Ein einzigartiges Schicksal unter Millionen arabischer Frauen

Sahar Mandûr beschreibt in „Ein Mädchen Namens Wien“ ein weibliches Leben im Libanon

Von Stefanie SteibleRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie Steible

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zunächst unscheinbar, aber im Verlauf der Erzählung große Kraft entwickelnd, kommt die Geschichte des Mädchens Wien daher. Eine Geschichte, wie sie für Millionen von Mädchen in der arabischen Welt beginnt – mit einer arrangierten Ehe, in der Wien sich zu einer jungen Frau entwickelt. In diesem Prozess bemerkt sie schnell, dass sie in dieser Welt nicht glücklich wird, wenn sie nicht ihren eigenen Weg geht.

Unterstützt von ihrem Bruder, den sie ihrerseits ebenfalls mit allem, was sie zu geben hat, gegen den Familienwillen verteidigt, um schließlich seinerseits ein Verheiratet werden mit einer Cousine oder einem anderen der Familie als passend erscheinenden Mädchen zu verhindern, entscheidet sie sich gegen den Willen des heimischen Nestes für ein Philosophiestudium. Mit starken Argumenten erkämpft sie sich den finanziellen Support der Familie für ihren Weg: „Ihr habt mich in diese Welt gesetzt, jetzt müsst ihr auch für mich aufkommen… Eure Kinder gehören nicht euch, sie gehören dem Leben.“ Doch auch hier findet sie nicht auf alle ihre Fragen an das Leben eine Antwort. Verstanden fühlt sie sich und ihren Humor nach wie vor nur von ihrem Bruder.

Währenddessen realisiert ihr Ehemann im Laufe der Zeit Wiens und sein eigenes Unglück. Da er ein weniger starker Charakter ist beziehungsweise damit nicht umgehen kann, weiß er irgendwann keinen Ausweg mehr für die Kinderlosigkeit der Ehe und viele andere, von außen kritisierte Gegebenheiten innerhalb seiner arrangierten Zweckgemeinschaft mit Wien und begeht Selbstmord.

Auf der Suche nach ihrem Platz im Leben schließt sich die erwachsene Wien nun einer Gruppe frommer Frauen an, deren Fanatismus sie zunächst fasziniert, im Laufe der Zeit aber immer mehr abstößt. So stellt sie Fragen, die innerhalb der Gruppe bisher niemand gefragt hat, zweifelt Inhalte des Korans an und Handlungen, die vermeintlich unter dem Mantel der Gläubigkeit geschehen. Bestechend ist dabei ihre klare Sprache, mit der sie ihrem Gegenüber argumentativ begegnet. Als „hirnloses Gewäsch“ bezeichnet sie da ein über die Straße gespanntes Transparent mit einem Koranvers und startet den direkten Angriff gegen die Religionsgelehrte der Gruppe, die sie als „Bord des Segen“ und „Brunnen, an dem man seinen Durst lösche“ bezeichnet. Die Antwort der Schwester ist, dass Wien ein neuer Name verliehen wird und sie fortan ein Kopftuch tragen soll.

Als inzwischen erfolgreiche Fernsehmoderatorin versucht sie anschließend ihr Glück in Paris, findet dort aber ebenfalls keine Freiheit, obwohl die Rahmenbedingungen andere sind. Sie erkennt ihren Lebenszweck in der Berichterstattung an ihren Bruder, wird aber gleichzeitig mit einer ärztlichen Diagnose konfrontiert, die sie dazu zwingt, sich von ihrem Bruder in ihrer Entscheidung endgültig zu autonomisieren.

Am Ende bleibt eine 52-jährige Frau, deren Lebensweg noch nicht zu Ende zu sein scheint, weil sie den Sinn darin für sich selbst immer noch nicht endgültig gefunden hat. Das bedrückt, aber die Autorin lässt damit auch die Frage unbeantwortet, ob das denn überhaupt nötig ist, oder das Leben vielmehr darin besteht, neugierig zu bleiben, Fragen zu stellen, Antworten zu erhalten oder weiterzusuchen.

Eine starke Geschichte hat die libaneische Autorin Sahar Mandûr hier niedergeschrieben, die viele prägnante Dialoge enthält, schneller voranschreitet als erwartet und nicht nur daraus, sondern auch aus der Stärke ihrer Protagonistin, einen bleibenden Eindruck schafft. Die Erzählung ist aus kulturellen, feministischen, aber auch philosophischen Aspekten heraus interessant gestaltet und lebt von ihrem natürlichen Fortlauf. Und von der Erkenntnis, dass auch der Versuch, neue Türen zu öffnen, dazu führen kann, dass diese verschlossen bleiben.

Titelbild

Sahar Mandur: Ein Mädchen namens Wien. Ein Frauenleben.
Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich.
editionfaust, Frankfurt a. M. 2022.
96 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783949774058

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