Der exorbitante Urgrund des Heroismus

Der von Markus May und Christoph Petersen herausgegebene Sammelband „Heroen – Helden“ folgt dem exorbitanten Heldenbild durch die Literaturgeschichte

Von Thomas MerklingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Merklinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Für die liberale Gegenwartsgesellschaft lässt sich als eine gewisse Paradoxie festhalten, dass sie einerseits als postheroisch gelten kann, andererseits aber eine Fülle moderner Held*innen produziert. Auf diese Simultanität von De- wie Re-Heroisierung hat bereits der Soziologe Ulrich Bröckling in seinem Essay Postheroische Helden (2020) hingewiesen: Während einerseits ehemals heroisierte Werte kritisch betrachtet werden und gar wegfallen – etwa nationalistisch-militaristische Vorstellungen von Selbstopfer –, bleibt eine Sehnsucht nach dem Heroischen weiterhin bestehen. Davon zeugen nicht nur der Boom transmedialer Superheldennarrative, sondern auch vielfältige heroische Zuschreibungen, die auf unterschiedliche gesellschaftliche Phänomene bezogen sind. Allerdings haben sich dabei inhaltliche Verschiebungen und Verallgemeinerungen eingestellt. Der moderne Heldenbegriff erfährt eine Demokratisierung, indem prinzipiell jeder zur Heldin oder zum Helden werden kann. Darüber hinaus zeigt sich auch eine Heroisierung vormals nicht heldenwürdiger Phänomene: so können der Kampf gegen eine Krankheit sowie Kinder, Tiere und Gegenstände zu Helden erhoben werden. Selbst einer als ‚postheroisch‘ gelabelten Absage an ‚heroische‘ Managementstile wird wiederum ein heroisches Moment zuteil.

Wenn der Heldenbegriff aber in ganz unterschiedlichen Kontexten auftaucht, muss er notgedrungen an inhaltlicher Kontur verlieren. So sei zu beobachten, dass es nicht nur im Alltag bei der Rede vom Heldenhaften und Heroischen, sondern auch im wissenschaftlichen Sprachgebrauch zu einer gewissen Beliebigkeit komme, der man dann entweder durch eine restriktive Definition oder eine integrative, weite Begriffsbestimmung beizukommen suche, wie Christoph Petersen in der „Einführung“ zu dem von ihm zusammen mit Markus May herausgegebenen Sammelband Heroen – Helden. Eine Geschichte der literarischen Exorbitanz von der Antike bis zur Gegenwart schreibt. Es sei daher nötig, den Begriff des ‚Helden‘ klarer zu konturieren. Zu diesem Zweck geht der Band den literarischen Ursprüngen des Heldentums in Heldensagen und der Heldenepik sowie seinen Transformationen nach. Dabei steht der von Klaus von See stammende Begriff der ‚Exorbitanz‘ im Zentrum.

Im Gegensatz zu der inzwischen dominanten Vorstellung des moralisch guten Helden, die erst in der Moderne entstanden ist, wird Heroismus in heldenepischen Texten der Vormoderne meist nicht in moralischen Kategorien gesehen. Dort wird ein Heldenbild verhandelt, das sich durch außerordentliche, exorbitante (Gewalt-)Taten auszeichnet, die gerade deshalb erinnerungswürdig sind, weil sie den sozialen Bereich des Be- und Anerkannten transgredieren. Der Held lässt sich als exorbitant charakterisieren, weil er durch sein Handeln, seine Fähigkeiten sowie teilweise durch sein Aussehen – das sich mitunter dem Monströsen annähern kann – das Normale und Normative überschreitet: Er steht damit in vieler Hinsicht außerhalb der Sphäre des Gewohnten und Gewöhnlichen, also dem sozialen Normbereich (orbis). Der exorbitante Held zeichnet sich durch kriegerische Exzeptionalität aus, ohne sich für moralische oder gemeinschaftliche Belange zu interessieren, und kämpft daher, falls überhaupt, nur zufällig für eine gute Sache.

Exorbitanz bilde damit den Kern ursprünglicher Heldenvorstellungen, wie sie in antiken und mittelalterlichen Texten ausgestaltet sind. Für das verhandelte Konzept heroischer Exorbitanz ist allerdings zu sehen, dass die schriftlichen Überlieferungen selbst bereits eine literarische Auseinandersetzung und Reflexion dieses Heldenkonzepts bieten, indem mündliche Traditionen aufgegriffen und fortgeführt werden. In „Reinform“ gibt es den exorbitanten Heldentypus wohl auch hier nicht. Es sind somit nicht nur schon heldenepische Texte der Vormoderne, sondern prinzipiell alle literarischen Texte, die in dieser Tradition stehen, epigonal, so dass der mit dem Sammelband angestoßenen Literaturgeschichte heroischer Exorbitanz die nachweltliche Perspektive auf das Heroische gemeinsam ist. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht und in Abgrenzung gegen andere Verwendungsweisen spricht Petersen hierbei von „Postheroik“.

In sechs ‚historischen Feldern‘ durchschreitet der Sammelband die literaturgeschichtliche Linie heroischer Exorbitanz von den antiken und mittelalterlichen Ursprüngen bis zu ihrem Nachklang in der Gegenwart, bevor in einem letzten Teil das Konzept des ‚guten‘ Helden als inzwischen dominant gewordene Heldenvorstellung aus der Aufklärung hergeleitet wird. Die ersten beiden Teile haben als „Wurzeln“ des Heldenbegriffs antike Heldennarrationen sowie die von germanischen Erzählungen beeinflusste mittelalterliche Heldenepik zum Gegenstand. Zeigt sich in den mündlich geprägten, vorchristlichen Texten der Antike noch ein deutlicher Bezug der Helden zu einer göttlichen Sphäre, fällt diese Beziehung in der heldenepischen Literatur des Mittelalters weg. Als Gemeinsamkeit lässt sich allerdings feststellen, dass sich die jeweiligen Helden zunächst meist nicht in den Dienst der Gemeinschaft stellen. Die kriegerische Selbstbezogenheit ist konstitutiver Teil des Heldenkonzepts und bildet den Ausgangspunkt einer literarischen Reflexion, an deren Ende auch eine mögliche soziale Integration des exorbitanten Helden stehen kann.

Diese ursprüngliche Exorbitanz des Helden findet sich sowohl im Gilgamesch-Epos bei der gleichnamigen Hauptfigur als auch beim Achill der Ilias, wie Johannes Bach und Markus Janka zeigen. Insbesondere in früheren Textüberlieferungen ist die Exorbitanz des akkadischen Krieger-Helden noch sehr deutlich. In der späteren, Standardbabylonisches Gilgamesch-Epos genannten Fassung münden die exorbitanten Taten der Titelfigur in der Wiederherstellung der von der Sintflut verschlungenen religiösen Bauten und Riten und erheben Gilgamesch zu einem Helden, der mit dem Bau der Stadtmauer den Ruhm Uruks begründet. Während den homerischen Epen durch die Verabsolutierung des individuellen Ruhms ihrer Helden eine im literarischen Sinne als ‚postheroisch‘ zu bezeichnende Krisensymptomatik zugeschrieben werden könne, überführe die Aeneis Vergils die Erinnerungskultur von der individuell gefassten heroischen Exorbitanz in eine neue Ordnung, und mache, wie Berkan Sariaydin herausstellt, stattdessen die Idee Roms zum Zentrum der memoria.

Auch für die germanischen Sagenkreise und die heldenepische Tradition des Mittelalters lässt sich ein exorbitantes Heldenbild erkennen, das insbesondere in der altnordischen Tradition stark ausgeprägt ist. An der Lieder-Edda und der Völsungen-Saga exemplifiziert zeigt sich, dass der exorbitante Held trotz weniger Gegenbeispiele dominant ist und mit anderen Figuren verbunden wird: Matthias Teichert verweist in seinem Beitrag auf Berserker-, Wikinger- und Rittertypen. Auch wenn der Held sozial eingehegt wird, bleibt er doch ambivalent, insofern ihm weiterhin exorbitante Eigenschaften beigegeben sind – Beowulf besitzt monströse Züge und ähnelt seinen Gegnern (Renate Bauer), und auch Siegfried nimmt im Nibelungenlied aufgrund seiner exorbitanten Figurenanlage eine Außenseiterposition am Hof von Worms ein (Jan-Dirk Müller). Im altfranzösischen Roland sowie im altspanischen Cid sind die exorbitanten Energien des Helden schließlich religiös aufgeladen und werden gegen das Heidentum gerichtet. Darauf geht der Beitrag Bernhard Teubers ein.

In der vormodernen Literatur stellen sich weitere Reflexionen des exorbitanten Heldentypus ein, indem er auf andere literarische Traditionen trifft, etwa biblische Narrative oder Ritterromane. Diesem Komplex geht das „3. historische Feld“ nach am Beispiel des alttestamentarischen Judith-Stoffs (Corinna Dörrich) sowie der vergil’schen Herkules-Figur (Cornelia Herberichs) und ihrer jeweiligen mittelalterlichen Transformationen. Christoph Petersen stellt schließlich die These auf, dass die Exorbitanz des Helden auf den eigentümlichen Kern der Heldenepik bezogen sei, der den Kampf als Selbstzweck des Helden sehe und auf ein spezifisches Kriegerethos zurückzuführen sei: „Heroische Exorbitanz ist nichts anderes als die Umsetzung des Eigenwertes heldenepischer Gewalt in narrative Anschaulichkeit.“ Zum Helden werde man damit nicht, weil man für etwas Gutes kämpfe, sondern weil man überhaupt kämpfe. Dieser moralisch indifferente, selbstzweckhafte Kampfgeist forme heroische Exorbitanz und wirke auch heute noch ästhetisch nach, insbesondere in filmischen Inszenierungen von Gewalt.

In einem vierten und fünften Teil schließlich geht es um den Nachhall heroischer Exorbitanz. Bevor der kriegerische Held in der Gegenwart wieder in unterschiedlichen Medienformen in Erscheinung tritt, ist er literaturgeschichtlich mit dem Ende der klassischen Heldenepik sowie einem gewandelten Heldenbegriff zunächst unter der Oberfläche verschwunden und taucht lediglich punktuell auf, etwa in der literarischen Fantastik. Das exorbitant-heroische Dispositiv manifestiert sich in der Neuzeit insbesondere in Devianz und Monstrosität, beziehungsweise ganz generell in Außenseiterfiguren. Dazu gehören etwa die maßlosen Protagonisten Christopher Marlowes oder John Miltons Satan aus Paradise Lost, dann aber auch moderne Superheldenfiguren, wie Markus May in seinem Beitrag zeigt. Hans Richard Brittnacher zeichnet nach, wie der Figur des biblischen Judas in der Neuzeit exorbitant-heroische Züge zugesprochen werden, insofern sein ‚Verrat‘ als notwendige Bedingung für die Erlösungstat Christi gelten darf, und Jana Mikota beschäftigt sich mit dem Zusammenhang von Alterität und Heroismus in der modernen Kinder- und Jugendliteratur.

Die Exorbitanz des Helden tritt im zeitgenössischen Erzählen wieder deutlicher zum Vorschein, wobei hier unterschiedliche Medienformen relevant werden: Das „5. historische[] Feld“ geht diesen „Transmediale[n] Echos des Exorbitanten in der Gegenwartskultur“ exemplarisch im Superhelden-Comic, der TV-Serie und dem Computerspiel nach. Dabei zeigt sich, dass insbesondere das „visuelle Erzählen“ den exorbitanten Helden reaktiviert. Die Möglichkeiten der enormen Macht des Superhelden werden in Paralleluniversen durchgespielt und sind ansonsten selbstauferlegten Beschränkungen unterworfen (Cord-Christian Casper). In Seriennarrationen finden sich exorbitante Heldenbilder etwa im Western und werden in Westworld oder Godless durch Gendering gebrochen (Elisabeth Bronfen), wie auch die exorbitante Seite Walter Whites in Breaking Bad immer wieder durch Brüche und Beschädigungen zurückgenommen wird, so dass Elisabeth K. Paefgen von einem „ramponierten, exorbitanten Heldentum“ sprechen kann. Robert Baumgartner weist zuletzt darauf hin, dass die auf Identifikation angelegte avatarbasierte Heldenfigur in Computerspielen eine exorbitante Ich-Erfahrung zulässt, die durch die narrative Spielgestaltung aber auch kritischer (Selbst-)Betrachtung unterworfen werden kann.

Der Genese des modernen, ‚guten Helden‘ geht Christoph Petersen in einem letzten Beitrag nach und führt ihn in einem „archäologischen Versuch“ auf das Aufklärungsdenken zurück. Die Verengung des Heroischen auf eine am Gemeinschaftswohl orientierte Vorbildlichkeit findet sich etwa bei Jean-Jacques Rousseau vorbereitet, taucht bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel auf und erfährt in Richard Wagners Lohengrin eine auf die Möglichkeit zur Identifikation abzielende Umschreibung, indem exorbitante Ambivalenzen unterdrückt werden. Die dem Helden inhärente „Asozialität“ der Exorbitanz ist in der Ausformung eines positiven, guten Heldenbildes mit Identifikationscharakter ausgeblendet, bleibt als „blinder Fleck“ allerdings weiter erhalten und muss anders erklärt werden, etwa durch externale Schuldzuweisung – im Lohengrin fällt diese Rolle Elsa zu. Indem der Heldenbegriff damit allerdings auf eine am Gemeinwohl orientierte Vorbildlichkeit zurechtgestutzt wird, verstellt er – insbesondere, wenn er dann auf heldenepische Texte zurückprojiziert wird – die ihm ursprünglich eingeschriebene moralisch indifferente, selbstzweckhafte Gewalt, denn Held ist man, wenn „man kämpft, weil der Kampf an sich, unabhängig von seinen Anlässen und Umständen, einen Wert besitzt“. Damit wären auch Formen der Heroisierung politischer Führung (Trump, Putin) differenzierter fassbar, denn die moralische Aufladung des Helden verstellt, dass dessen natürliche Staatsform eigentlich der Autoritarismus ist.

Der Blick zurück auf die narrativen Ursprünge des Heldenbegriffs und das Konzept der Exorbitanz setzen aus literaturwissenschaftlicher Perspektive Impulse, die eine interdisziplinäre Heroismus-Debatte durchaus bereichern können, indem insbesondere die inhärenten Ambivalenzen des Heroischen mit seinem auch destruktiven, normüberschreitenden Potenzial abgebildet werden. Die Perspektive der Exorbitanz nimmt dabei Aspekte in den Blick, die dem Heroischen im Anschluss an eine heldenepische Tradition zukommen und von einem positiv besetzen Heldenbild der Moderne verdeckt werden. So scheinen Anknüpfungspunkte in gegenwärtigen Narrationen intuitiv plausibel, auch wenn die Linie zur Heldenepik im Superheldenkosmos oder in Seriennarrationen nicht mehr so deutlich ist. Die Herausgeber trauen der Kategorie der Exorbitanz viel zu und zeigen, dass sie auch auf moderne Narrationen bezogen werden und zu bedenkenswerten Ergebnissen führen kann. Ob sie allerdings auch den Schlüssel für eine allgemeine Definition des Heroismus bietet, muss sich noch erweisen.

Titelbild

Markus May / Christoph Petersen (Hg.): Heroen – Helden. Eine Geschichte der literarischen Exorbitanz von der Antike bis zur Gegenwart.
Wallstein Verlag, Göttingen 2022.
432 Seiten, 39,00 EUR.
ISBN-13: 9783835353114

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