Wie funktioniert eigentlich kollektive Erinnerung und mit welchem Nutzen?

Die Historikerin Désirée Hilscher rekonstruiert in „Den Helden geschaffen. Fritz Bauers Rückkehr ins kollektive Gedächtnis“ die Entstehung einer modernen Heldengeschichte

Von Nora EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wozu brauchen wir Held:innen? Und was macht Menschen zu Held:innen? Dass sie Drachen töten? Unbesiegbar sind? Leben retten und Gefahren abwenden? Übermenschliches leisten? Klar, Held:innen leisten immer etwas mehr als der Rest der Menschen – sie sind klüger, schneller, mutiger oder was auch immer. Sie sind einfach immer da, wo sie gebraucht werden (hoffentlich). Sie stehen auf Siegerpodesten und im Rampenlicht, Ehrung wie Verehrung ist ihnen sicher.

In Bertolt Brechts Schauspiel Leben des Galilei gibt es eine berühmte Antwort, die als Klassiker unserem Zitatenschatz einverleibt wurde. Andrea Sarti, der Schüler Galileis, meint: „Unglücklich das Land, das keine Helden hat.“ Worauf der Lehrer antwortet, nachdem er gerade seine Erkenntnis widerrufen hat, die Erde drehe sich um die Sonne: „Nein, unglücklich das Land, das Helden nötig hat.“ Hier geht es um die Wahrheit und ihre Verteidigung und auch um die Angst vor einer Macht, die von der Wahrheit nichts wissen will und sie als Bedrohung bekämpft. Wer hat nun recht? Nach der Lektüre von Désirée Hilschers Buch über die Rezeptionsgeschichte des Juristen Fritz Bauer und seiner Inthronisierung als Held würde ich meinen: beide haben recht, Sarti und Galilei. Wie das?

Ganz einfach: Wir brauchen Vorbilder, mit denen wir uns identifizieren können. Ein Unglück wäre es, keine zu besitzen. Aber dass wir sie brauchen, klingt wiederum nicht allzu vorteilhaft für ein menschliches Gemeinwesen, das aus sich selbst heraus offenbar nicht so gut und mutig sein kann wie der vorbildliche Held. Aber das ist vielleicht doch wieder zu einfach gedacht. Wie war das nun bei Fritz Bauer?

Geboren wurde er 1903 in Stuttgart, studierte Jura, war Mitglied der SPD und emigrierte als Jude 1936 zuerst nach Dänemark und später nach Schweden, wo er mit Willy Brandt zusammenarbeitete. Er kehrte ins Nachkriegsdeutschland zurück, arbeitete zunächst in Braunschweig, wechselte nach Frankfurt am Main, wo er von 1956 bis zu seinem Tod 1968 Generalstaatsanwalt in Hessen war. Sein Name ist eng verbunden mit der Entdeckung und Entführung von Adolf Eichmann, der positiven Neubewertung des deutschen Widerstands vom 20. Juli, den er vom Stigma des Landesverrats durch den berühmten Remer-Prozess von 1952 befreite, und schließlich mit den Auschwitzprozessen in Frankfurt/Main, die während der zwei Jahre Prozessdauer die unfassbaren Verbrechen in den Vernichtungslagern ins Bewusstsein der Öffentlichkeit brachten.

Als er 1968 verstarb erinnerte ihn das Ausland in den Nachrufen anders als die deutschen Medien, wie uns Hilscher in ihrer Studie wissen lässt. Wofür wir ihn heute vor allem erinnern, spielte damals kaum eine Rolle, nämlich die Aufarbeitung der NS-Verbrechen. Im Vordergrund standen vielmehr der Reformer und sein Einsatz für einen „humanes Strafrecht“; er galt zudem als der „Radikale“ und „unbequeme Jurist“. Im Ausland hingegen war er der „Nazi-Jäger“. So titelte beispielsweise die New York Times vom 2. Juli 1968 „Dr. Fritz Bauer prosecuted Nazis. German Hunter of War Criminals is Dead at 64“. Hilscher stellt jedoch fest, dass seine reformerischen Bemühungen später nicht als Erinnerungsmotiv taugen. „Die Dominanz der illiberalen Gesellschaft ist verloren gegangen.“ Tatsächlich hatte sich seit der 68er Bewegung und der sozialliberalen Koalition von SPD und FDP eine Fundamentalliberalisierung des Alltagslebens durchgesetzt.

Fritz Bauer geriet so für Jahrzehnte mehr oder weniger in Vergessenheit und tauchte in dem Moment in Erinnerungsinitiativen und -produktionen wieder auf, als es zu „einer Neuausrichtung der identitätsstiftenden Vergangenheitserzählung als Fortschrittsgeschichte“ kommt. Die Erinnerungen rücken verstärkt den Holocaust ins Zentrum. Ihn zu erinnern, bedeute, so Hilscher, „sich zu Menschenrechten zu bekennen“. Man beweise dadurch moralische Reife.

Ab 2010 setzt ein regelrechter Bauer-Boom ein, den die Autorin akribisch rekonstruiert mit allen medialen Ereignissen, angefangen bei Dokumentationen fürs Fernsehen bis zu Spielfilmen, von der Publizistik mit der von Ronen Steinke verfassten Biografie „Fritz Bauer oder Auschwitz vor Gericht“, die Hilscher als „die wirkmächtigste Erinnerungsproduktion“ bezeichnet, bis hin zu zahlreichen Um- und Neubenennungen von Straßen und Plätzen, komplettiert durch Veranstaltungen und dokumentarischen Ausstellungen. Besondere Erwähnung findet der Kinofilm Der Staat gegen Fritz Bauer von 2015, der auch Beachtung und Anerkennung im Ausland fand. Die New York Times nannte den Film von Anfang bis Ende fesselnd:„A historical drama that radiates suspense“.

Der Holocaust-Bezug spielt also in dem Wiedererinnern eine wesentliche Rolle. Doch gehört noch ein wenig mehr zu einer erfolgreichen Heldengeschichte, wie uns Hilscher erklärt, obschon die Lebensleistung Fritz Bauers an sich ein gewaltiger und nicht zu unterschätzender Beitrag war zu dem, was wir ein wenig euphemistisch „Vergangenheitsbewältigung“ nennen. Was aber waren die weiteren Elemente dieser Heldengeschichte?

Zufall sei in dieser Geschichte auszuschließen, denn Fritz Bauer wurde sozusagen „gebraucht“ als „Orientierung auf das Gute“, der man sich kaum entziehen, sondern nur befürworten könne. So gesehen ist eine Heldengeschichte nicht uneigennützig. Im Gegenteil, sie wertet diejenigen, die den Helden brauchen als fortschrittlich auf und hilft zugleich, die Geschichte gewissermaßen abzuschließen. Als die weiteren Elemente der „Nutzbarmachung“ erkennt Hilscher Bauers jüdische Herkunft und Homosexualität: „Erst mit der Zuordnung zu diskriminierten Gruppen und den Opfern der NS-Vernichtungspolitik wird er ab 2013 als Objekt der Erinnerung begreiflich.“ Erst durch diese biografische Konstellation rundet sich also das Bild vom Helden und stellt einen für die kollektive Erinnerung bedeutsamen, weil anschlussfähigen lebensweltlichen Bezug her.

Hilschers Studie ist ursprünglich als Masterabschlussarbeit entstanden und wurde für die Publikation überarbeitet. Ob für die Veröffentlichung allerdings all die wissenschaftlichen Präliminarien über Forschungsfrage und -stand, Theorien und Konzepte, Methodik und Quellen abgearbeitet werden mussten, darf man wohl bezweifeln. Ein kurzes Vorwort hätte stattdessen sicherlich genügt. Am Ende geht es ja um die richtigen Fragen und die spannenden Antworten, wie es beispielsweise dazu komme, „dass die Erinnerung an eine bereits vergessene Person für Informationsmedien wieder verbreitungsattraktiv wird“. Die Vergangenheit, die wir nicht loswerden, war jedenfalls nicht der Grund für den Bauer-Boom, so Hilscher, dazu brauchte es – wie schon erwähnt – noch die jüdische Herkunft und die Homosexualität. Am Ende gibt es eine Art Nutzenrechnung der Erinnerung und die resümiert Hilscher so:

Weil die Gesellschaft, der global nach wie vor die nationalsozialistische Diktatur und deren Verbrechen zugeschrieben werden, noch deutlicher als früher anzeigen möchte, dass sie die vergangenen Taten verurteilt und sich ihre kulturellen Orientierungen geändert haben und damit noch mehr Ferne zur NS-Zeit besteht.

Und trotzdem, Fritz Bauer bedeutete ein unschätzbares Glück für unser Land, ob wir ihn als Helden verehren oder nicht – und genau das empfand ich, als ich an jenem Oktobertag 2015 aus dem Kino kam, wo ich gerade Der Staat gegen Fritz Bauer gesehen hatte, um noch ganz benommen genau dieses Glück zu empfinden, denn die Welt wird dadurch zwar nicht besser, aber erträglicher.

Titelbild

Desirée Hilscher: Den Helden geschaffen. Fritz Bauers Rückkehr ins kollektive Gedächtnis.
Wallstein Verlag, Göttingen 2022.
176 Seiten , 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783835353190

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