Ist der Bauch das neue Dekolleté?

Von Dirk KaeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Kaesler und Stefanie von WietersheimRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie von Wietersheim

Rätsel des Lebens. Wie konnte das nur passieren? In der U-Bahn, im Büro und auch am heimischen Esstisch begegnet man seit ein paar Jahren einem Phänomen, das viele schockt, stört oder irritiert – das aber zum Mainstream geworden ist: die Parade des nackten Frauenbauchs. Vor allem junge Mädchen und Frauen tragen Crop Tops, Oberteile, die den Bauch schüchtern angedeutet oder komplett blank rauf bis zum Busen zeigen. Bauchfreie Looks über gestählten Sixpack-Muskeln, weichen Kissenbäuchen oder ausufernden Fleischrollen sind so selbstverständlich geworden wie Sneakers zu Herrenanzügen und Hoodies auf der Pressekonferenz von großen Unternehmen. Doch im Gegensatz zu Sneakers oder Kapuzenpullovern bedecken diese Kleider den menschlichen Körper nicht, sondern setzen seine Nacktheit bewusst in Szene. Eine Nacktheit, die historisch gesehen in den westlichen Gesellschaften relativ neu ist. Spätestens seit dem Rokoko galt dem Dekolleté, dem großzügig entblößten Busen, in der Gesellschaft ein vor allem abendlicher großer Modeauftritt. Dem entblößten Bauch: niemals! Royale Maitressen wie Madame de Pompadour, die intime Freundin Ludwigs XV. oder Wilhelmine Gräfin von Lichtenau, die Gefährtin des preußischen Königs Friedrich Wilhelm II., ließen sich programmatisch mit großzügigsten Dekolletés portraitieren. Die Darstellung ihrer Bäuche in Goldrahmen jedoch hätte man als pornografisch empfunden.

Das Zurschaustellen des Bauches in der Öffentlichkeit wird heute jedoch alles andere als pornografisch gesehen: Auf Instagram präsentieren sich Millionen Menschen (meist Frauen) mit Bauch-Selfies so selbstverständlich wie mit ihren Hunden, selbstgebackenen Schokoladen-Brownies und neuen Handtaschen. Brustwarzen jedoch stehen in diesem Social-Media-Kanal auf dem Index: Sie sind zu kaschieren, bevor man ein Bild hochlädt.

Auch der ökonomische Beweis der Bauchfrei-Mode ist eindeutig. Blickt man auf die Ständer der großen Modekonzerne, stellt man fest: Oberteile werden immer kürzer, die Hosen höher. Das längere Bauchfrei ist das normale Lang geworden. Denn nicht nur billige Ketten, sondern auch Edellabel wie Chanel bieten sie an. Grundschulmädchen bitten die Mutter, ihnen „so ein schönes Helene-Fischer-Top“ zu kaufen, das unter der Brust endet. Zudem wird das selbstbewusste Entblößen der Körpermitte als individuelles Statement einer Generation eingesetzt, die gegen Klimawandel und Rassismus auf die Straße geht und die splitterfasernackte Femen-Aktivistinnen bewundert. Das Argument, wer viel Haut zeigt, sei eine Schlampe, gilt nicht mehr. In der theoretisch idealen Welt möchten Frauen so viel Haut zeigen, wie sie wünschen – und niemand soll das Recht haben, sie anzugrabschen oder Schlimmeres. Body Positivity rules, egal ob die Menschen den von der Modeindustrie und Social Media vorgegebenen Idealen entsprechen oder eben nicht. Es ist ok, seinen Bauch zu zeigen oder sich komplett einzuschleiern. Auch das Thema Gender Fluidity zeigt sich bei der bauchfreien Mode in einem neuen Licht, denn Crop Tops sind in internationalen Dance-Communitys zum Standardlook geworden, und das zunehmend auch bei jungen Männern.

Klar, Mode ist Abgrenzung und Protest, Macht und Machtaneignung. Zeichen der Zugehörigkeit zu einem Soziotop. Die Anfänge der bauchfreien Mode im Westen lassen sich auf die 1940er Jahre zurückführen, als im sonnigen Kalifornien der Trend von gerafften Tops zu hoch geschnittenen Röcken oder Shorts aufkam: Sand, Sonne und Sport boten den Rahmen für ein neues Körperideal, das sich in der Mode zeigte. Ab den 1960ern wurde der nackte Bauch der Hippies gesellschaftspolitisches Statement, das sich bis heute im Bohemian Style wiederfindet. Im Disco-Chic der 1970er tauchte der unbedeckte Bauch auf wie auch in der Aerobic- und Flashdance-Mode der 1980er. Der Sport spielte wiederum in den 1980ern eine wichtige Rolle, als sich American Football Spieler in den Körperkämpfen ihre Stoffoberteile zerrissen und schließlich ganz abschnitten – und so wie die Bodybuilder, die ihre gestählten Bauchmuskeln zeigten. Vom coolen Mittelklasse-Mainstream aufgenommen wurde schließlich auch der nackte Männerbauch von der amerikanischen Marke Calvin Klein, der in den 1990ern in einer schwarz-weiß Jeanswerbung neben der jungen Kate Moss das Model Mark Wahlberg zeigte – in einem schwarzen Hemd, das kürzer war als das seiner Partnerin mit Schmollmund.

Folgen die Trägerinnen einfach einer Mode, so wie sie die Trendfarben senfgelb oder puderrosa probieren? Oder steht hinter jedem Bauch-Dekolleté ein politisches Statement? Die Diskussionen in vielen Familien mit Teenagern wird oft entlang dieser beiden Pole geführt: Erstaunen der Eltern und die Diskussionen über das vielleicht nicht bewusst durchdachte Aussenden von erotischen Reizen versus einer neuen politischen Ästhetik, die den Bauch enttabuisiert.

Warum der Bauch von Frauen zudem der Ort geworden zu sein scheint, auf dem das Verhältnis der Geschlechter derzeit ausgehandelt wird, ist modegeschichtlich interessant. Denn die Enthüllung oder Verdeckung des weiblichen Bauches könnte die früheren Debatten um das Dekolleté, also die Entblößung der weiblichen Brüste, abgelöst haben.

Georg Simmel und das Dekolleté

Georg Simmel, einer der großen Klassiker der Soziologie, hat in seinem Aufsatz „Soziologie der Geselligkeit“ aus dem Jahr 1911 festgehalten, dass Damen (damals) nur in großer Gesellschaft unbefangen tief dekolletiert erscheinen können, aber nicht im persönlichen Zusammensein. Ausgehend von seinen Beobachtungen der Berliner Gesellschaft schrieb er, dass das Spiel der Geselligkeit wie ein Kunstwerk von den Teilnehmenden gemeinsam betrieben wird. Dabei sei das Taktgefühl von besonderer Bedeutung, weil nur dies „die Selbstregulierung des Individuums in seinem persönlichen Verhältnis zu anderen leitet. […] Und vielleicht ist es die spezifischste Leistung des Taktes, den individuellen Impulsivitäten, Betonungen des Ich, geistigen und äußeren Ansprüchen die Grenze zu ziehen, die das Recht des anderen fordert.“

Das Spiel der Geselligkeit illustriert Simmel am Beispiel des Dekolletés: „Eine Dame würde in einem wirklich persönlichen, intim freundschaftlichen Beisammensein mit einem oder wenigen Männern nicht so dekolletiert erscheinen mögen, wie sie es ganz unbefangen in einer großen Gesellschaft tut. Sie fühlt sich in dieser eben nicht in dem Maße wie dort als Individuum engagiert und kann sich deshalb wie unter der unpersönlichen Freiheit der Maske preisgeben, da sie ja zwar nur sie selbst, aber doch nicht ganz sie selbst ist, sondern nur ein Element in einer formal zusammengehaltenen Vereinigung.“ Indem Simmel die Regeln des „Gesellschaftsspiels“ aufzudecken versucht, konzentriert er sich auf eine spezielle Spielform: die „Koketterie“.

Simmel führt aus, dass es in der Beziehung zwischen den Geschlechtern um Gewähren und Versagen gehe, wobei es das Wesen der weiblichen Koketterie sei, ein andeutendes Gewähren und ein andeutendes Versagen wechselnd gegeneinander zu spannen. Den Mann anzulocken, ohne es zu einer Entscheidung kommen zu lassen, ihn zurückzuweisen, ohne ihm alle Hoffnung zu nehmen. „Die Kokette steigert ihren Reiz auf das Höchste, indem sie dem Manne die Gewährung sozusagen ganz nahe rückt, ohne dass es ihr schließlich damit Ernst wäre; ihr Verhalten pendelt zwischen dem Ja und dem Nein, ohne auf einem Halt zu machen. Sie zeichnet damit gleichsam spielend die bloße und reine Form der erotischen Entscheidungen und kann deren polare Entgegengesetztheiten in einem ganz einheitlichen Benehmen zusammenbringen, da der entschiedene und entscheidende Inhalt, der sie auf einem von beiden festlegte, prinzipiell in die Koketterie nicht eintritt.“

Während also die Dame ihr neckisches und ironisches Spiel zwischen Gewähren und Versagen betreibt, muss der Mann zeigen, dass er sich in diesem schwebenden Tanz gut zu behaupten weiß: „So lange der Mann sich dem Reize der Koketterie versagt, oder so lange er umgekehrt ihr bloßes Opfer ist, das von ihren Schwingungen zwischen dem halben Ja und dem halben Nein willenlos mitgeschleift wird, – so lange hat die Koketterie noch nicht die der Geselligkeit eigentlich adäquate Gestalt. Es fehlt ihr jene freie Wechselwirkung und Äquivalenz der Elemente, die das Grundgesetz der Geselligkeit ist.“

Und das alles soll sich an dem Grad der Entblößung der weiblichen Brüste ablesen lassen?

Das reine Entblößen des Körpers ist die eine Sache. Der Umgang der anderen Menschen damit die viel kompliziertere. Augengrabschen am Dekolleté ist eigentlich verboten, doch für die meisten Frauen ist es Alltag. Das visuelle Bauchgrabschen hat mit dem Siegeszug der Crop Tops erst begonnen.

Wohin darf ein Mann blicken, wenn ihm heute eine Dame im Restaurant gegenübersitzt, die bei jedem Nachvornebeugen zeigt, dass sie heute einen schwarzen BH unter der ausgeschnittenen Bluse trägt? Auch wenn der Betrachter das schon wusste, weil die Träger immer herausrutschten. Wohin darf er seine Augen richten, wenn sie ein Dirndl trägt, bei dem man den Eindruck hat, dass ihr Busen geradezu rausspringen möchte? Wie soll er sich verhalten, wenn er im Café einer bauchfrei gekleideten Frau gegenübersitzt, die ihren Nabel mit Tattoos umkränzt hat und ihn mit Glitzerpiercings schmückt? Hinsehen und Komplimente machen? Ignorieren und die Klappe halten?

Dass man nicht starren darf, sollten eigentlich alle Männer wissen. Aber dass man das, was man sieht, nicht kommentieren darf, wusste sicher nicht nur Rainer Brüderle nicht. In seinem Machwerk Jetzt rede ich! aus dem Jahr 2014, das vom Linken-Fraktionschef in Berlin präsentiert wurde, rekapitulierte er selbst erneut jenen Vorfall im Januar 2012, bei dem er der damaligen Stern-Reporterin Laura Himmelreich mitteilte: „Sie können ein Dirndl auch ausfüllen“. Im Buch verteidigte er sich unbelehrbar: „Was ich gesagt habe, war nicht böse gemeint. Weder die Dame noch ihre umstehenden Kolleginnen und Kollegen empfanden es als anstößig. Es gab überhaupt keine negative Reaktion. Sonst hätte ich mich sofort entschuldigt.“ Seitdem wird zwar unablässig über den Alltags-Sexismus diskutiert, aber es erscheint so, als ob inzwischen mehr Unsicherheit herrscht als noch zu Brüderles Zeiten.

Muss ein Mann also so tun, als ob er blind sei? Als ob das weibliche Gegenüber eine unsichtbare Burka trägt? Wo beginnt die Anmache? Gibt es noch Raum für ein Kompliment? Gar für einen Flirt? Im September 2021 berichtete die linksliberale Libération, dass immer noch 90 Prozent der Französinnen erwarteten, dass die Initiative zu einem Rendezvous vom Mann ausgehen soll. Ist die „Verführung à la française“ also immer noch Bestandteil der französischen Kultur, auch in Zeiten von tinder & Co?

Jean-Claude Kaufmann und der nackte Busen

Sah sich der Soziologe Simmel auf den Berliner Geselligkeiten vor dem Ersten Weltkrieg um, um das Treiben zwischen den Geschlechtern zu verstehen, so ging der Soziologenkollege Jean-Claude Kaufmann an die Badestrände französischer Küsten. In seinem Erfolgsbuch von 1995 Corps de femmes, regards d’hommes: sociologie des seins nus (deutsche Übersetzung Frauenkörper-Männerblicke von 1996) erarbeitete Kaufmann eine „Soziologie des Oben-ohne“. In Anlehnung an die Vorarbeiten des deutsch-britisch-niederländischen Soziologen Norbert Elias versuchte Kaufmann die Mechanismen der „Zivilisierung“ der Menschen zu rekonstruieren.

Am Beispiel der Beziehung zwischen Frauen und Männern an den FKK-Liegewiesen Frankreichs zeichnet Kaufmann nach, was sich abspielt, wenn Frauen ihre Brüste entblößen und Männer in die Rollen von „Betrachtern“ und „Zensoren“ geraten. Wie, so die dahinterliegende Frage von Elias und Kaufmann, gelingt es, das menschliche Trieb- und Affektleben durch eine permanente Selbstkontrolle zu regulieren? Wodurch wird der Beobachter zum „Spanner“? Wo verlaufen die Scham- und Peinlichkeitsschwellen, wenn am Strand oder auf der Wiese die Hüllen fallen? Wo beginnt „Exhibitionismus“ und wo geht es einfach nur um die Vermeidung der „hässlichen, weißen Streifen“? Wie lange darf der Blick des Mannes an den schaukelnden Brüsten hängenbleiben?

Kaufmann nimmt solche Fragen nicht allzu schwer, will er doch – in leicht frivoler Attitüde – eher ein „Handbuch des Savoir vivre“, einen soziologischen Strandführer, präsentieren. Man mag sich amüsieren über dieses Büchlein, in dem geschildert wird, wer sich wie am Strand ausziehen und wo präsentieren „darf“. Und wer nicht, zum Beispiel, wenn die körperlichen Merkmale nicht den „herrschenden“ Normen entsprechen: „zu hässlich“, „zu alt“. Wo herrscht „die Diktatur des schönen Busens“, die durch die Bewertung von Volumen, Höhe, Farbe und Beweglichkeit ausgeübt wird?

Das Diktat des nackten Bauches

Wie am Strand geht es heute manchmal in den Innenräumen von Universitäten zu. So in jenem Sommersemester. Es war extrem heiß im Seminarraum im obersten Stockwerk einer hessischen Universität. Angesichts der mehr als 120 Teilnehmenden am Seminar „Soziologische Theorien“ mussten immer bis zu sechs Menschen bestimmt werden, gemeinsam ein Referat vorzubereiten und zu halten.

An jenem Tag waren es zufälligerweise sechs Kommilitoninnen. Alle sechs zeigten beim Vortragen des Referats im Stehen einen nackten Bauch über ihren Hosen. Die Hosen saßen auf den Hüftknochen, die Tops begannen weit oben. Und so war es gar nicht zu vermeiden, auf diese sechs Bäuche zu schauen. Es war dem Professor, seinen Mitarbeiterinnen und den übrigen Seminarteilnehmenden schlicht unmöglich, nicht die Verschiedenheit der Bauchnabel, die Festigkeit der Bäuche, die Existenz von Blinddarmnarben – vier von sechs – zu registrieren. Bei einer Frau zeichnete sich eine feine Spur dunkler Haare bis zum Nabel ab. Die Tutorinnen empörten sich nach der Sitzung untereinander ein wenig.

Wie also damit umgehen? Gesellschaftlich klare Regeln für das Tragen von bauchfreier Mode scheint es noch nicht zu geben – und das in Tagen des Jahres 2022, in denen im französischen Parlament eine neue Kleiderordnung erlassen wurde, die die männlichen Abgeordneten daran erinnert, eine Anzugjacke zu tragen. Dazu wurde die Krawatte empfohlen, verboten wurden kurze Hosen oder Bermudas. Die Leitung der Assemblée Nationale erinnerte die Politiker und Politikerinnen an die Feierlichkeit des Ortes, in dem „neutrale“, „angemessene“ und nicht „legere“ oder gar „nachlässige“ Kleidung zu tragen sei. Über bauchfreie Looks – im Land der Haute Couture auch von Chanel – wurde nichts gesagt. Die Soziologie der bauchfreien Mode muss erst noch geschrieben werden.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag gehört zur monatlich erscheinenden Kolumne „Rätsel des Lebens“ von Dirk Kaesler und Stefanie von Wietersheim. Eine Lesung des Beitrages ist bei Literatur Radio Hörbahn veröffentlicht.