Bei Anruf Mord und andere schlimme Geschehnisse

Über Sacha Naspinis bitterbösen und schwarzhumorigen Dialogroman „Nives“

Von Martin GaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Gaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es treten auf (oder werden erwähnt):
Anteo Cillerai: Bauer, der auf der ersten Seite des Buches unglücklich verstirbt
Nives Cillerai: seine Frau, jetzt Witwe
Laura: die Tochter, die mit Mann und Kindern in Frankreich lebt und die nun verwitwete Mutter immer wieder drängt, zu ihr und ihrer Familie zu ziehen
Loriano Bottai: der Tierarzt für die Region
Donatella: seine Frau
Amedeo: ihr Sohn
Rosaltea (auch: Rosa): unglückliche junge Frau, die vor langer Zeit vom Kirchturm stürzte
Renato Pagliuchi: größter Frauenbeglücker der Gegend und verhinderter Künstler
Bardo: sein in einem Alten- und Pflegeheim vor sich hin dämmernder Vater
Giacomina: ein Huhn
Ort der Handlung: Poggio Corbello, Region Grosseto, Toskana

Als der toskanische Bauer Anteo Cillerai morgens nicht wieder zurück ins Haus kommt, macht sich seine Frau Nives Sorgen, geht nach ihm sehen und findet ihn tot im Futtertrog. Die anschließenden Trauerfeiern samt mehrmaliger Drängeleien ihrer Tochter lässt die robust wirkende Nives über sich ergehen, räumt danach Haus und Hof wieder auf und begibt sich an die Arbeit. Doch Anteos Fehlen wird ihr schnell und durchaus schmerzlich bewusst: „Keine Sau war da, um zu sagen: ‚Was für eine Hitze‘, einfach so, um ein paar Worte zu wechseln. Was auch hieß: Ich seh dich, du existierst.“

In Erinnerung an ihre Mutter, die in schwerer Zeit ein Heimchen in ihr Haus holte und fortan mit ihm sprach, sucht sich Nives ein Huhn, das sie zu ihrer Mitbewohnerin und zu einem Anteo-Ersatz macht: Giacomina. Das geht soweit, dass Frau und Huhn gemeinsam fernsehen und dann passiert es: in der Waschmittelwerbung wird eine sich immer schneller drehende Waschmaschine gezeigt, zu viel für Giacomina, die ab diesem Moment wie versteinert ist, sich nicht mehr bewegt und von Nives, einer Statue gleich, herumgetragen und abgestellt werden kann. Hatte sie gerade ein Wesen zu ihrer Gefährtin erkoren, schon ist es wieder vorbei mit dem Glück. Doch die zähe und kluge Frau weiß sich zu helfen, weswegen sie spät am Abend den Tierarzt für die Region, Loriano Bottai, anruft, um ihm die Situation zu schildern und ihn um Rat und Hilfe zu bitten.

Bottai, der seit vielen Jahren große Mengen Wein und Grappa konsumiert, muss von seiner Frau zum Telefon geschleppt werden, wo er sich in den kommenden Stunden (ja, Stunden!) Vieles anhören muss. Was auf den folgenden 130 Seiten ausgeplaudert und diskutiert wird, lässt Poggio Corbello wie einen Sündenpfuhl erscheinen. Sacha Naspini lässt Nives anfangs noch ganz ruhig berichten, wie sich das arme Huhn Giacomina verändert  und welche Maßnahmen sie ergriffen hat, Bottai seinerseits versucht, noch nicht ganz wach und nüchtern, eine telefonische Diagnose zu stellen und ein paar lahme Vorschläge zu machen. Insgeheim vermutet er, die verwitwete Nives ist wohl etwas wunderlich geworden, doch da täuscht er sich.

Nach dem ersten Geplänkel kommt die Sprache auf Renato Pagliuchi, der über den Bottais im Haus wohnt. Besagter Pagliuchi war wohl über lange Jahre und Jahrzehnte ein von den Mädchen und Frauen der Gegend geradezu angebeteter Mann mit ganz besonderen Fähigkeiten und Talenten. Als Bottai erfährt, dass auch seine Frau, die mittlerweile laut schnarchend im Bett liegt, vor langer Zeit eines der ungezählten Opfer der potenten Gier des Renato Pagliuchi war, überlegt er, ob er nicht noch mehr trinken soll. Und Nives kramt weiter in den alten Geschichten und kommt so zu einer Episode, die niemand aus Poggio Corbello und dem Umland kalt gelassen hat: der Tod der unglücklichen Rosaltea, die eines Morgens vom Kirchturm auf den Marktplatz fiel. Alle Welt reimte sich zusammen, warum das arme Geschöpf sich damals das Leben nahm, doch Nives tischt ihrem unfreiwilligen Zuhörer eine ganz andere Variante auf, macht aus dem schlimmen Ereignis von einst eine Detektivgeschichte und präsentiert dem verdatterten Tierarzt mögliche neue Verdächtige samt Motiv. Und ein bisschen ist es wie in Tausendundeiner Nacht, denn Bottai, der immer mehr von den Gewissheiten und Sicherheiten seines über siebzig Jahre währenden Lebens ins Wanken zu geraten spürt, möchte dieser dunklen Suada ein ums andere Mal ein Ende bereiten, Nives das Wort abschneiden und den Hörer auflegen.

Doch dann zieht sie ein neues As aus dem Ärmel, wirft ihm ein Bröckchen hin, das seine Neugier erneut entfacht und das Gespräch geht in die nächste Runde. In einer dieser Runden, die die Leser:innen dieses schmalen Buches fassungslos und mit offenem Mund zurücklassen, wird von einem Kind erzählt, das heute – längst erwachsen – nicht weiß, wer sein leiblicher Vater ist. Und damit nicht genug, wird in aller Ausführlichkeit dargelegt, wie eben dieses Mädchen sich als Jugendliche in einen Gleichaltrigen verliebte, der – man ahnt schon so etwas – ihr Halbbruder ist. Und damit es nicht zu einem „Monster für die Krüppelanstalt“ kommt, werden die äußerst verlässlichen Dienste des bereits genannten Renato Pagliuchi angefordert, eine wahrhaft wilde Episode. Und so geht es weiter in dieser Achterbahn der Enthüllungen und Geständnisse –  enttäuschte Liebe, sitzengelassene Schwangere, ein ermordeter Künstler, der prächtige nackte Christusbilder malte und dafür ein ganz reales Modell hatte. Nives ist ein Roman wie ein Wolf im Schafspelz; wer sich das unschuldige Umschlagbild ansieht, kann an Heidi denken, doch schon nach wenigen Seiten wird klar, dass der Autor keine brave Idylle beschreiben, keine pittoresken Dorfbewohner mit ihren harmlosen Ritualen darstellen will.

Oh nein, Sacha Naspini, hat  mit seinem Telefonroman einen heftigen Schlagabtausch zwischen den Geschlechtern inszeniert, hat den Deckel gelüpft, um in einen Sumpf aus Schuld, Lüge und Gewalt blicken zu lassen. Seine Sprache ist präzise, derb und manchmal obszön, sein Humor abgründig. Nives ist ein gleichermaßen unterhaltsam-komödiantisches wie auch ein tragisch-verstörendes Buch, ein kurzer Roman, der einen ob seines Tempos, seines Rhythmus‘ und seiner unglaublichen Offenbarungen zwingt, ihn zu Ende zu lesen.

Titelbild

Sacha Naspini: Nives.
Aus dem Italienischen von Walter Kögler.
Kein & Aber Verlag, Zürich 2022.
158 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783036958910

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