Ein Schiff wird kommen

In ihrem Roman „Unsterblich sind nur die anderen“ schickt Simone Buchholz zwei Frauen in Richtung Unsterblichkeit

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im November 2014 machen sich zwei Frauen auf, um ihre seit einer Schiffsreise vor fünf Wochen vermissten Freunde zu suchen. Malin und Iva begeben sich auf einen fünftägigen Nordatlantiktrip. Von Hirtshals im norddänischen Jütland fährt die MS ‚Rjúkandi‘ zunächst entlang der norwegischen Küste, bis sie auf der Höhe von Stavanger in Richtung Nordwesten auf die offene Nordsee abbiegt. Nachdem sie die Shetland-Inseln hinter sich gelassen hat, führt sie ihre Route weiter nach Torshavn, die Hauptstadt der Färöer, und schließlich von hier aus bis Seydisfjördur an Islands Ostküste.

Irgendwo auf dieser Strecke müssen Tarik, der Reporter, Flavio, der Anästhesist, und Mo, der Ex-Basketballer, Malins und Ivas Freunde, verlorengegangen sein. Deshalb folgen ihnen die beiden Frauen, die es beunruhigt, dass sie von den Männern nichts mehr hören, nun mit demselben Fährschiff und auf der gleichen Route. Schon bald merken sie, dass sie in ein Abenteuer geraten sind, das ihr bisheriges Leben in Frage stellt und dem, was noch vor ihnen liegt, eine ganz neue Richtung geben könnte.

Denn irgendetwas stimmt nicht auf der MS ‚Rjúkandi‘. Die Crew kommt daher als ein „Feld perfekter Leute“, jung, geschmeidig und mit glänzenden Haaren, als ob sie alle „den gleichen Conditioner benutzten“. Nicht einer tanzt aus der Reihe. Der Kapitän, Richard William Jones, scheint direkt einem Wikinger-Roman entsprungen: „ein Typ, den man sofort wahrnahm, wenn er in einem Raum auftauchte“, cool und zugleich verletzlich wirkend, mit einem durchdringenden Blick, „stabil, doch vom Leben verdroschen“. Und schließlich Sheila, die Barfrau des mondänen Schiffsrestaurants – ohne eine Bar wäre ein Roman von Simone Buchholz kein Roman von Simone Buchholz – , Abend für Abend nonchalant mit den Insignien ihres Jobs jonglierend, während sie wie ein Chamäleon ständig ihr Aussehen wechselt, mal mit grünen Augen hinter dem Tresen steht, mal mit „goldbraunen Locken“, die im nächsten Moment schon schwarz erscheinen können, den Kapitän beim Tanz umgarnt.

Als dann gar noch eines Abends die drei verschwundenen Männer, wie aus dem Nichts auftauchend, vor ihren Freundinnen stehen, Enddreißiger, die plötzlich wirken wie zehn Jahre jünger, die Haut glatt, die silbergrauen Strähnen aus den Haaren verschwunden – „Alle drei schienen eine bessere, in einer heimlichen Werkstatt reparierte Version ihrer selbst zu sein.“ – ;und mit fadenscheinigen Ausreden ihr Verschwinden zu erklären versuchen, öffnen sich vor Iva und Malin plötzlich zwei Wege.

Denn Tarik, Flavio und Mo scheinen gar nicht unglücklich darüber zu sein, dass sie aus der Zeit gefallen und Gefangene dieses Schiffes geworden sind. Von einem Moment auf den anderen in ein Parallelleben gerutscht, eines ohne Probleme, ohne Schmerzen, ohne Druck und ohne Furcht vor dem Ende, erwarten sie von den beiden Frauen offensichtlich, dass sie sich ihnen anschließen auf ihrer ewigen Fahrt auf einem der Zeit und allen menschlichen Problemen weit entrückten Geisterschiff.

Aber sollten Malin und Iva nicht eher zusehen, der Versuchung, so stark sie auch ist, zu widerstehen? Sollten sie sich nicht so schnell wie möglich wieder von dem Zauber lösen und zurückkehren in ihr altes Leben? Allein eine Flucht von dieser Oase ewigen Glücks scheint gar nicht so leicht umsetzbar. Denn immer, wenn man das Schiff in einer Hafenstadt verlassen will, ist da ein magischer Sog zu spüren, dem sich kaum entkommen lässt. Und auch mit einem kühnen Sprung über Bord ist es nicht getan. Denn geheimnisvolle Kräfte scheinen sie stets wieder an Deck zurückzuholen.

Mit der Hamburger Anwältin Chastity Riley hat Simone Buchholz vor fast 15 Jahren eine Figur erfunden, wie sie die deutschsprachige Kriminalliteratur kein zweites Mal besitzt. Die trinkfeste, unkonventionelle und beileibe nicht bei allen beliebte Kiezanwältin mit schottischen Wurzeln, Dauerkarte für den FC St. Pauli und einem Freundeskreis, der vom Kriminalkommissar bis zum Hausbesetzer reicht, verabschiedete sich nach zehn Abenteuern 2021. Fortan durfte man gespannt sein, was danach kommen würde.

Doch das erste Buch nach Abschluss der Chastity-Riley-Reihe unterscheidet sich gar nicht so sehr von seinen Vorgängern. Natürlich ist Unsterblich sind nur die anderen kein Kriminalroman im klassischen Sinne mehr, auch wenn an seinem Anfang die Suche nach drei Verschwundenen steht. Allein die stilistische Experimentierfreudigkeit, die schon ihre letzten Bücher kennzeichnete, hat Simone Buchholz nicht nur beibehalten, sondern sogar noch ausgebaut. Verband sie in River Clyde (2021), dem Roman, mit dem sich Chastity Riley Richtung Schottland verabschiedete, mythische Passagen und lyrische Einsprengsel mit einer spannungsgeladenen Gegenwartshandlung, so haben jetzt die Meeresgöttinnen Ahurani, Anahita, Lí Ban und Co. ein ganzes Schiff unter ihre Kontrolle gebracht. Sogar ein kleines dreiaktiges Dramolett hat die Autorin noch in ihr Buch eingeschmuggelt. Und in einer Rahmenhandlung, in der die fantastischen Elemente der Binnenerzählung nicht zuletzt ihre Erdung erfahren, taucht sie selbst als Figur in ihrer Romanwelt auf.

Aber ist das Paradies der Unsterblichkeit, das die Menschen an Bord einer seit Jahrzehnten ihre immer gleichen Bahnen ziehenden Nordatlantikfähre erwartet, tatsächlich so erstrebenswert? Das ist wohl die Grundfrage, die nicht nur sämtliche Figuren des Romans, sondern auch seine Verfasserin umtreibt. Ewiges Leben im Immergleichen, so glänzend und sorgenfrei sich das auch gestalten mag, oder Vertrauen in aufeinander folgende und letztlich auch auf einen finalen Punkt hinsteuernde Augenblicke? Es ist eine faustische Frage, die Unsterblich sind nur die anderen aufwirft. Und sie wird letzten Endes auch auf faustische Art beantwortet.

Titelbild

Simone Buchholz: Unsterblich sind nur die anderen. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022.
265 Seiten, 18 EUR.
ISBN-13: 9783518472767

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