Als das Reisen noch zu helfen schien…

Zwei sehr unterschiedliche Reiseerzählungen des Travellers Axel Barner

Von Markus BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Reiseformen gibt es zahlreiche – von den Anlässen, den Richtungen, der Dauer, den Umständen und Fortbewegungsmitteln her nur grob einzuteilen. Was aus dieser Vielfalt eine/r als Text macht, ist dann noch einmal eine ganz andere Geschichte. Wie sehr aber auch ein Autor selbst zwei unterschiedliche Reisen bis zur Unkenntlichkeit der gemeinsamen Autorschaft in ganz verschiedene Reiseerzählungen verarbeiten kann, demonstrieren die beiden von Axel Barner im Jahresabstand vorgelegten Bücher. Die Unterschiede reichen zunächst bis in die äußere Ausstattung hinein: einfache Broschur hier mit vier farbigen Illustrationen, fadengeheftetes Hardcover mit Lesebändchen dort. Aber entscheidend ist die Differenz der literarischen Herangehensweise: Während Äthiopisches Album eine raue, direkte Konfrontation mit den Gegebenheiten und die detektivische Geschichte einer Suche abgibt, ist Lennings Reise reflexiver und runder in seiner Ausdrucksweise, wobei die Suche als die des Protagonisten nach sich selbst erkennbar wird. Ähnlichkeiten zwischen beiden Büchern sind kaum feststellbar. Sie realisieren zwei weit von einander entfernt liegende Genres des Erzählens über Reisen.

Für Brenner beginnt die Überseereise mit der Fahrt zu einem Klassentreffen in die niedersächsische Provinz. 40 Jahre lang hat er seine AbiturkollegInnen nicht gesehen, entsprechend gespannt sind die Erwartungen. Barner erzählt diese Konfrontation mit einer längst vergessen geglaubten Vergangenheit mit zahlreichen generationstypischen Anspielungen auf wunderbar lakonisch-skeptische Weise, die auch seinen angejahrten Helden charakterisiert. Fühlt sich die/der Lesende bald sehr heimisch in dieser bundesdeutschen Szenerie, so versetzt der Plot aber bald ganz weit nach Süden – nach Addis Abeba auf die Spuren einer früheren Klassenkameradin, die dort mit einem Projekt verschollen gegangen ist.

Und damit landet unvermittelt auch der/die LeserIn buchstäblich im Dunklen, kaum von Straßenbeleuchtung erhellten Addis Abeba mit seinen modrigen Gerüchen, russischen Taxis und schönen Menschen („Das erste, was er beobachtete, als er nach der Zollkontrolle in die Ankunftshalle trat, war die auffällige Anmut der Menschen, die herumstanden. Ja, stellte er fest, die Äthiopier waren ein schönes Volk!“). Die Stadt bereitet dem weit gereisten Brenner nicht wirklich große Überraschungen:

Er kannte das ja und hatte es nicht vergessen: Zinkdächer, Dächer aus Wellblech markierten die Peripherie der Welt, die sich überall ähnelte, ob in Lateinamerika, Südasien oder Afrika. Wenn man an einen Ort mit Wellblechdächern kam, war es, als sei man im Nirgendwo angekommen.

Aus dieser Perspektive überraschen die inhärenten neokolonialen Strukturen im Kontakt mit den offiziellen bundesdeutschen Stellen vor Ort wenig. Barner bietet aber kaum besonderen Aufwand auf, um das spätestens seit Stephan Wackwitzʼ Geschichten aus Südostasien oder von Barner selbst erwähnte Beispiel Joseph von Westfalens etablierte Motiv „Einladung zu Botschaftsangehörigen im exotischen Ausland“ hervorzuheben, was auch durchaus Brenners Zurückhaltung gegenüber diesem notwendigen Ereignis seiner Reise entspricht. Das Fazit des informellen diplomatischen Abend ist eindeutig: Die „Abendgesellschaft schien ihm eher der angemessene Ausdruck der fröhlichen Nichtsnutzigkeit deutscher Diplomatie in Afrika.“

Als Folge der diplomatischen Abendsause lernt Brenner eine schöne einheimische Studentin kennen, die ihn durch die Stadt führt und auch sonst bei Informationen hilfreich ist. Damit ist der Beginn gemacht für die Exploration in die Geschichte der verschwundenen Barbara und Brenners Eintauchen in die äthiopische Wirklichkeit der ländlichen Provinz durch das Prisma der deutschen Projektgesellschaften. Direkt, kenntnisreich, verwoben mit Mythen, Vorurteilen, Stereotypen, auch dem Wunsch nach Verstehen oder Einordnen – und damit, wie es kaum anders sein kann, fremd und schief zum äthiopischen Verständnis der Wirklichkeit. Und zugleich ein skeptisches Fragen gegenüber dem bundesdeutschen Auftreten in diesen Strukturen, die es kaum ändern kann, obwohl dies doch die immer wieder erklärte Absicht ist.

Wirkt Brenners story sehr direkt, fast schon „hardboiled“, mit wenig Rücksicht auf Erwägungen oder Empathie für das, was vorgeht, so ist Lenning ganz anders. Ja, das genaue Gegenteil: grüblerisch, nicht wissend weshalb wohin. Irrend in der Welt der Möglichkeiten. Erzählt wird in Heften, die Lenning seiner Freundin geschickt hat, bevor er verschollen gegangen ist – irgendwo in den Schlamm- und Eiswüsten Islands. So erscheint ihre z. T. gemeinsame Reise nicht nur als Selbstfindungstrip, sondern auch als Erkundung einer rätselhaften Beziehung, die Anna durch diese Notizen hofft, besser zu verstehen. Lenning geht nicht nur mit Anna auf eine Weltreise, sondern hat gleich die Zelte ganz abgebrochen: das Angestelltendasein geschmissen, Auto verkauft, ohne Anna davon zu erzählen, so dass diese aus den Heften erstaunt die Diskrepanz zu ihrer eigenen Perspektive auf die gemeinsame Reise zur Kenntnis nehmen muss.

Es geht Anfang der 1980er aus Berlin nach Paris, dann Madrid, wo bereits erste Risse in Beziehung sich in der Gestalt eines früheren spanischen Freundes von Anna zeigen, so dass der verschlossene sprachunkundige Lemming allein nach Lissabon vorausfährt. Hier war er mal „Anfang der siebziger Jahre“ und auch während der „Nelkenrevolution“ gewesen, er bemerkt die Veränderung im Land, die Orientierung nach Europa. Und erinnert sich an seine Liebschaft 1975 mit der Amerikanerin Marion, die er irgendwie sitzengelassen hatte. Nach der Ankunft von Anna fliegen sie gemeinsam auf die Azoren, wo nach einer Woche ihre Wege sich wieder trennen, da die Freundin eine Gelegenheit findet, mit einer holländischen Familie auf dem Segelboot in die Karibik zu fahren, während Lenning lieber auf den Spuren von Platons untergegangenem Atlantis die Inseln erkundet. Hier erweist sich der Protagonist als wirkliches Kind der 1970er Jahre, die Einfachheit des Lebens der BewohnerInnen erscheint ihm als ultimatives Lebensziel, ihre Freundlichkeit, Großzügigkeit, Gelassenheit beeindrucken den Reisenden und erscheinen ihm als lebbare Utopie, wenn auch bei der Abreise bereits die Landvermesser an der schönsten Vulkanaussicht den Bau eines Luxushotels zu präparieren beginnen. Der Grübler begibt sich nicht zu seiner Freundin in die Karibik, „er kam zu dem Schluss, dass er eine andere Richtung einschlagen musste“ , und geht über Kopenhagen nach Grönland und dann nach Island – Eis und Schnee statt Sonne und Hitze, „deprimierende Tristesse“ statt Lebensfreude. „Bald stieß er, der Trostsuchende, dort auf einen Ort, der trostloser nicht sein konnte und ihm schwer aufs Gemüt drückte.“ Kontakte mit alkoholisierten Einwohnern, einsames Zelten in Sturm und Regen auf Grönland, in Island kaum anders:

Das Land erschien wie erdrückt unter diesem Himmel. Nasser Asphalt. Sturmböen wellten das Wasser der Pfützen. Auf dem kurzen Weg vom Flugzeug bis zur Ankunftshalle durchdrangen eiskalter Wind und Feuchtigkeit die leichte Kleidung. Seine unendliche Müdigkeit nach dem Flug verband sich mit der unendlichen Traurigkeit dieses Orts.

So gleitet der Suchende in eine tiefe Melancholie, die sein Verschwinden vorbereitet, das Aufgehen in der Landschaft der menschenfeindlichen Eiswüsten. Mit diesem zutiefst romantisch-modernen Motiv gewinnt Barners Figur zugleich eine symbolhafte Verankerung in der europäischen Literatur des Reisens.

Aber auch hier gibt es noch eine längere Lektion, die der einheimische grönländische Weise Enok, „der letzte Angakok, der letzte Zauberer von Maniitsoq“ ihm als Europäer unverhohlen mitgibt. So enthalten beide Bände Elemente einer Zivilisations- oder zumindest Deutschlandkritik – bei Brenner ist es ein polnischer Entwicklungsingenieur mit dem passenden Namen Kapuscinski, der aktuell über „die Deutschen“ und die Merkel‘sche Behandlung der „Flüchtlingskrise“ sich deutlich auslässt. Lenning hingegen befragt interessiert den Magier, der am selbst erlebten Kontakt mit evangelischen Missionaren die Diskrepanzen des grönländischen Denkens zur „westlichen Zivilisation“ kritisiert: „Wir waren alle gleich. Es gab weder Arme noch Reiche, weder Krieg noch Unrecht. Ihr aber seid gekommen, um dies alles zu zerstören, weil ihr Reichtum anhäuft.“

So geben sich beide Bücher nicht zuletzt als Produkt bundesdeutscher bzw. „wiedervereinigter“ deutscher Mentalität im Prozess von Konfrontationen mit „Fremde“ und „Selbst“ zu erkennen. Erinnerung an die verschollene Liebe und Auseinandersetzung eines Eigenbrötlers mit seiner Freundin auf Reisen – beides zugleich Erprobungen und Abfragen der eigenen Haltungen und Ansichten gegenüber einer Welt und Natur, die – wie Barner gerne betont – nach ganz anderen Spielregeln funktionieren als die einer saturierten europäischen Gesellschaft. Beide Bücher bieten den Lesenden mithin reichlich konkrete Erlebnisse und Gedankenmaterial für Reflexionen über das „Fremde“, das Reisen und wie sich Reisende dazu verhalten.

Titelbild

Axel Barner: Äthiopisches Album. Reiseerzählung.
Geest Verlag, Vechta 2021.
244 Seiten, 12,80 EUR.
ISBN-13: 9783866858527

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Axel Barner: Lennings Reise.
PalmArtPress, Berlin 2022.
225 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783962581084

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