Was Herkunft bedeutet
Bettina Scheiflingers Debutroman „Erbgut“.
Von Helmut Sturm
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseManchmal kann es auf Familienzusammenkünften etwas verwirrend sein. Ist das der Onkel, der …? Du meinst den Großvater von …? Dieses Gefühl sich in all den Familienbanden und Familiengeschichten nicht ganz zurechtzufinden kann auch beim Lesen von Bettina Scheiflingers durchaus empfehlenswerten Romandebut aufkommen. Darin begegnen wir den Lebensspuren von vier Generationen aus der Zeitspanne von den Kriegsjahren des Zweiten Weltkriegs bis in die unmittelbare Gegenwart des 21. Jahrhunderts. Da die Episoden nicht streng chronologisch angeordnet, die Sicht auf die Ereignisse einmal von außen dann wieder aus der Ich-Perspektive geschildert werden, die Teile eher assoziativ als logisch verknüpft sind, ist die Aufmerksamkeit von Leser:innen gefordert. Letztendlich wird dabei aber die Grundaussage des Romans deutlich gemacht, nämlich dass bestimmte Erfahrungen, Verhaltensweisen und Sehnsüchte in einer Familie sich in verschiedenen Generationen und bei verschiedenen Familienmitgliedern zeigen können und so gesehen durchaus nicht individuell oder einmalig sind. Das ist es, was der Titel Erbgut anspricht. (Hennig Ahrens beschreibt Ähnliches in seinem großen Roman unter dem Titel Mitgift)
Das Großelternpaar der Ich-Erzählerin wird in der Schweiz, wo es lebt, als „Tschinggenfamilie“ verunglimpft, da die Großmutter eine aus Italien Zugewanderte ist. Diese Ablehnung und die Erfahrung des Fremd- und Andersseins kennen auch die anderen Familienmitglieder, etwa der Vater, der als Kind eines Kärnter Nationalsozialisten über Umwege in die Schweiz kommt, die österreichische Großmutter, die als Nazihure beschimpft wird, die Angehörigen, die in den USA, bzw. Südafrika leben. Von verschiedenen Familienmitgliedern werden ähnliche Erfahrungen der Ausgrenzung auch in der Schulzeit gemacht. Selbst bei der Ablösung vom Elternhaus oder bei der Wahrnehmung des eigenen Körpers („Meistens wird ihr Körper auf ihre Herkunft zurückgeführt. Dabei kennt Sofia viele Schweizerinnen, die einen ebenso großen Busen haben wie sie.“) gibt es Parallelen zwischen den Generationen. Zu dieser aufgezwungenen Sicht auf den Körper kommt eine genetische Veranlagung zum Krebs.
Die Traumatisierung des Großvaters durch Krieg und Gefangenschaft wird weitergegeben an den Vater der Icherzählerin. Sehnsucht und Fernweh, problematische Beziehungen und (geplatzte) Träume begegnen genauso häufig wie Geburten. Immer wieder wird auch Sprache zum Thema. So dürfen etwa Kinder nicht die Sprache der Mutter lernen, um sich besser zu integrieren. Erwachsene können den vertrauten Dialekt nur in der Familie sprechen und erleben ihre sprachliche Umgebung deshalb nie als ganz selbstverständlich: „Nur wenn ich Dialekt spreche, höre ich mich nicht selbst.“
Die Ich-Erzählerin berichtet von ihrer Geburt und dann Erlebnisse aus der Kindheit (5.-10. Lebensjahr), der Adoleszenz und aus ihrem dritten Lebensjahrzehnt. Bettina Scheiflinger ist dabei unprätentiös und genau, es entsteht eine gewisse Glaubwürdigkeit, obwohl wir Leser:innen wissen, dass diese Familiengeschichte nur eine der unzähligen Versionen der Geschichte überliefert. Aufgrund der Danksagung am Schluss des Bandes wissen wir auch, dass der Text nicht rein autobiographisch, sondern fiktional ist. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass unser Wesen, wie Aristoteles schon feststellte, das eines Zoon politikon ist, trotz alles Individuellen immer auch ein Gemeinschaftswesen. Was das bedeutet, macht Scheiflinger en passant gut sichtbar. Dazu hat sie den Erzählungen in ihrer Familie gut zugehört und das sprachliche Talent und das handwerkliche Können mitgebracht, um einen überzeugenden Debutroman abzuliefern.
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