Wendezeit der Literaturkönig*innen?
Nochmal: Alles auf Eddy oder: Die Rückkehr zum Anfang in Édouard Louis’ neuem Werk
Von Stephan Wolting
„Diß ist die Zeit der Könige nicht mehr. // Euch ist nicht/ Zu helfen, wenn ihr selbst euch nicht helft (…)“ so schreibt Hölderlin in seinem einzigen Dramas Empedokles bzw. legt es seinem Protagonisten in den Mund. Die jüngste Entwicklung innerhalb der internationalen Literatur scheint es eher nahe zu legen, dass innerhalb der westeuropäischen Literatur ein neues Königreich oder neue Königreiche begonnen haben, von denen wir als Leser*innen lange nicht mehr hörten. Das ist eine soziologisch unterfütterte Literatur, die spätestens seit der Verleihung des Literaturnobelpreises an Anne Ernaux wieder in aller Munde ist, eine Literatur, die den sozialen oder gesellschaftlichen Rahmen in den Vordergrund stellt. Auch innerhalb der deutschsprachigen Literatur lässt sich dieses Tendenz feststellen, wenn wir etwa an Fatma Aydemirs Dschinns oder ähnliche Werke denken.
Das männliche Pendant zu Ernaux innerhalb der französischen Literatur scheint neben Didier Eribon, auf den er sich im Werk bezieht, der neue Shooting-Star dieser Literatur, Édouard Louis, zu sein, der gerade sein neues Werk bzw. neu ins Deutsche übersetztes Werk Anleitung, ein anderer zu werden, vorgelegt hat. Das französische Original heißt Changer. Methode. Dieses Original erschien 2021 in Paris bei Seuil. Wörtlich übersetzt heißt es „wie sich verwandeln?“ Vielleicht sogar noch besser: wie in sich selbst verwandeln.
Das Werk lässt sich gattungsmäßig nicht eindeutig bestimmen. Am ehesten kommt ihm wohl der Begriff der Autofiktion zu oder der autofiktionaler Roman, wie es in einer Kritik gemacht worden ist. Im Text selbst wird aber nicht von Roman gesprochen.
In anderen Kontexten wird im Zusammenhang mit Anne Ernaux, aber auch mit dem Preisträger des Deutschen Buchpreises Kim de l‘Horizon mit seinem Werk Blutbuch von einer Tendenz des Zusammenhangs von Hedonismus und Klassenkampf gesprochen, der Verbindung einer individuellen sehr authentischen (Lebens-) Geschichte unter Benutzung soziologischer Kollektive, Be- und kulturellen Zuschreibungen. Es wird Bezug auf unterschiedliche Identitätszuschreibungen genommen, wie sie vor allem von der Kollektivforschung im Sinne der Zugehörigkeit zu verschiedenen Gruppen festgestellt wurden. Von daher wird der Text auch als eine Art Gesellschaftsroman oder respektive Gesellschaftsanalyse in der Tradition von Balzac, Stendhal oder Maupassant gelesen. Mitunter gilt der Autor auch als „Forensiker der sozialen Ungerechtigkeit“, wie Florian Eichel in der ZEIT vom 13.10.2022 schreibt.
Es lässt in diesem Zusammenhang auch von einer Form von Selbstanklage und Lamentation sprechen, etwa schon zu Beginn des Werks: „Muss ich dir den Anfang der Geschichte noch einmal erzählen? Ich wuchs in einer Welt auf, die alles ablehnte, was ich war, und ich empfand es als Ungerechtigkeit.“
Die Erzählerinstanz versucht in einer Art von „fiktiver Aussprache“ mit dem Vater, wie es sich jeder von uns vielleicht manchmal einmal vorstellt, eine Art von Stellvertreter- und Ersatzgespräch diesem zu „erklären“, warum er aus diesem Milieu wegmusste, warum er ihn und dessen Milieu „verriet“ bzw. warum er versuchte, „ein anderer zu werden“. Dies ist zum Teil ganz konkret gemeint:
Nach den Zähnen ließ ich auf dem Amt meinen Vornamen ändern, dann meinen Nachnamen. Ich ging zu einem Arzt, um meine Haarlinie versetzen zu lassen, und ich begann, mich anders zu kleiden, auf eine Art, die mir besser zu meinem neuen Leben zu passen schien. Nach und nach löschte ich alle Spuren des Menschen aus, der ich gewesen war.
Auf der Suche sich zu verändern, sich zu wandeln, durchläuft er viele Etappen; schon in jungem Alter probiert er gerade auch beruflich viel aus:
Ich floh vor diesem Schicksal und arbeitete als Bäckereiverkäufer, Wachdienstmitarbeiter, Buchhändler, Kellner, Kartenabreißer im Theater, Aushilfe in einer Anwaltskanzlei, Nachhilfelehrer, Prostituierter, Ferienlagerbetreuer und Proband für medizinische Studien.
Auf humorvolle Weise nimmt sich auch Dany Boon in seinem Film von 2018 Die Sch’tis in Paris – Eine Familie auf Abwegen des Themas an sowie der erwähnte Soziologe und Schriftsteller Didier Eribon mit seinem Beststeller in Deutschland und Frankreich Rückkehr nach Reims von 2009 (erst 2016 erschien die deutsche Übersetzung, von Tobias Haberkorn 2020 verfilmt). Auch Eribon nimmt sich des Themas der eigenen Homosexualität und der Reaktionen innerhalb der Arbeiterschaft darauf an, thematisiert aber ebenso den Rassismus innerhalb dieser gesellschaftlichen Schicht und das Thema von linkem politischen Selbstverständnis und rechtem Wahlverhalten und Bildungsorientierung. Der Soziologe beruft sich ausdrücklich auf das Buch von Ernaux Die Jahre. Édouard Louis wiederum bezieht sich sehr auf Eribon. So schließt sich der Kreis: „Von Geburt an tragen wir die Geschichte unserer Familie und unseres Milieus in uns, sind festgelegt durch den Platz, den sie uns zuweisen.“
In diesem Sinne lässt sich von einer Art politischer wie individueller Autobiographie zugleich sprechen, die Suche nach einer Form von linker theoretischer Perspektive unter Bezug auf Bourdieu, Sartre, Gramsci u. a. Gerade in einer Zeit, wo vom „Ende des Endes der Geschichte“ gesprochen wird, erscheint eine neue linke Alternative so notwendig wie nie. Allerdings legt das Buch von Louis vor allem den Finger auf die Wunde. Auf gewisse Weise geht er auch nicht weit über sein Erfolgswerk Das Ende von Eddy hinaus, worin es ebenfalls um die Metamorphose bzw. Wandlungsfähigkeit einer Person geht. Doch selbst wenn man nichts entscheidend Neues erfährt, so bleibt Édouard Louis eine wichtige Stimme im Chor internationaler Literatur, der auch in Zukunft nicht verstummen darf. Insofern ist auch dieses Werk wieder sehr zur Lektüre zu empfehlen.
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