Literatur oder Medienkunst?
Das Jahrbuch für die Literatur der fünfziger Jahre, „treibhaus“, herausgegeben von Günter Häntzschel, Sven Hanuschek und Ulrike Leuschner, ist diesmal dem Hörspiel gewidmet
Von Günter Rinke
Den Hörspielen der fünfziger Jahre haften ebenso viele Klischees an wie der Zeit, in der sie entstanden sind. Adenauerzeit gleich Wirtschaftswunderzeit, Restauration, Westbindung und Wiederbewaffnung, Verdrängung der jüngsten schuldbeladenen Vergangenheit, neues (west-)deutsches Selbstbewusstsein, zusammengefasst in der Parole „Wir sind wieder wer“ – das sind einige der Schlagworte, mit denen die Bonner Republik der fünfziger Jahre charakterisiert wird. Dem Hörspiel jener Zeit wird eine gewisse Bedeutung zuerkannt, und zwar je nach Auswahl und Blickwinkel entweder eine künstlerische oder eine gekonnt unterhaltende. Unterhaltende Hörspiele, z. B. Kriminalhörspiel- oder Familienserien, hatten das Potential, Familien vor dem Radioapparat zu versammeln. Man hatte ja noch kein Fernsehgerät. Andererseits belieferten viele der heute kanonisierten Autoren und (wenigen) Autorinnen die Sendeanstalten mit Hörspielmanuskripten, die schon deshalb von der Forschung – und wohl auch von einer interessierten Minderheit – beachtet werden, weil sie einen Teil ihres Œuvres ausmachen.
Handelt es sich nun bei diesen künstlerischen Leistungen eigentlich um Literatur, wie der neue Sammelband aus der Reihe Jahrbuch für die Literatur der fünfziger Jahre nahelegt? Oder ist es originäre Medienkunst, deren wissenschaftliche Analyse eigene Kriterien verlangt? Überblickt man die Beiträge dieses Bandes, so wird man keine eindeutige Antwort auf diese Frage finden. Schon das kann man als eine Stärke des Sammelwerks ansehen. Denn zu den Klischees, die dem Hörspiel der fünfziger Jahre anhaften, gehört die durchaus kritisch zu verstehende Auffassung, es handle sich doch ‚nur‘ um vertonte Literatur, die sich eines schon damals nicht mehr ganz neuen Mediums nur quasi als Transportmittel bediene. Dieser Vorwurf wurde bereits 1961 von dem bis heute viel zitierten Medientheoretiker Friedrich Knilli erhoben. Das zu hörende Spiel, so Knilli, wolle auf Außenwelten außerhalb der Schallvorgänge verweisen. Man müsse das Hörspiel aber zu sich selbst bringen, indem man es als „Schallspiel“ begreife, das auf nichts verweise als auf die Schallvorgänge und die zu deren Wahrnehmung nötigen Organe und Gestaltgesetze.
Danach setzte sich zunehmend die Auffassung durch, Hörspiel sei „radiophone“ akustische Kunst. Für die Herstellung von Hörspielen wurden die technischen Apparate immer wichtiger, übrigens in dem Maß, in dem auch die technischen Möglichkeiten zunahmen. Beispielhaft genannt seien nur Stereophonie, Kunstkopfstereophonie, synthetische Klangerzeugung, digitales Sampling usw. Das Neue Hörspiel der sechziger Jahre eröffnete einen weiten Raum für Experimente, O-Töne wurden häufig verwendet, Collagen und Dokumentationen hergestellt. Dabei war die Grenze zum Feature fließend. Ist das traditionelle, auch als ‚literarisch‘ bezeichnete Hörspiel aus heutiger Sicht eine verstaubte Kunst? Und inwiefern muss es noch erforscht werden?
Die erste Frage kann klar verneint werden, auf die zweite gibt der vorliegende Band vielschichtige Antworten. Zunächst ist festzustellen, dass in den Beiträgen wiederholt auf bisher bestehende Forschungslücken aufmerksam gemacht wird. Die werden durch dieses Jahrbuch nicht alle gefüllt, jedoch werden viele wertvolle Einsichten vermittelt und Perspektiven aufgezeigt, wie die Erforschung dieses Hörspieltypusʼ weitergehen könnte. Die ersten sechs Beiträge beschäftigen sich unter der Sammelüberschrift „Medialität des Hörspiels“ mit Aspekten der Hörspielproduktion und -rezeption unter den Bedingungen, die durch die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten sowie den politischen und sozialen Zeitgeist gesetzt waren. Britta Herrmann zeigt in ihrem Eröffnungsaufsatz, dass das Hörspiel „von vielen Zeitgenossen als widerständiges Erinnerungs- und Gedächtnismedium verstanden wurde“, das heißt, dass in Hörspielen sowohl Fragen der jüngeren deutschen Vergangenheit (Krieg, Holocaust) als auch Probleme der Gegenwart (etwa die Ost-West-Problematik) aufgegriffen und diskutiert wurden. Die dabei verwendeten ästhetischen Mittel waren nicht auf das Wort beschränkt, sondern Musik und Geräusche hatten oft eigenständige semiotische Funktionen, sie wurden nicht nur zur Untermalung der Handlung und zur Erzeugung von Stimmung eingesetzt. Das galt auch für die Stille, die Autorin gibt Beispiele für unterschiedliche „Stille-Stile“.
Einen Einblick in die Programmgestaltung einer Sendeanstalt gibt Susanne Weichselbaumer am Beispiel des Bayerischen Rundfunks. Hier wurden vorwiegend Hörspiele produziert und gesendet, die „versöhnliche Geschichten vom Aufstieg in einem sich konsolidierenden Deutschland“ erzählten. Wenn die Autorin beklagt, „wie wenige der Titel bis heute Eingang in die Literaturgeschichte gefunden haben“, ist eben doch zu fragen, ob sie dort wirklich ihren Platz haben – oder ob die Geschichte des Hörspiels als eigenständige Kunstform nicht mehr Aufmerksamkeit verdiente, so wie die Literatur- und Filmgeschichte. Am Beispiel des Österreichischen Staatspreises für Literatur zeigen Desiree Hebenstreit und Arno Herberth, dass Hörspiele vor allem nach literarischen Kriterien beurteilt wurden, die damals prämierten Hörspiele aber nicht kanonisiert – mit anderen Worten: heute vergessen sind.
Weitere interessante Aspekte werden beleuchtet: von Luisa Drews die Hörerforschung der Sendeanstalten, vor allem des NWDR bis 1955, die im Zusammenhang mit Vorstellungen von Hörerziehung angestellt wurde. Man wollte erfahren, welche Präferenzen das Radiopublikum hatte, um das Nebenbeihören möglichst zu verhindern und durch Hörspiele erzieherisch auf das Publikum einwirken zu können. Ein Vertreter dieser Auffassung war der oft als „Hörspielpapst“ titulierte, heute in Verruf gekommene Heinz Schwitzke, dem Hans-Ulrich Wagner einen Beitrag widmet. Aufschlussreich sind Wagners biographische Erklärungen für Schwitzkes Rigorismus in der Rundfunkpraxis, seine Ablehnung realistischer, politischer Manuskripte bis hin zu einer als „Archivbereinigung“ deklarierten großen Löschaktion beim NWDR im Jahr 1952. Im letzten Aufsatz dieses Teils zeigt Nils Rottschäfer am Beispiel je eines Hörspiels von Heinrich Böll, Günter Eich und Dieter Wellershoff, welche verschiedenen Formen religiöse Sinnsuche im Nachkriegshörspiel annehmen konnte. Dass existentielle und religiöse Fragen in Hörspielen der fünfziger Jahre „auffallend häufig“ aufgegriffen wurden, ist kein überraschender Befund; bemerkenswert ist dabei, wie unterschiedlich die Zugänge zu diesem Fragenkomplex sind, die die Autoren in ihren Stücken eröffnen.
Der zweite Teil des Bandes versammelt unter der Überschrift „Repräsentation und Experiment“ sieben Beiträge zu einzelnen Hörspielproduktionen und -texten. Zu unterscheiden sind dabei die mehr philologisch argumentierenden Aufsätze – Detlef Haberland über Friedrich Dürrenmatts Funkdialog Nächtliches Gespräch mit einem verachteten Menschen (1951), Gerhard Sauder über Max Frischs Rip van Winkle (1953) – von medienanalytisch angelegten Untersuchungen, die den Blick auf Inszenierungen richten: Den Nutzen einer solchen Vorgehensweise führt auf mustergültige Weise Andreas Wicke in seinem Beitrag über drei verschiedene Adaptionen von Fontanes Kriminalroman Unterm Birnbaum vor. Im Rückgriff auf Elke Huwilers grundlegende Studie Erzähl-Ströme im Hörspiel (2005) wird hier abermals überzeugend begründet, dass Adaptionen zwar keine Originalhörspiele sind, aber originelle Hörspiele sein können. Vorbehalte gegenüber Hörspieladaptionen, die es beim Publikum übrigens nicht gab, werden so entkräftet.
Faszinierend ist auch die Untersuchung Jost Eickmeyers über Günter Eichs zweite Unterm Birnbaum-Adaption von 1962, die sich von der ersten von 1951 deutlich unterscheidet. Hier hätte noch erwähnt werden können, dass das rahmende Gedicht von Eich selbst gesprochen wird, was die biographischen Bezüge unterstreicht. Barbara Wiedemann schließlich vermag in ihrem faszinierend vielschichtigen Beitrag zu zeigen, wie die zwei Inszenierungen von Ingeborg Bachmanns Hörspiel Der gute Gott von Manhattan Darstellungen im Geschlechterverhältnis unterschiedlich akzentuieren und dabei dem Text und der Intention der Autorin in verschiedener Weise gerecht werden. Diese Intention wiederum wird aus biographischen Bezügen – Max Frischs Brief an Bachmann und ihre hierauf folgenden Initiativen, die zu einer Beziehung der beiden führten – hergeleitet. Stimmführung und Sprechtempo, das wird in diesem Beitrag besonders deutlich, können maßgeblich für die Interpretation einer Hörspielinszenierung sein.
Den Band schließen zwei wieder mehr philologisch orientierte Aufsätze ab: Sven Behnke führt Arno Schmidts Funkdialoge vor, die dieser überwiegend für das Nachtprogramm des Süddeutschen Rundfunks schrieb. Das Ensemble der insgesamt 16 Dialoge wird als ‚Dark Academia‘ verstanden, als Versuch, einer zeitgeistig verengten Bildung einen um fast vergessene Autoren und Werke erweiterten Kanon entgegenzustellen und dabei auch „politisch-kritische Betrachtungen“ einfließen zu lassen. Kai Bremer fragt nach dem Anteil Inge Müllers an zwei Texten – Der Lohndrücker, Die Korrektur –, die ursprünglich als Hörspiele konzipiert waren und dann zu Dramen umgearbeitet wurden. Die Korrektur, als Hörspiel produziert, aber aus politischen Gründen nicht gesendet, sei ebenso wie Der Lohndrücker hörspielästhetisch unbefriedigend, da stark episierend. Die Bedeutung dieser Stücke für die Forschung zum DDR-Hörspiel leite sich wohl vor allem von der Bedeutung des Autors Heiner Müller ab.
Den Autorinnen und Autoren ist zu wünschen, dass ihre Beiträge vom interessierten Publikum nicht nur intensiv gelesen werden, sondern dass sie die Forschung zum Hörspiel der fünfziger Jahre beflügeln. Des Weiteren ist Britta Herrmann mit Bezug auf das reichhaltige Hörspielschaffen jener Jahre zuzustimmen: „Es macht schlicht Spaß, diesen Texten zu lauschen.“
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