Revolution und Karneval

In seinem Roman „Radio Nacht“ appelliert Juri Andruchowytsch an die Aberrationen unserer furiosen Vorstellungskraft

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Reise in die Karpaten birgt gerne Überraschungen, erst recht, wenn der Reiseführer Juri Andruchowytsch heißt. In seinem neuen Roman Radio Nacht verfügt die aristotelische Einheit von Zeit, Ort und Handlung über gerade soviel Macht wie der vorletzte Diktator mit Namen Schmosch über den Zufall seiner Ermordung. Wobei es in seinem Fall unklar ist, ob er von einem Ei erschlagen wurde oder einer Herzinsuffizienz wegen „chronischer Angst und systematischem Missbrauch von Macht und Viagra“ erlag. Der Vorgang im Schweizer Hotel „Paradies“ bleibt auf jeden Fall mirakulös. Klar erscheint einzig, dass es sich beim Eierwerfer um einen Pianisten namens Josip Rotsky handelte. Doch das liegt Jahre zurück. Inzwischen sitzt Rotsky einsam irgendwo auf einem nordatlantischen Eiland über dem Nullmeridian und führt seine Zuhörerschaft durch das Nachtprogramm. Er plaudert aus seinem Leben als Musiker und Revolteur und spielt wunderbar ausgewählte Songs dazu, die den Melancholiker verraten. Sie sind im Internet per QR-Code, der im Buch abgedruckt ist, abrufbar.

Wer aber ist dieser Tyrannenmörder und Radio DJ mit dem sonderbaren Namen, einem „prätentiösen Hybrid aus Brodski und Roth“, in dem auch Trotzky nachklingt. Das fragt sich ein namenloser Biograf, der sich auf die verschlungene Fährte des sechzigjährigen Outcasts macht und dafür ins Innere der Karpaten vorstößt. Dessen Nachforschungen legt Juri Andruchowytsch seinem Roman zugrunde. In wilder Ordnung erfahren wir dabei Episoden aus Rotskys Leben, wie sie der Biograf festhält. Durchbrochen wird diese Erzählung regelmäßig durch Rotskys nächtliche Plaudereien, wobei seine Zeitangaben eine Gleichzeitigkeit von Sendung und Lesezeit suggerieren. 

Auch wenn in diesem turbulenten Erzähluniversum nur schwer eine schlüssige Chronologie der Ereignisse herzustellen ist, lassen sich aus dem mäandernden Erzählstrom dennoch ein paar Lebensstationen herausfiltern. Rotsky, ehemaliger Pornodarsteller und virtuoser Tastenspieler, ist der Kopf einer kultischen Band mit dem Namen „Dr. Tahabat“, der mutmaßlich vom Dichter Mykola Khylovy herrührt. Mit seinem Talent auf dem Klavier avanciert er unter dem Tarnnamen „Aggressor“ zum Freiheitssymbol auf den Barrikaden der Revolution auf dem Poschtowa Platz, bevor er vor den heranrückenden Russen untertauchen muss. Unwillentlich ermordet er, wie erwähnt, den vorletzten Diktator Europas, wofür er inhaftiert wird und im Gefängnis der Schweizer Stadt Z. nicht nur Freundschaft mit dem Gefängnisdirektor schließt, sondern auch den Finanzbetrüger Jeffrey Subbotnik kennenlernt, der ihm den vielstelligen Code zu seinem fantastischen Vermögen anvertraut für den Fall, dass er eine schwierige Operation nicht überstehe. Auf diesen sagenhaften Geldschatz haben es indes auch Geheimdienste und Kriminelle abgesehen, weswegen sich Rotsky in die Wälder schlägt, genauer in eine karpatische Kleinstadt namens Nashorn, und hier Unterstützung und Schutz durch eine feenhafte Frau erhält, die er Anime nennt und intensiv liebt wie zu Pornozeiten. Schließlich gerät er doch in die Fänge seiner Häscher, die ihm einzeln die Finger brechen, so dass er in dieser (vielleicht letzten) Radionacht bloß noch gegen das Vergessen zu plaudern und Musik aufzulegen vermag.

So etwa könnte diese Geschichte voll Action, Trash, Klamauk und Irrsinn ablaufen. Anarchisch frech erzählt Andruchowytsch, indem er Legende und Wirklichkeit, Mythos und Vernunft vierhändig auf der Klaviatur des Ominösen spielen lässt. Radio Nacht gründet ebenso im Privaten wie im Politischen, weil in düsteren Zeiten das eine vom anderen kaum mehr zu trennen ist. Folgerichtig lässt der Autor auch offen, von welcher Stadt, welchem Land, welcher Revolution er erzählt. Blitzhafte Anspielungen bleiben widersprüchlich und wehren sich dagegen, schlüssig enträtselt zu werden. Durch den Filter des trashigen Geschehens werden schemenhaft dennoch der Kiewer Maidan, die aktuelle Kriegslage oder der schnauzbärtige Lukaschenko erkennbar.

Wem wäre in solch verworrener Lage zu trauen? „Wenn Gott unser Vater ist, dann ist der Teufel unser Busenfreund“, setzt das Buch mit einer starken Sentenz ein, die im Folgenden mehrfach variiert wird. Später erklärt Rotsky in seiner Nachtsendung: „Ich versuche, laut nachzudenken über die Wahl zwischen dem Vater und dem Freund“ – also zwischen dem toten Gott und dem unzuverlässigen Teufel. Genau diese Auswahl lassen ihm sein Leben und die karpatische Realität. „Wir appellieren an die Aberrationen der Vorstellung, unter anderem an sie, die Illusionen heißen“, bemerkt der Erzähler einmal und beschreibt damit die Methodologie dieses ebenso karnevalistischen wie abgründig finsteren Romans. Alle Grenzen werden darin unscharf. Andruchowytsch erzählt mit rotziger Sprache und voller Sarkasmus und spielt dabei nur allzu gerne mit literarischen Anleihen und Zitaten. Der Rabe Edgar, der Rotsky zufliegt und begleitet, erinnert unweigerlich an Poes „Nevermore“; der schweflige Freund Meph alias Mephodios hatte womöglich schon bei Bulgakow seinen Auftritt; der karnevaleske Michail Bachtin steht bei all den Turbulenzen im Hintergrund Pate, und ein flüchtiger Abstecher Rotskys aus der Gegenwart ins Jahr 1499 quirlt metaphysisch wie durch eine Spirale hinab zum Höllenmund von Dantes Inferno.

Hinter all dieser Trickserei, diesem Erzählzirkus bleibt jedoch immer ein wahrer Erfahrungskern spürbar. Was sich in den letzten hundert Jahren im mittelosteuropäischen Raum abspielte und in den letzten zehn Jahren zugespitzt hat, hallt hier düster nach. Die Toten auf den Barrikaden des Maidan, der gescheiterte Aufstand in Belarus, schließlich der gegenwärtige Krieg spiegeln sich verwischt in den dunklen Chiffren der leeren Häuser, bedrohlichen Landschaften, finsteren Gestalten und hektischen Fluchten. Ein Spaziergang ist das nicht, dennoch trifft zu, was der Roman eingangs aus Robert Walsers Der Spaziergang zitiert: „Ich war nicht mehr ich selber, war ein anderer und doch gerade darum erst recht ich selbst.“ Wer will da Logik und reine Vernunft einfordern, wenn bloß noch der Teufel als Freund und Retter in Frage kommt?

Radio Nacht, 2021 in der Ukraine erschienen, erhält vor dem Hintergrund des gegenwärtigen Krieges etwas gespenstisch Prophetisches. Das Problem des Landes liege, lässt sich der Biograf auf seiner Reise vernehmen, „in der Schmoschheit der meisten Bewohner“, die dem vorletzten Diktator Schmosch auch nach dessen Tod weiterhin zujubelten. Die Welt erscheint unverbesserlich und Hoffnung ist nicht in Sicht. Das letzte Wort soll damit aber nicht gesprochen sein, teilt uns Andruchowytsch mit seinem Roman mit. Er hält es voller Empathie mit seinem Helden, von dem es einmal heißt: „Ob Rotsky wohl glaubte, dass man das ändern konnte? Nein, ich denke nicht. Aber nicht protestieren konnte er auch nicht.“ Genau das mündet hier in einen so widerständigen wie mitreißenden Erzählfuror, der sich, dies sei hier betont, in der Übersetzung von Sabine Stöhr auch auf Deutsch kraftvoll und ungehemmt entfalten kann.

Titelbild

Juri Andruchowytsch: Radio Nacht.
Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022.
480 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783518430729

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