uns mit Widerwillen von jenen abwenden müssen, die meist Konjunkturritter sind und jedenfalls im Kulturleben dieses Landes zur Zeit den größten Lärm machen. Noch den größten Lärm machen.

An sie richtet sich Heinrich Bölls warnende Nobelpreisrede. Sehr möglich übrigens, daß sie sich als eine Art Abschluß dieser ganzen Phase erweisen wird. Denn zu mir ist – ich will das den Lesern nicht vorenthalten – ein Gerücht gedrungen: Die Zeit der Kunst und der Literatur, heißt es, sei wieder im Kommen. In der Tat gibt es dafür allerlei Anzeichen.

Hinweise der Redaktion:

Erstdruck und Vorlage für die erneute Veröffentlichung: Die Zeit, 11. Mai 1973. Nachdruck ohne den Untertitel in Marcel Reich-Ranicki: Mehr als ein Dichter. Über Heirich Böll. Verlag Kiepenheuer & Witsch 1986, S. 60-64, und in Marcel Reich-Ranicki: Mehr als ein Dichter. Über Heinrich Böll. Erweiterte Neuauflage. Hg. von Thomas Anz. Marburg: Verlag LiteraturWissenscnaft.de 2017. Die erneute Veröffentlichung erfolgt mit Genehmigung von Reich-Ranickis Erbin Carla Ranicki und seinem Nachlassverwalter.