Dichtung und Wahrheit

Angela Steideles Roman „Aufklärung“ entführt die Lesenden in die Stadt Leipzig zur Zeit des 18. Jahrhunderts

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Begriff der Aufklärung wird zumeist mit Philosophen wie Immanuel Kant, Voltaire oder David Hume assoziiert. In Angelika Steideles gleichnamigem Roman stehen aber nicht weltberühmte Philosophen im Zentrum, sondern zwei eher weniger bekannte Frauen, von denen zumindest eine in intellektueller Hinsicht mit den genannten Herren mithalten konnte, während die andere aus einer Musikerfamilie stammt, deren männliches Oberhaupt im Metier der Tonsetzerkunst ebenso berühmt ist wie Kant in dem seinen.

Die Rede ist von Catharina Dorothea Bach, der Ich-Erzählerin des Romans Aufklärung, an deren Innenleben Steidele die Lesenden auf ganz wunderbar Weise teilhaben lässt. Bei der eigentlichen Protagonistin aber handelt es sich um die ebenso kluge wie geistreiche und gebildete Luise Adelgunde Victoria Gottsched oder kurz „die Gottschedin“, wie sie damals den Gepflogenheiten der Zeit entsprechend genannt wurde.

Dorothea hat sich „so über die Biographie Luises geärgert“, die Johann Christoph Gottsched über seine Frau geschrieben und noch in deren Todesjahr 1762 unter dem langatmigen Titel Nachricht, von dem Leben, Tode und Begräbnisse der hochedelgebohrnen und nunmehr sel. Frau Luise Adelgunde Victoria Gottschedinn, geb. Kulmus aus Danzig publiziert hat, dass sie „am liebsten Gottscheds Darstellung kommentier[t], Satz für Satz hinterfrag[t], anders beleuchte[t], Unerwähntes nach[ge]hol[t]“ hätte. Denn er verfälscht nicht nur das Leben und Schaffen seiner Frau, sondern hat „ja eigentlich nur sein eigenes Leben geschildert“. Doch statt einen Kommentar zu Gottscheds Schrift zu verfassen, begann sie sogleich, ihre eigenen Erinnerungen an die Frau zu Papier zu bringen, deren Schreiberin und schließlich auch Freundin sie im Laufe ihrer langjährigen Bekanntschaft werden sollte.

Nicht nur wegen seiner egozentrischen Biografie über seine Frau schneidet „der Professor“ in Dorotheas Gegendarstellung  nicht besonders gut ab. Er wird als eitler Mensch geschildert, der in Gesellschaften gerne „wie vom Katheder [doziert]“. Zudem ist er als misogyner und übergriffiger Schürzenjäger bekannt, der überdies gerne Bordelle aufsucht, so dass sich „ganz Leipzig [wundert]“, „dass dem Professor noch kein Weib einen Balg vorgehalten“ hat. Ist Gottsched allen Weiberröcken hinterher, so hatte seine Frau heimlich zwei lesbische Liebschaften zu Charlotte Sophie Gräfin von Bentick und der späteren Herausgeberin ihrer Briefe Dorothee Henriette von Runkel. Dorothea erfährt dies, als sie nach dem Tod ihrer Freundin etliche Briefe in einem Geheimfach von Luisens Schreibtisch entdeckt.

Doch zunächst zurück zu Christoph Gottsched. Betrügt er seine Gattin nicht gerade mit anderen Frauen, beutet er die ihm angetraute geistig aus, was unter mit klugen Frauen verheirateten Männern nicht nur damals eine weitverbreitete Unart war. So moniert die Ich-Erzählerin beispielsweise, dass er die Grundlegung einer deutschen Sprachkunst allein unter seinem Namen publiziert hat, obwohl Luise „zehn Jahre“ an dem Werk „mitgearbeitet“ hat. „Erst in der Lebensbeschreibung seiner Frau gibt er zu, dass er auch bei diesem Werk, den fleißigen Beistand meiner seligen Gehülfin ungemein zu rühmen hatte“. Auch an anderen unter seinem Namen veröffentlichten Werken hatte sie einen nicht eben geringen Anteil. So etwa am Handlexicon oder Kurzgefaßtes Wörterbuch der schönen Wissenschaften und freyen Künste.

Trotz all ihrer Arbeiten als ‚Gehilfin’ ihres weit über Leipzig hinaus berühmten Mannes fand die umtriebige ‚Gottschedin’ noch Zeit, Satiren, Dramen und Gedichtbände sowie nicht wenige Beiträge für die wöchentlich erscheinenden Periodika Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit und Die Vernünftigen Tadlerinnen zu schreiben. In letzterer publizierte sie etwa einen Text Ueber die Gelehrsamkeit des Frauenzimmers. Hinzu kamen unzählige Übersetzungen.

Eitel aber ist nicht nur ihr Ehegatte. Überhaupt sind die Dichter und Denker der Zeit allesamt nicht frei von diesem Laster. Überdies werden sie von gegenseitiger Missgunst geplagt und leben ihre Misogynität in Wort und Tat aus. Das gilt, in dem Roman zumindest, ebenso für den Voltaire genannten Franzosen François-Marie Arouet, den junge Schnösel Gotthold Ephraim Lessing, den professoralen Schriftsteller Christian Fürchtegott Gellert und allen vorweg eben für Gottsched. Auch Philosophen, die zwar nicht selbst als Figuren auftreten, von denen aber öfter die Rede ist, werden von der Ich-Erzählerin heftig kritisiert. So etwa der „Idiot“ und „Plagiator“ Immanuel Kant, der zwar den „Vorzug des Verstandes“ der Marquise du Châtelet-Laumont hervorhob, sie aber gerade wegen dieses Vorzug auf misogyne Weise beleidigte, indem er in seinen Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen meinte, ihr fehle nur noch ein Bart, um „die Miene des Tiefsinns noch kenntlicher aus[zu]drücken“. Auch war er sich nicht zu schade, bei der Mathematikerin die „schöne Metapher von den Hypothesen als notwenigem Baugerüst“ abzukupfern. Da überrascht es natürlich nicht, dass die Schriften eines „arme[n] Irrlicht[s] aus Genf“ namens Jean-Jaques Rousseau ebenfalls ohne Mühe der Misogynie überführt werden. Johann Heinrich Zedler und ‚sein’ Universal-Lexikon wiederum werden mit viel Witz in Grund und Boden kritisiert. „Statt Wikinger muss man da Wikipedinger lesen“, moniert Dorothea. Das ist natürlich ein Kalauer auf Kosten des umtriebigen Plagiators Zedler. Schlägt man im 56. Band des Lexikons nach, findet sich zwischen Wiking, oder Viking und Wikingham, (Simon) sehr wohl der Eintrag Wikinger. Es handele sich um „eine Art See=Räuber“, informiert das Lemma.

Positiv dargestellt werden im Grunde nur zwei Angehörige des männlichen Geschlechts. Zum einen Johann Sebastian Bach, wozu Dorotheas Liebe zum Vater ihren Anteil beigetragen haben mag. Mit der von ihm verfassten „Familienchronik“ Ursprung der musicalisch-Bachischen Familie wird sie allerdings nicht recht glücklich, hat er doch  – wie weiland schon die Autoren der Bibel – nur die männlichen Genealogien verzeichnet. „Ehefrauen und Töchter zählt unser Vater nicht auf“, empören sich Dorothea und ihre Halbschwester Susanna zu Recht.

Der andere eher positiv gezeichnete Mann ist Johann Wolfgang Goethe, der gegen Ende des Romans als junger Mensch nach Leipzig kommt und „Hessisch [babbelt], wie ihm der Schnawwl gewachse’ is“, so dass Susanna Bach ihn Hochdeutsch zu sprechen lehrt. Ihm gewährt die Autorin sogar einen Blick in die nähere Zukunft, sodass er Kants Definition der Aufklärung hersagen kann, gegen die sich Dorothea sogleich empört: Die Unmündigkeit der Frauen sei keineswegs selbstverschuldet. Zu Kants weiteren Ausführungen, denen zufolge die besagte Schuld des „bei weitem größte[n] Teil[s] der Menschen (darunter d[e]s ganze[n] schöne[n] Geschlechts)“ in ihrer Bequemlichkeit liege, die ihnen „den Schritt zur Mündigkeit“ als zu „beschwerlich“ erscheinen ließe, scheint Goethes Blick in die Zukunft allerdings nicht gereicht zu haben. Jedenfalls erwähnt er sie nicht. Doch auch diese Begründung würde Dorothea wohl kaum überzeugt haben, ist sie doch, was ihre zu Kinder, Küche, Kirche verdammten Geschlechtsgenossinnen betrifft, nur zu leicht zu widerlegen.

Die Handlung setzt allerdings schon lange bevor Goethe in Leipzig anlandet ein. Nämlich 1734, dem Jahr als Luise Gottsched und ihr Mann in die Stadt zogen und sich die späteren Freundinnen erstmals begegneten. Mit diesem Jahr nehmen Dorotheas Aufzeichnungen ihren Anfang. Ein zweiter Handlungsstrang beginnt 1862, dem Jahr, in dem sie begann ihre Erinnerungen an Luise aufzuschreiben, und zieht sich über einige Jahre hin, endet aber notwendigerweise mit ihrem Todesjahr 1774.

In ihren Aufzeichnungen belässt es Dorothea allerdings nicht bei der bloßen Schilderung der Geschehnisse, so wie sie sie erinnert, sondern flicht immer wieder Sinnsprüche und Reflexionen ein, seien es eigene oder diejenigen anderer. So schreibt sie etwa dem Musiktheoretiker Lorenz Christoph Mitzler die Überlegung zu, dass „Romane und Tragödien“, welche „die Zuschauer zu Tränen rühren“, „mehr [leisten] als jedes Geschichtsbuch“ und „einen tieferen Eindruck als trockene moralische Betrachtungen [machen]“. Daher „endlich auch die Dichtung zur Vervollkommnung des Menschen [ge]nutz[t]“ werden solle. Das verdichtet die Aristotelische Tragödientheorie mit dem zur Handlungszeit geführten Diskurs über die Perfektibilität des Menschen und Überlegungen des 20. Jahrhundert, wie sie von Richard Rorty angestellt wurden, der die Ansicht vertrat, dass nicht etwa moralphilosophische Abhandlungen einen „Zuwachs an moralischem Wissen“ bewirken, sondern „traurige und rührselige Geschichten“, weshalb die Lektüre von Romanen derjenigen von moraltheoretischen Schriften vorzuziehen sei.

Den von Steidele Herrn Gottsched in den Mund gelegten Rat „Am glücklichsten greift der Dichter also zu historischen Persönlichkeiten, über die man wenig weiß. Da kann er in die Lücken der Überlieferung hineindichten“, befolgt sie mit dem vorliegenden Roman selbst auf das Genauste, sind von ihrer Ich-Erzählerin doch einzig die Geburts- und Sterbedaten überliefert. Alles andere aus Dorotheas Leben hat die Verfasserin hinzugedichtet. Überhaupt nimmt sie es mit der historischen Wahrheit zwar oft, aber keineswegs immer sehr genau. Vielmehr spielt sie mit Spekulationen und damit, verschiedene Anachronismen leicht verklausuliert einfließen zu lassen. Sie und andere Anspielungen auf zur Handlungszeit noch Zukünftiges reichen über die Jahrhunderte hinweg bis in die Gegenwart herein. Das ist nicht nur sehr lustig und unterhaltsam, sondern mag auch dazu beitragen, sich in Steideles Leipzig des 18. Jahrhunderts sogleich zuhause und sehr schnell wohl zu fühlen. So kommt in der Stadt etwa die Unart des „Zwitschern[s]“ auf. Man „lässt Gedichtchen auf lose Zettel in kleiner Auflage drucken und in den Häusern abgeben“. „Um seine Muse hier und dort ‚zwitschern’ zu lassen“, sagt der Erfinder des neuen Mediums. Bald schon folgt alle Welt seinem Beispiel. Doch bereits damals führte das Zwitschern alsbald zu diversen Shitstorms. Denn „Gift auf andere zu spritzen ist geradezu ein Zeitvertreib geworden“. Die Parole eines inzwischen glücklicherweise abgewählten Lügenbarons des 21. Jahrhunderts wiederum wird, entsprechend abgewandelt, dem als ‚groß’ geltenden „tollwütige[n] Hund“ Friedrich in den Mund gelegt: „Preußen zuerst!“. Heute in ‚woken’ Kreisen übliche Triggerwarnungen werden aufs Korn genommen, indem vorgeschlagen wird, in Büchern „alle der Religion nachteiligen Stellen mit Warnungen [zu versehen]“. Und auch die nicht zuletzt von Luise F. Pusch seit den 1980er Jahren geübte Kritik am Deutschen als Männersprache wird schon in Steideles Leipzig vorgetragen: „Dass wir Weiber nicht als gelehrt gelten dürfen, aber als tugendhaft gelten müssen, liegt auch an der Sprache, ja sogar an der Grammatik. […] Wer seine Vernunft gebraucht, kann die deutsche Sprache nicht geschlechtergerecht finden. Seine, verstehen Sie?“ ereifert sich die Dichterin Christiane Marianne von Ziegler gegenüber Luise Gottsched. Sätze wie „Seine Schnürbrust soll man nicht zu eng schnüren“ und „Man kann seine Wehen beeinflussen. Niemand stillt seinen Säugling besser als die Wöchnerin selbst“ seien zwar „grammatikalisch richtige, aber inhaltlich abwegige Formulierungen“. Wenn da mal nicht Puschs Glosse Die Menstruation ist bei jedem ein bißchen anders Patin gestanden hat.

Nicht nur spielen viele derartige Passagen auf gegenwärtige Auseinandersetzungen an, heutig sind auch etliche Redewendungen. Mal wird jemand „in die Pfanne [gehauen]“, mal „[fällt]“ einem andren „die Kinnlade herunter“ und einem Dritten „geschieht“ eine Unannehmlichkeit „sowas von recht“.

Dorotheas eigene Reflexionen stellen schließlich sogar ihre Erinnerungsfähigkeit infrage. Erste Zweifel werden von ihrer weit jüngeren Halbschwester Susanna geweckt, die etwa moniert, dass Dorothea lange Gespräche in direkter Rede wiedergibt, obwohl sie Jahrzehnte zurückliegen und sie sich deshalb doch gar nicht mehr so genau an sie erinnern könne. Auch wird sie von Susanna darauf hingewiesen, dass „der neue Präfekt, den unser Vater anstelle von Kraus wollte“, keineswegs Oskar Matzerath hieß, wie Dorothea erinnert, sondern ganz anders. „Auf welche Ideen du kommst!“, schimpft Susanna ihre Halbschwester aus. Überhaupt kommt es über den Wahrheitsgehalt von Dorotheas Niederschrift zunehmend zu Streitgesprächen zwischen den beiden Schwestern, was Dorothea schließlich immer stärker an ihren Erinnerungen zweifeln lässt: „Kann ich mir selbst noch über den Weg trauen?“, fragt sie sich und ist nach einiger Zeit überzeugt, dass „nichts von dem, was ich hier aufgeschrieben habe, stimmt“. Sie habe sich „alles eingebildet“. Zuletzt aber gelangt sie zu der befreienden Erkenntnis: „Das nichts stimmt von dem, was ich hier geschrieben habe, stimmt ja nun doch nicht.“

Wie viel Wahrheit, wie viel Dichtung der Roman auch immer enthalten mag, er bietet von der ersten bis zur letzten Zeile ein ebenso unterhaltsames wie gelehrtes und kluges Lesevergnügen.

Titelbild

Angela Steidele: Aufklärung. Ein Roman.
Insel Verlag, Berlin 2022.
603 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783458643401

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