Alltagsphilosophie in Versen

Wolfgang Weigand sinniert in „Unentwegt“ über Lust, Liebe und das Leben

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zu dem traditionellen Schulwissen der Deutschstunden dieses Lebens gehört, dass in der Dichtkunst existenzielle Phänomene wie Liebe, Leid und Tod wesenhaft erkundet und lyrisch vorgestellt werden. Das Vergängliche, wie in Goethes Faust, der Tragödie zweiter Teil am Schluss deklamiert, erscheint als, ja ist ein Gleichnis – und lebensnah, rauschhaft betört sowie absichtsvoll metaphorisch muten Wolfgang Weigands an, mitunter aber nicht minder gravitätisch und gelegentlich auch kitschig.

Im „Prolog“ sogleich setzt Weigand seine Gedichte dem „Zynismus der Weltverächter“ entgegen, was ehrenwert und löblich ist, ebenso dem „angstvollen Geschrei der Fanatiker“. Wenn sich nur „ein Grashalm“ aufrichte „bei meinen Gedichten“, so „blühen / meine Worte /zwischen Mohn / und Kornblumen“. Diese Worte zum Auftakt wirken weitaus weniger unbescheiden als vermutet, wenngleich die Hoffnung, die der Dichter artikuliert, menschlich verständlich ist. Natürlich ziehen Leserinnen und Leser jedes klangvolle Gedicht der Hetzrede eines Ideologen vor, doch muss ein Gedicht sogleich platziert werden gegen sarkastische Zeitgenossen und schlicht enervierende Redner aller extremistischen Parteien und Verbände? Ein Gedicht darf sanft sein, liebevoll, schwebend, auch humorvoll und feinsinnig, doch wer sich zugleich – wie Weigand – zu den besten Absichten bekennt, ruft auch Skepsis hervor. Nicht eine neue humanistische Poesie der guten Menschen wird erwartet, sondern schlicht und einfach Lyrik, also Dichtung, die nicht mehr ist und sein soll als Dichtung. Ein weiteres Beispiel, „Gesang“ betitelt, gilt Liebesweisen:

Liebe heißt
immer wieder
Bäche überschreiten
Landschaften erkunden
und Menschen erspüren.

 …

Singen,
dass wir
im Lieben
leben
und im Leben
lieben.

Wem diese Liebesmelodie zu feierlich erscheint, wird verblüfft sehr viel später entdecken, dass Weigand in einem Gedicht, das er „Erotik“ nennt, eine Reihe spröder und abgeschmackter Wendungen aufführt – wie „rattenscharf zum / Anbeißen sein“ –, um sodann erdnah die „vielen Worte“ für Liebesakte ganz kurz fasst: „Sag doch einfach: / Ficken.“ Er schreibt das Wort freimütig, und es klingt auch hier so weder liebevoll noch sympathisch. Der nachgestellte Vers – „Guten Appetit!“ – mag ironisch gemeint sein, mitnichten aber liebenswert. Wer sich nach dem anderen sehnsüchtig verzehrt, muss das Liebesspiel nicht fürchten, darf die Liebe aber auch Liebe sein lassen, nicht reduziert auf eine hedonistische Körperlichkeit. Erotisch also ist dieses Gedicht über „Erotik“ gewiss nicht, eher ein wenig bieder. Der studierte Theologe Weigand denkt auch über die Ehe nach:

Wer
aus der Ehe
ausbricht,
möchte nicht unbedingt
in die Freiheit,
sondern in die
Lebendigkeit.

So schildert der Dichter die Fesseln der Institution, wirbt um Sympathie für Aus- und Aufbrüche, und negiert lyrisch rigide und restriktive Moralvorstellungen. Hier erscheint die Ehe als Käfig oder als Gefängnis, als eine Wüstenei des Nicht- oder Missverstehens. Dass Menschen sich auseinander lieben oder entzweit in der Zweisamkeit verharren, ist bekannt, und Wolfgang Weigand sucht nach Motiven, die geeignet sind, um diese Ausbrüche verstehen zu können. Der Dichter urteilt nicht, er erzählt von Begebnissen und Geschehnissen, aufgrund der „Maßstäbe“ der Ehepartner, die manchmal „recht verschiedene / Eichungen“ aufweisen. Darüber lässt sich gewiss nachdenken – und natürlich auch dichten. Andere, treffende lyrische Beobachtungen folgen über zwei Menschen, die sich einander schon lange entfremdet haben:

Und jetzt
liegen wir ungereimt
nebeneinander
und können es kaum fassen
dass wir uns so reimlos
geworden sind.

Diese gegenseitige Ratlosigkeit weiß Wolfgang Weigand sprachlich gut zu fassen. Sie sind einander „reimlos“ geworden, nichts passt mehr zueinander, darum sind sie fassungslos, dass sie sich dem Liebesspiel zuvor trotzdem hingegeben hatten. Warum nur? Vielleicht, so mag die eine oder der andere erwägen, ist noch nicht alles zwischen ihnen erloschen? Diese Liebesgeschichte muss noch nicht zu Ende sein.

Weigands Sprache hat ihre eigenen Farben, auch religiöse, die nun säkular poetisch verwendet werden, so im „Geduldsspiel“:

Ich habe
alles für dich gegeben
ließ dich
begleiten
von Himmelsströmen
überflutete dich
mit Segen.

Und habe mich
dabei vergessen
ließ mich treiben
von der gnadenlosen Sonne
bis ich ausgetrocknet war
ohne Ideen.

Jetzt muss ich
noch einmal
innehalten
und säen
und Geduld haben
bis wieder
etwas wächst
in meiner Wüste
ohne dich.

Von „Segen“ also ist die Rede, von „Himmelsströmen“, und zugleich von einem Sämann, der allerdings nicht für andere zu säen beginnt, sondern die biblischen Gleichnisse ins Persönliche wendet – dieser Sämann sät für sich selbst, trauert noch, aber ob zweifelt, ob „in meiner Wüste / ohne dich“ bald etwas Neues wächst und erblüht. Die Rückschau offenbart auch den Preis der Hingabe und Leidenschaft, das lyrische Ich hat sich selbst vergessen, als es liebte und „alles“ gegeben hatte. Weniger freundlich formuliert könnte gedacht werden: Jammert dieses Ich möglicherweise zu sehr? Gewiss aber gibt es Formen einer Leidenschaft, die alles vergeudet und verschwendet, so dass nichts mehr bleibt – und die „Wüste“ als seelischer Erfahrungsraum spürbar ist. Doch wer noch geduldig zu sein vermag und neu säen kann, der muss noch nicht alle Hoffnung fahren lassen. Die Traurigkeit könnte vergehen. Auch dies deutet der Lyriker Wolfgang Weigand an.

In diesem umfangreichen Gedichtband werden bekannte Phänomene menschlicher Existenz bedachtet und betrachtet, mitunter nachdenklich vorgestellt. Manches lässt sich schnell lesen, anderes auch überblättern. Immer wieder aber bieten einzelne Verse und Gedichte gewiss auch sinnreiche Anregungen zum Philosophieren über die Liebe und das Leben. Hier mögen vielleicht Interessierte gedankenvoll verweilen, während andere Leserinnen und Leser bei Wolfgang Weigands Lyrik resonanzlos bleiben werden.

Titelbild

Wolfgang Weigand: Unentwegt. Gedichte.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2022.
300 Seiten , 14,80 EUR.
ISBN-13: 9783826077227

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch