Leicht verdauliche Literatur

Im Erzählband „Nachmittage“ schafft es Ferdinand von Schirach nicht, ausgetretene Pfade zu verlassen

Von Johanna ItterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johanna Itter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ferdinand von Schirach ist vor allem als Strafverteidiger bekannt. Seit seinem ersten Erzählband Verbrechen von 2008 auch als angesehener Schriftsteller. Hierin aber auch in allen weiteren seiner Werke bedient er sich kurzer Erzählformen, um darin von Fällen aus seiner Kanzlei zu berichten und damit einhergehende juristische und ethische Grundfragen aufzuwerfen. Die unantastbare Menschenwürde steht bei ihm immer im Fokus. Oft nah am eigenen Erleben geschrieben, widmete sich von Schirach nach Strafe (2018) einer vollkommen autobiografischen Erzählweise mit seinem Buch Kaffee und Zigaretten (2019). Hier erzählt er mit derselben Distanz und Selbstverständlichkeit unter anderem von seiner Jugend, seiner Familiengeschichte, dem Tod seines Vaters und einem Selbstmordversuch kurz danach.

Nachmittage funktioniert sehr ähnlich. Das Buch besteht aus 24 durchnummerierten Kapiteln, jeweils mit einer abgeschlossenen Geschichte über mehrere Seiten, manchmal nur einem kurzen Gedanken mit einer Länge von einer halben Seite. Man ist dazu geneigt, diese Geschichten als solche zu lesen, die man laut von Schirach „nur in einer solchen [Hotel-] Bar nachts einem Fremden erzählen kann.“ Und weiter:

Es sind leise Erzählungen von verregneten Nachmittagen und von schwarzen Nächten, und die Helden haben das Spiel endgültig verloren. Aber diese Geschichten beschützen uns vor der Einsamkeit, den Verletzungen und der Kälte.

Doch von Schirachs Erzählungen erinnern uns eher an die eigene Einsamkeit, die verlorene Liebe, an menschliche Abgründe. Es sind keine leisen Erzählungen von verregneten Nachmittagen, sondern eher vage Erzählungen für verregnete Nachmittage. Was macht den Sog also aus? Was macht die Geschichten dennoch zu Pageturnern?

Zum einen sind es die Settings, mit denen der Autor die Leser:innenschaft immer wieder aufs Neue zu faszinieren weiß. Es sind Reiseberichte, wie der aus Tokio, wo er sich ein Zimmer in dem Hotel buchen kann, in dem Lost in Translation gedreht wurde. Es sind die Weltgewandtheit und der Kosmopolitismus des Autors selbst, die jeder noch so banalen Geschichte das gewisse Extra verleihen. Seine Geschichten spielen in Pamplona, Oslo, New York, Marrakesch, Taipeh und London. Überall ist er vernetzt, kennt Menschen und trifft Menschen aus seiner Vergangenheit. Einige Geschichten wären sicher nur halb so schön, hätten sie nicht in einer stilvoll heruntergekommenen Hundert-Zimmer-Villa in Bassano del Grappa stattgefunden, in der sich von Schirach für den Sommer zum Schreiben aufhält.

Zum anderen scheint Nachmittage ein Prototyp jenes „Midcults“ zu sein – leicht lesbare Literatur, die mit Bildungsgut aufgepimpt ist, sodass die Leser:innenschaft sich mit dem Gefühl amüsieren kann, etwas „Wertiges“ zu sich zu nehmen. Eine These, mit der Moritz Baßler in letzter Zeit in seinem neu erschienen Buch Populärer Realismus für Debatten gesorgt hat. So werden in seine Geschichten, die größtenteils die Form und den moralischen Anspruch einer Parabel haben, gerne Zitate von Goethe, Floskeln über den Sinn von Kunst – „Kunst ist keine Macht, sie kann nur Trost sein“ – und andere intertextuelle Verweise eingewebt – ein Hauch von Hochkultur inmitten sehr lebensnaher Erlebnisse.

Dies gehört schon fast unweigerlich zum Stil des Autors, bereits in seinen kriminalistischen Erzählbanden, die die Faszination des Menschen für Verbrechen und das Böse im Menschen schon vor Podcasts wie Zeit Verbrechen bedient haben, macht Ferdinand von Schirach gelegentlich Exkurse in Literatur und Philosophie. Sie zeigen, in welchen Dimensionen er denkt, woraus er seinen moralischen Kompass bezieht. Von Schirach liebt eben auch das Name-Dropping. Sie zeigen aber auch, wie alles miteinander verwoben ist, wie alles auf den Menschen zurückgeht und dass vieles nur Ausdruck von Weltanschauungen ist, aus denen man seine individuellen Lehren ziehen kann.

Alle Geschichten durchziehen das Gefühl der Einsamkeit, wie schon in Kaffee und Zigaretten. Um ihr zu entfliehen, sucht der Autor die Begegnung mit anderen Menschen, flüchtige manchmal auch intensive Begegnungen. Er lässt sich ihre Schicksale erzählen, teilweise zwingen die Menschen sie ihm fast auf. Aber auch das hilft nicht mehr. Ursache für seine Einsamkeit scheint eine verlorene Liebe. Erinnerungen an die gemeinsame Zeit blitzen immer wieder durch. Parallelen zu F. Scott Fitzgeralds The Great Gatsby (1925), den von Schirach zitiert, sind nicht zufällig. Ein Teil spielt im Plaza Hotel in New York: Hier hat auch von Schirach „sie“, die verlorenen Liebe, das erste Mal gesehen.

Aber auch an seine früheren Erzählbände schließt der Autor immer wieder an, beispielsweise wenn erneut die Themen Schuld, Verbrechen und Rache im Zentrum stehen. So bringt der Besitzer eines traditionsreichen Uhren-Imperiums einen Berliner Clubbesitzer um, da dieser ihn damit erpresst, seine lang verschwiegene Homosexualität zu entlarven.

Am längsten hallt wohl die Geschichte von Christiane nach, die der Erzähler auf der Beerdigung eines gewissen Mero trifft. Beide teilen ihre jeweiligen Berührungspunkte mit dem kürzlich verstorbenen Kinobesitzer aus Kreuzberg miteinander. Christiane – Mutter drogensüchtig, Vater unbekannt – ist schon in jungen Jahren straffällig und ein Straßenkind. Bis sie in Meros Kino landet. Er nimmt sich ihrer an, verschafft ihr Zugang zu Bildung und einem Job, lässt sie in dem Zimmer über dem Kino wohnen. Er wird eine Art Vaterersatz. Mit 18 Jahren, am Abend ihres Abiballs, findet sie heraus, dass all die Jahre in ihrem Zimmer Kameras installiert waren und findet zahlreiche Kassetten mit Nacktaufnahmen von sich. Sie haut sofort ab. Jahre später rächt sie sich an ihm wegen seiner Missetaten.

Es sind diese starken Texte, die von Schirach als den stilistisch begabten, für zwischenmenschliche Nuancen so feinfühligen Autor zeigen, der er sein kann. Leider gibt es auch ganz andere Kapitel. Diese Geschichten sind dann alle formal gleich aufgebaut. Sie werden als schlichte Aneinanderreihung von Ereignissen erzählt, mit abruptem Ende und einem moralischen Zeigefinger, den man zu müde war, vollständig zu erheben.

Das stört beim Lesen an einem verregneten Nachmittag gar nicht, auch nicht in der Bahn, wenn eh schon alles flüchtig an einem vorbeizieht und man schnell aufspringen muss, um den Anschluss zu erreichen. Ästhetisch sind die Erzählungen dank der faszinierenden Orte, Hotels und Menschen allemal, sie können jedoch an Ferdinand von Schirachs Erzählkunst in vorherigen Bänden nicht anschließen. Sein alter Bekannter Peter Middleton sagt in einer der Geschichten den schlauen Satz: „Wir können nur in der Mitte leben. Jedes Extrem ist falsch. Und ich habe viele Extreme erlebt.“ Hoffen wir, dass von Schirach auch erzählerisch wieder seine Mitte findet und ansonsten altbekannte Pfade einmal ganz verlässt.

Titelbild

Ferdinand von Schirach: Nachmittage.
Luchterhand Literaturverlag, München 2022.
176 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783630877235

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