Eher Gediegenes für den Bücherschrank

Zur Neuauflage der Sämtlichen Werke Heinrich Heines im Jubiläumsjahr

Von Ulrich KlappsteinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Klappstein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Bahnbrechend“ nannte Marcel Reich-Ranicki Heinrich Heines Werk. „Ihm ist geglückt, was Europa den Deutschen kaum mehr zutraute: ein Stück Weltliteratur in deutscher Sprache.“ Wie recht der illustre Kritiker hatte, lässt sich nun aufs Schönste nacherleben mit dieser edlen Leseausgabe. Die Reisebilder, das „Buch der Lieder“ und  „Deutschland. Ein Wintermärchen“ zeigen Heine mal als leichtfüßigen Lyriker, mal als scharfzüngigen Satiriker, immer als einen überragenden Stilisten. Der Kommentar von ausgewiesenen Spezialisten, Zeittafel und Register sorgen für neue Einsichten und schnelle Auffindbarkeit beliebter Zitate –

so lautet die Verlagswerbung der wbg Edition als Herausgeberin, die als Imprint der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt erschienen ist. Der Start dieser Ausgabe war schon für das letzte Quartal 2021 angekündigt worden, wurde aber bis ins 2. Halbjahr 2022 verschoben. Nun liegt sie pünktlich zum Jubiläumsjahr vor, denn Heinrich („Harry“) Heine wurde am 13. Dezember 1797, also vor 225 Jahren, in Düsseldorf geboren.

Dass Heines Gesamtwerk zum Kanon der Weltliteratur gehört, ist inzwischen allgemein unumstritten, und seit der Überwindung der Teilung Deutschlands mit dem Fall der Mauer im Jahr 1989 auch in der Heine-Forschung. Diese war über viele Jahre zu stark von außerliterarischen Prämissen geprägt. Seitdem sind der Forschung vielerlei Hilfsmittel erschlossen worden, eine Heine-Chronik, eine Quellensammlung zum Werk Heines im Urteil seiner Zeitgenossen und ein schon in dritter Auflage vorliegendes, überarbeitetes, erweitertes und ergänztes Heine-Handbuch. Weiterhindas für alle online zur Verfügung stehende Trierer Heinrich-Heine-Portal (http://www.hhp.uni-trier.de/Projekte/HHP/projekt), das die beiden historisch-kritischen Heine-Gesamtausgaben, also die unabhängig voneinander in der Bundesrepublik und der DDR entstanden Textbestände zusammenführt – die 1973–1997 Düsseldorfer Heine-Ausgabe (DHA) und die 1970–1984 erschienene, 17 Einzelbände umfassende Briefabteilung der Heine-Säkularausgabe (HSA), herausgegeben von den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar (heute Stiftung Weimarer Klassik) und dem Centre National de la Recherche – Scientifique in Paris.

Innerhalb dieses Zeitrahmens war auch im Münchener Hanser Verlag eine zwölfbändige Ausgabe der Sämtlichen Schriften, herausgegeben von Klaus Briegleb, erschienen, zuletzt 2005 als günstige Taschenbuchausgabe bei DTV, die aber nicht mehr erhältlich ist. Dazu Anfang der 90er Jahre noch eine vierbändige Edition im Verlag Artemis & Winkler, Berlin, die auf den Texten der Ausgabe letzter Hand beruhte. Diese Edition zeichnete sich durch hervorragende Kommentare aus, in denen die zahlreichen Anspielungen Heines auf die Weltliteratur und die Werke seiner Zeitgenossen erläutert wurden.

Auf dieser Ausgabe beruht nun auch die ansprechend ausgestattete Leseausgabe als „wbg Edition“, die zur Erschließung des literarischen, politischen, religiösen und philosophischen Kosmos von Heinrich Heines Sämtlichen Werken sicherlich für ein breites Publikum nach wie vor geeignet ist, auch wenn sie wissenschaftlich Forschenden nichts Neues bringen wird, denn bei dieser unveränderten Wiederauflage werden bedauerlicherweise nur veraltete Querverweise auf die längst überarbeitete Sekundärliteratur gegeben.

Die Edition umfasst nach wie vor die Gedichte, als Band 1 mit den Anmerkungen von Erhard Weidl (1939–2005), die dichterische Prosa und Dramatisches (Band 2 mit Anmerkungen von Bernd Kortländer (geboren 1947), als Band 3 die Schriften zur Literatur und Politik I, sowie als vierten Band die Schriften zur Literatur und Politik II, Vermischtes. Die beiden letzten Bände hat Uwe Schweikert (geboren 1941) mit Anmerkungen und einem eigenen, jeweils identischen Personenregister versehen.

Der Verlag wirbt damit, dass die Originaltexte durch ein Nachwort, Zeittafeln, Register und ein Verzeichnis der Gedichtanfänge ergänzt werden, dies bezieht sich aber nur auf den ersten Band, der auf der 6. Auflage der zugrundeliegenden Berliner Ausgabe beruht und den Stand des Jahres 1992 wiedergibt. Kortländer, der für den zweiten Band verantwortlich zeichnet und 2002 und 2008 sogar durch Spezialforschungen zu Heine hervorgetreten war, beruft sich auf die 5. Auflage von 1994; die Lage wird weiter verwirrt dadurch, dass sich Uwe Schweikert, der zwar schon die Schriften von Rahel Varnhagen, Ludwig Tieck und Hans Henny Jahnn herausgegeben hatte und im Bereich der Heine-Forschung aber aktuell kaum hervorgetreten ist, sich im dritten Band wie Weidl auf die 6. Auflage von 1992, für den abschließenden Band aber auf den Nachdruck der 2. Auflage von 1993 bezieht.

All diese Angaben sind mindestens irritierend und weisen darauf hin, dass es (zumal nach dem Tod Weidles) zu keiner gemeinsamen Abstimmung der Kommentatoren mehr kommen konnte. Dennoch hat sich der Verlag gegen – günstiger zu erwerbende – Einzelausgaben entschieden, sondern bietet die sämtlichen Werke nur geschlossen beziehbar an, im Schmuckschuber, zusammen 3858 Seiten, gebunden und mit Lesebändchen und jeweils in einem gefälligen Schutzumschlag mit unterschiedlichen Naturmotiven.

Der Vorteil für Leser:innen besteht darin, dass man seinen ‚Heine‘ damit relativ kompakt (und fast vollständig) im Bücherschrank stehen und griffbereit zur Hand hat – wenn man bereit ist, die angesprochenen editorischen Nachteile ‚in Kauf‘ zu nehmen, denn der Gesamtpreis ist auch für Mitglieder der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft aus verlegerischen Gründen wohl angemessen, aber nicht unerheblich.

Aber die Heine-Forschung ist mit einem von 1962 an kontinuierlich erscheinenden Heine-Jahrbuch, zahlreichen biografischen Neuerscheinungen und aktuellen Einzeluntersuchungen ja noch nicht ‚abgeschlossen‘, sondern muss von den fachlich Interessierten – Studierenden wie akademisch Fortgeschrittenen – ohnehin zu Rate gezogen werden.

Titelbild

Heinrich Heine: Sämtliche Werke in vier Bänden.
Mit Kommentaren und Anmerkungen von Erhard Weidl, Bernd Kortländer und Uwe Schweikert.
wbg – Wissen. Bildung. Gemeinschaft, Darmstadt 2022.
3858 Seiten, 200,00 EUR.
ISBN-13: 9783534274246

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