Im Neoliberalismus wird es kalt für alternde weiße Männer

Frank Rudkoffsky liefert in seinem neuen Roman „Mittnachtstraße“ mehr als eine Milieustudie

Von Swen Schulte EickholtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Swen Schulte Eickholt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Malte will viel. Vor allem will er alles besser machen. Aber vielleicht ist das Präsens nicht angebracht, denn Frank Rudkoffskys Protagonist muss sich zunehmend eingestehen, an seinen eigenen Ansprüchen zu scheitern und seinem übellaunigen und gewaltbereiten Vater ähnlicher zu sein, als ihm lieb ist. Vom „durchsickernden Gift toxischer Männlichkeit“ berichte der Roman laut Klappentext und tatsächlich empfindet Malte sich ständig als „vergiftet“. Aber warum?

Als Vater zweier Kinder, Mann einer berufstätigen Frau und in einem kreativen Beruf tätig ist Malte geradezu ein Vorzeigeexemplar des Mittelstandes, der nun in eine Vorzeigekrise geraten ist, ein „privilegierter weißer Cishet Dude mit Peak Male Tears im Gesicht, der all diese Ausdrücke kennt und für wichtig hält und sich allein deshalb immer zu den Guten gezählt hat.“ Als Journalist gescheitert, von seinen Kindern überfordert und mit in diesem Setting fast schon notwendiger Ehekrise laboriert Malte am Rande einer endogenen Depression ‒ zumindest laut der Laien-Diagnose seiner Frau, die der Mehrfachbelastung wesentlich besser standhält. Sie hat aber auch keinen Vater, mit dem sie gebrochen hat und der plötzlich wieder vor der Tür steht und nicht weiß, wie es mit ihm weitergehen soll, nun, wo er seine Demenzerkrankung kaum noch vor sich selbst verstecken kann. Ein Vater, der seinen Sohn mit tatkräftiger Unterstützung seines Schrebergarten-Kumpels Heinz die ganze Kindheit über schikaniert und gedemütigt hat.

Die Stärke des Romans ist es, Maltes Überforderung gnadenlos zu sezieren. Mit der Corona-Pandemie als Brandbeschleuniger erleben wir aus seiner Perspektive eine Reihe im Grunde eher harmloser Zwischenfälle, denen Malte nicht mehr gewachsen ist. Während er die Platzhirsch-Identität des Vaters ‒ die dieser allerdings auch nur in seinem Schrebergarten ausleben konnte ‒ vehement ablehnt, gelingt es ihm nicht, eine glaubhafte Perspektive auf sein Leben zu entwickeln. Von der ständigen Panik getrieben, etwas falsch zu machen, gerät ihm selbst die normalste zwischenmenschliche Interaktion zur Grimasse. So lächelt er unter seiner vorbildlich getragenen FFP2-Maske überdeutlich eine Verkäuferin an, weil er gelesen hat, dass Mimik verstärkt werden muss, um noch erkennbar zu bleiben. Während er vor seiner kleinen Tochter Nora immer wieder in die Rolle des Pausenclowns fällt, weil er jedes Lächeln als Beweis wertet, ein guter Vater zu sein, kann sein pubertierender Sohn mit wenigen Worten das innere Gleichgewicht zum Explodieren bringen und einen Wutausbruch des Vaters produzieren, der dann Maltes Selbsthass nährt. Es ist bezeichnend und gut konstruiert, dass Malte sich immer wieder mit Luke Skywalker vergleicht, dem Idol seiner Kindheit, der in den neuen Star Wars Filmen eine Figur wird, die ‒ wie so viele andere Hollywood-Helden der Gegenwart ‒ zwischen Lächerlichkeit und erratischer Größe schwankt. Warum kann die Welt nicht so übersichtlich sein wie in den alten Filmen? Ein böser Vater, die Kräfte des Bösen überhaupt, und die gute Seite, zu der ‚Mann’ sich natürlich zählen kann. Und wenn der eigene Vater nicht gerettet wird – geschenkt. So ein sauberer Bruch fügt sich ohnehin viel besser in den Familienalltag als das Auftauchen eines Opas, den die Kinder gegen den erklärten Willen des Vaters zu mögen scheinen. Dass Malte von seinem sich als Öko-Aktivist radikalisierenden Sohn als Heuchler beschimpft wird, ist nur konsequent, hat er doch einen Hybrid-SUV angeschafft, jenen Fahrzeug gewordenen Beweis, dass man es mit der Änderung der Lebensweise nie wirklich ernst gemeint hat. Mit der sexuellen Potenz fällt schließlich der letzte Rest überkommener Männlichkeit, so dass er sich im Ehebett auch noch als Versager fühlt und mit der quengelnden Tochter vor der Toilettentür nicht einmal mehr masturbieren kann.

Im weiteren Verlauf seines Romans konzentriert Rudkoffsky sich dann allerdings auf eine milde Version eines Schrebergarten-Krimis und gibt seinem Protagonisten damit die Werkzeuge in die Hand, der Mühle neoliberaler Überforderung zu entkommen. Zuerst wörtlich, denn der frustrierte Journalist Malte flüchtet vor seiner Verantwortung auf das alte Stückle seines Vaters, um dort im Geheimen Zigaretten zu rauchen ‒ ein Laster, das vom Air des Heldenhaften gründlich gereinigt wurde und nur noch Ausweis von Maltes Schwäche und seines Versagens selbst in Sachen Selbsthygiene wird. Ein verständnisvoller Sohn sein, der dem demenzkranken Vater die Verletzungen der Kindheit verzeiht, wie in den biographischen Texten, die Malte in der Buchhandlung findet. Ein einfühlsamer, liebender, lustiger und dennoch mit milder Strenge erziehender Vater, wie in den Ratgebern gefordert? Seiner Frau ein Partner im Haushalt, ein Unterhalter an den Abenden und ein kreativer Liebhaber im Bett, wie allgemein erwartet? Dazu noch ein innovativer, flexibler und kreativer Journalist, am Puls der Zeit, moralisch immer auf der Höhe, in Vokabular, Tweets und Posts diesem Anspruch stets gerecht werdend? Malte entzieht sich all diesen Verantwortlichkeiten – die er aber an keiner Stelle hinterfragt, sie nur in ihrem unzumutbaren Druck wahrnimmt.

Und hier entzieht sich Rudkoffsky selbst der Verantwortung; seinem Protagonisten und seinen Leser*innen gegenüber. Denn durch die Schrebergartenaffäre, die natürlich mit toxischen alten Männern, Strukturwandel und Rassismus zu tun hat, kann Malte vorderhand seiner Verantwortung gerecht werden und etwas Handlungsmacht zurückgewinnen. Rudkoffsky bleibt dabei so differenziert, auch dem Antagonisten Heinz Profil zu verleihen. Der Strippenzieher im Schrebergartenkomplott der alten Männer konnte seine Homosexualität lange nicht offen ausleben und lebte in ständiger Angst vor sozialer Ächtung.

Malte hat sich nun dem Vermächtnis seines Vaters gestellt, aber am Ende ist doch ein wenig zu heile Welt, bedenkt man, auf wie vielen Fronten der alternde weiße Mann gescheitert ist, der ‒ ganz woke ‒ alles richtig machen wollte und außerdem die Oberflächen-Werte des Neoliberalismus inklusiver Kritik an eben diesen Werten im Stil des alten Salonbolschewismus verinnerlicht hat. Der Roman endet insofern geschickt mit einem mehrseitigen Blick in Maltes Gedanken, in denen er sich sein besseres neues Leben zusammenplant, in dem er alles nicht mehr so eng sehen möchte, ohne seine Werte zu verraten. Wie gerade dieses Leben des beruflich gescheiterten älteren weißen Mannes im Neoliberalismus aussehen soll, dazu gibt der Roman nicht einmal Indizien. Weiter wie bisher, nur nicht mehr so verbissen? Das erscheint etwas wenig und der Hybrid-SUV steht immer noch vor der Tür und heuchelt Umweltbewusstsein.

Insgesamt liefert Rudkoffsy mehr (und Interessanteres) als eine bloße Milieustudie aus Stuttgarter Schrebergärten; die er ‒ selbst journalistisch erfahren ‒ allerdings gekonnt und detailgenau abliefert. Dadurch bietet er einen lesenswerten Mix gegenwärtiger Überforderungsprofile, denen er sich aber nicht differenziert stellen kann. Die Ehekrise bleibt sehr holzschnittartig, die Depression eine verschwommene Erklärungsfolie und das problematische Verhältnis zum eigenen Sohn auch recht klischeehaft. Am überzeugendsten gerät da noch die Auseinandersetzung mit der moralischen Überforderung durch die woke-Kultur und den Klimawandel. So ist Rudkoffsky ein lesenswerter und auch sehr gut lesbarer Roman gelungen, dem etwas mehr Konzentration auf seine Nebenthemen gut getan hätte, da sie ins Zentrum eines Konfliktes stoßen, dem eine Gesellschaft ausgesetzt ist, in der die Depression alles andere als ein Nebenthema ist, sondern scheinbar der Zustand, auf den der einst so stabile Mittelstand ganz allgemein zusteuert ‒ die Ursachen dafür dürften sehr häufig keine körperlichen sein, sondern in genau den Problemen grundiert, die der Roman so zielsicher anvisiert und dann so hilflos wieder fallen lässt. Vielleicht aber ist das auch das passendste Ende für eine Zeit, in der das Irgendwie-Weiter-Wursteln zur nationalen und neoliberalen Ideologie geworden ist. „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“, um einen toten weißen Mann zu zitieren, der seinerseits über das gute Leben nachgedacht hat.

Titelbild

Frank Rudkoffsky: Mittnachtstraße.
Verlag Voland & Quist, Berlin 2022.
270 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783863913366

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