Ein Herz in Aktion

Vier Short Storys von Tillie Olsen aus dem vorigen Jahrhundert lesen sich wie beste Literatur von heute

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Titel dieser Rezension ist dem Dokumentarfilm A Heart In Action entlehnt, mit dem die feministische Regisseurin und Produzentin Ann Hershey im Jahre 2007 der amerikanischen Schriftstellerin Tillie Olsen ein Leinwanddenkmal gesetzt hat. Das Herz der in bescheidenen Verhältnissen lebenden Tillie Olsen war in Aktion, wenn sie sich trotz all ihrer familiären Pflichten die Zeit abrang, um lakonische, auf den Punkt gebrachte und in ihrer unsentimentalen Genauigkeit herzergreifende Geschichten über einfache Menschen zu schreiben. Zuvor hatte die berufstätige Mutter jede freie Minute zum Lesen genutzt, auch stehend im Bus, der sie zur Arbeit oder wieder nach Hause brachte. Ihre Schreibkunst fand trotz des schmalen Œuvres große Anerkennung und wurde mit Literaturpreisen geehrt. Die Autorin und Kritikerin Dorothy Parker stellte fest, bei Tillie Olsen sitze jedes Wort an genau der richtigen Stelle.

Ich steh hier und bügle ist der Titel des deutschen Buchs und der ersten von vier Short Storys, die in den Fünfzigerjahren des 20. Jahrhunderts entstanden und 1961 erschienen. Inhaltlich wie sprachlich in der vorzüglichen deutschen Übersetzung von Adelheid Dormagen und Jürgen Dormagen haben diese Kurzgeschichten keinen Staub angesetzt. Eine Mutter denkt beim Bügeln darüber nach, wie es zur Entfremdung von ihrer neunzehnjährigen Tochter Emily kam. Die Situation ist jedem vertraut, der in einfachen Verhältnissen aufwuchs. Eine alleinerziehende berufstätige Mutter nahm sich zwar Zeit für den Liebeskummer oder die schulischen Probleme ihrer Sprösslinge, konnte dabei aber die Hände nicht in den Schoß legen. Es wurde gekocht, aufgewaschen oder eben gebügelt.

Emily war ein schönes Baby. Die junge Mutter aber musste Geld verdienen, und so kam die Zweijährige in den Kindergarten, der nur ein Abstellplatz war. Emily erfand durchsichtige Ausreden, um nicht dorthin zu müssen. Spindeldürr und von Albträumen geplagt, kam sie in ein Erholungsheim auf dem Land. Dort wurde sie immer zerbrechlicher und durfte nach acht Monaten zurück nach Hause. Von da an entzog sie sich der Mutter und haderte mit ihrem fremdländischen Äußeren: dünn und dunkel. Für die Schule war sie nicht redegewandt und schnell genug. Sie bekam Asthma und hasste ihre kleine Schwester, die in Aussehen und Verhalten all das war, was sie selbst nicht sein konnte. Doch Emily besaß komödiantische Begabung, siegte bei einer Talentshow der Schule und trat später landesweit auf. Während die Mutter bügelt, kommt Emily nach Hause. An diesem Abend ist sie glücklich, doch die Mutter wirft sich vor, in jungen Jahren so abgelenkt gewesen zu sein, dass die Tochter vieles in ihrem Herzen begraben musste, weshalb sich ihr Talent nie voll entfalten wird. „Meine Weisheit kam zu spät.“ Diesen Satz würden nicht nur Mütter unterschreiben.

He, Seemann, wohin die Fahrt? lautet der Titel der zweiten Geschichte. Whitey – eigentlich M. Norbert Jacklebaum – heißt der Matrose, der nach Jahren wieder einmal Lenny, Helen und die Kids besucht in dem alten Haus mit dem Spitzdach. Helen, mittlerweile ergraut, fängt an zu weinen. Die Kinder sagen, Mutter sei müde und sollte lieber aufhören zu arbeiten. Whitey bekommt Eintopf und erzählt Geschichten. Angesehen war er, Vertrauensmann sogar, doch der Alkohol war stärker. Oft und laut spricht Whitey im Schlaf, und gegen Morgen fängt das Zittern an. Ein Traum bleibt seine Vision, einmal hierher zu kommen, überall Ordnung zu machen und Steaks fürs Abendessen zu braten. Gern und oft erzählt er, wie die vierjährige Jenny eines Morgens zu ihm ins Bett kroch und verkündete, sie sei jetzt mit ihm verheiratet. Er hat die Kleine angebetet, ihre Spielsachen repariert und ihr teure Geschenke gemacht. Und was muss er sich nun von dem großen Mädchen anhören? Er verschenke nur etwas, damit die Leute nett zu ihm sind und er betrunken darüber quatschen könne. Aus dem stolzen jungen Mann mit den glänzenden Augen ist ein menschliches Wrack geworden, ein Suffkopp aus der Gosse mit verfallendem Körper. Whitey trinkt seine Flasche aus und geht davon. Selbst seinen solidarischen Freunden ist er zur Last geworden.

In der dritten Geschichte, O ja, wird die Hautfarbe lebenswichtig. Die weiße zwölfjährige Carol ist mit ihrer Mutter in eine Kirche der Schwarzen gekommen, zur Taufe ihrer Freundin Parialee („Parry“) Philips. Während ein dünner Prediger im Nadelstreifenanzug über den leidgeprüften Gott spricht, erinnert sich Carol an die Grundschulzeit mit Parry, an Volleyball und Seilspringen. Dann ertönen zitternde und flatternde, später jubilierende Schreie und bringen Carol einer Ohnmacht nahe. Sie kann sich den Taufakt nicht ansehen, und Parry beschwichtigt, nur die beiden Mütter hätten gewollt, dass Carol dabei ist. Die belügt dann Parrys Mutter: nein, nichts in der Kirche habe ihr Angst gemacht. Carols Mutter Helen weint, als sie ihrem Mann vom Kirchbesuch erzählt. Und Tochter Jeannie weist darauf hin, wie rassistisch in der Mittelstufe „sortiert“ wird. Monate vergehen, die beiden Mädchen sind kaum noch zusammen. Carol erkrankt an Mumps, und als sie nach schlafloser Nacht im Radio einen Sturm von Gesangswirbeln hört, wird sie von einem Krampf gewürgt. Warum hat man in Parrys Kirche gesungen und geschrien? Ihre Mutter könnte so manches dazu sagen, lässt es aber sein. Carol bekennt, nicht mehr wirklich Parrys Freundin zu sein. Verrat und Scham regieren den Tag.

Die vierte und längste Story, Erzähl mir ein Rätsel, die der Originalausgabe der vier Geschichten den Titel gab, handelt von Eva und David, deren 47-jährige Ehe zu zerbrechen droht, als sie sich nicht mehr um andere kümmern müssen. Auf ihr beruht das Drehbuch des 1981 in den USA entstandenen Films Tell Me a Riddle (Regie: Lee Grant, dt. Liebe ein Leben lang). David, arm sein Leben lang und schwachatmig beim Laufen, möchte das Haus verkaufen und in ein Altersheim gehen. Eva will das absolut nicht, obwohl es dort einen Lesezirkel gibt. Vor Jahren wäre sie gern in einen solchen Zirkel gegangen, aber da war David nicht bereit, sich um die Kinder kümmern. Verjährte Demütigungen und Schrecken leben wieder auf: das Anschreibenlassen beim Lebensmittelhändler, das Betteln um Fleischknochen „für den Hund“. Ertaubt und halb erblindet, versinkt Eva in geschenkter Einsamkeit. David stört mit ständigem Gerede vom Hausverkauf, bis alles und jedes einen Streit auslöst. Es gibt grobe Beleidigungen – er nennt sie Mrs. Mundfaul und sie sagt ihm „Dünnschiss des Mundes“ nach. Dennoch ist die lebenslange Beziehung der beiden von inniger Vertrautheit geprägt, die zu Herzen geht. Die Kinder machen sich Sorgen, als die Mutter nach dem Sonntagsessen zusammengekrümmt auf der Couch liegt. Der Arzt vermutet eine Nierenerkrankung und verordnet eine Diät. Das Ehepaar ist trotz allem nicht willens, Frieden zu schließen. David findet einen Käufer fürs Haus. Für ihn sei das Heim gut, für sie nicht, sagt Eva; sie könne nicht mehr unter Menschen leben. Dann muss sie operiert werden, der Krebs ist überall. Man sagt ihr nicht, dass sie bestenfalls noch ein Jahr hat. David meint, er sei kein Schauspieler, und sie werde die Wahrheit an seinem Verhalten erkennen. Tatsächlich liest sie in seinem verzerrten Gesicht die Angst um sie und weiß, dass sie am Sterben ist. Einmal fegt sie die Pillen vom Nachttisch und lacht, als er sie mühsam aufliest. Doch in der Nacht streckt sie die Hand über das Bett, um seine zu halten. Zwar nennt sie ihn Feigling, Wegläufer, Schwächling und Verräter, doch die Tochter tröstet: sie brauche ihn, und das nenne man Liebe. David sagt, Eva habe das ganze Leben gearbeitet und nun sei auch das Sterben harte Arbeit. Wehmütig erinnert er sich an das wortgewandte Mädchen, das ihrer beider heiligste Träume aussprach. Am letzten Tag hält er Evas Todeskampf nicht aus und verlässt das Zimmer. Jeannie holt ihn zurück, damit er ihrem armen Körper hilft zu sterben.

Die vier Geschichten fügen sich quasi zu einem Roman, wenn man erkennt, dass nicht jedes Mal neue Personen auftreten. Diese Menschen werden mit ihren Stärken, Schwächen und Eigenheiten so genau gezeichnet, dass Mitgefühl mit anderen ebenso deutlich wird wie dessen Grenzen. Tillie Olsen idealisiert nicht, aber sie verurteilt auch nicht. Dies und noch viel mehr kann man dem ungemein lesenswerten Nachwort von Jürgen Dormagen entnehmen. Eine Leseprobe aus Was fehlt bringt weitere Aufschlüsse über die Autorin Tillie Olsen.

Titelbild

Tillie Olsen: Ich steh hier und bügle. Storys.
Aus dem Amerikanischen von Adelheid Dormagen und Jürgen Dormagen.
Aufbau Verlag, Berlin 2022.
144 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783351039820

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