Durch die vier Kreise der Bücherhölle

Sosuke Natsukawas Rettungsphantasie „Die Katze, die von Büchern träumte“

Von Lisette GebhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisette Gebhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn sich neko bungaku, das beliebte Genre der japanischen Katzenliteratur, mit einem Klassiker literarisierter menschlicher Erkenntnis – Dantes Divina Commedia – trifft, ergibt dies, geschüttelt und gerührt im weltliterarischen Content-Cocktailmixer, den Text Die Katze, die von Büchern träumte. Protagonist des dramatischen Geschehens ist Rintarô, der, früh Waise geworden, im Antiquariat seines Großvaters aufwächst. Nach dem plötzlichen Tod der geliebten Bezugsperson gerät der zurückhaltende Schüler in eine existentielle Krise. Er bleibt der Schule fern und kapselt sich, beinahe schon auf dem Weg zum hikikomori, ab. Als die Tante anreist, um das Begräbnis des Verstorbenen und die Abwicklung des Ladens zu organisieren, verarbeitet er das Geschehene auf eine besondere Art und Weise.

Tora und das Tor zur Anderswelt

Im Antiquariat Natsuki erscheint auf einmal ein stattlicher, orange-getigerter Kater, der sich Tora nennt. Er fordert den Jungen auf, ihm während einer Buchrettungsreise in die Anderswelt zur Seite zu stehen. Zusammen mit dem Tier, das offenbar den magisch verwandelten Geist des Opas darstellt, kommt der „Junior“ – indem er einen sich an der Bretterwand im hinteren Bereich des Ladens auftuenden Raum betritt – insgesamt in vier Labyrinthe. In jedem von ihnen werden Bücher malträtiert. Rintarôs Aufgabe ist es, dies zu unterbinden. Am letzten Ort seiner Bewährung muss er sich gegenüber einer rätselhaften älteren Frau behaupten, auch um die Schulkameradin und gute Freundin Sayo zu befreien, die in die Fänge der sphinxhaften Gestalt geraten ist. Die wundersamen Reisen zu den Folterkammern für Druckwerke und der Disput mit ihren jeweiligen Herrschern können schließlich erfolgreich zu Ende geführt werden. Der Junge hat auf diese Weise seine depressive Passivität überwunden und die Initiation in einen neuen Lebensabschnitt bestanden. Als künftiger Nachfolger des Großvaters darf er nun doch weiter im vertrauten Heim bleiben, unterstützt von der Tante, die ihn in den Tagen nach dem Trauerfall betreut.    

Buchfolterungen

Die erste der Schreckenskammern, die der Junge auf seiner Heldenreise erreicht, ist die der eingesperrten Bücher. Sie befinden sich in einer schier unendlichen Reihe von fest verschlossenen Vitrinen in einer riesigen weißen Halle und werden dort nach nur einmaligem Lesen wie Museumsstücke oder Dekorationsobjekte verwahrt. Der Meister dieses Labyrinths, ein großgewachsener selbstherrlicher Mann im weißen Anzug, trägt sein Wissen gerne in den Medien zur Schau. Rintarô entkräftet seine Argumentation – er sei als intellektueller Vielleser ein wahrer Bücherfreund – damit, dass seine Sammlung in den Schaukästen nicht nur gegen das Wesen des Buchs gerichtet, sondern überdies unvollständig sei – womit der Zauberbann der gläsernen Gefängnisse bricht und die Bücher befreit werden. Im zweiten Labyrinth treffen Held und Kater auf die „Verstümmelten“. In einem weitläufigen Areal, das zum Forschungsinstitut für Lektüre gehört, arbeiten Wissenschaftler in weißen Kitteln zusammen mit dem dicken Institutsleiter daran, die Bände mit Scheren zu traktieren, um sie durch Kürzungen für die Rezipienten schnell lesbar zu machen. Ziel, so der angebliche Gelehrte, sei es, die Essenz des Buchinhalts zu gewinnen und die Werke der „Weltliteratur sämtlicher Epochen“ am besten auf wenige Sätze zu reduzieren:

Der gesamte Text wurde gründlich überarbeitet, von jedem persönlichen Stil befreit und auf ein mittleres, schlichtes Niveau gebracht, das sich jedem Leser sofort erschließt.

Rintarô, der weiß, dass das Beschneiden von Druckwerken eine Untat bleiben muss und schnelles Lesen von Zusammenfassungen den Büchern ihre Seele raubt, gelingt es, die Argumente des Chefs der Kürzertruppe zu widerlegen. Der Zauber löst sich und die Folianten werden in diesem Moment wieder vollständig, während der Direktor seinen Gast respektvoll verabschiedet. Bei dem dritten Ort handelt es sich um eine große Buchproduktionsanlage, die jeden Tag viele tausende Bücher wortwörtlich ausstößt. Im Labyrinth der „Verschacherten“ trifft der Junge auf einen hageren Unternehmer „im maßgeschneiderten Dreiteiler“. Als Kopf eines Konzerns, der auf Gewinnmaximierung ausgelegt ist, erklärt er Rintarô seine Prinzipien. Die gegenwärtige Leserschaft sei zu beschäftigt, „um Zeit und Geld in dicke Schwarten der Weltliteratur zu investieren“, Bücher mit „anspruchsvollen Titeln im häuslichen Regal“ würden jedoch dazu dienen, den „eigenen dürftigen Lebenslauf“ aufzupeppen. Der Konzern bediene diese Bedürfnisse ebenso wie die nach aufregender Lektüre, für die man Sex and Crime-Themen aufbereite. Eher Phantasielose locke man mit der Werbebotschaft des Authentischen, der Literatur völlig Abholde würden mit Ratgeberbänden nach dem Muster „einfache Informationen in Stichpunkten“ geködert. Nur ein Antiquariat wie das der Natsukis führe noch den alten weltliterarischen Kanon, der offenbar nicht mehr gewinnbringend veräußert werden könne:

Heute ist doch niemand mehr an Wahrheit, Moral oder Philosophie interessiert. Jeder fühlt sich ausgelaugt vom Leben selbst, und man ist nur noch auf Sensationen aus oder will sich entspannen.

Dem Jungen fällt es zunächst schwer, der Marktlogik des Verlagsmoguls und seiner Sicht auf Bücher als Konsum- und Wegwerfartikel zu widersprechen. Erst als er dem scheinbar gnadenlosen Kapitalisten eine verkappte Bibliophilie und letztlich die Ähnlichkeit seiner Einstellung zu der des Großvaters nachweisen kann, hält die Produktionsmaschinerie inne. 

Die letzte Aufgabe

Durch die bestandenen Abenteuer gestärkt, gelangt der „Junior“ endlich zu mehr Selbstvertrauen. Er erkennt zudem, dass er mit guten Freunden wie Sayo und Ryota, einem belesenen Mitschüler, kaum zu einem Leben in Einsamkeit verurteilt ist. Schon verabschiedet er sich innerlich vom lieb gewonnenen Kater, da taucht dieser unerwartet wieder auf. Er berichtet von einem vierten Labyrinth: Hier seien allerdings nicht nur Bücher in Gefahr, sondern die entführte Sayo! Die Endgegnerin ist eine „hagere alte Dame“, die den Jungen auf die „Kluft zwischen Ideal und Realität“ aufmerksam machen will und doch zu hören erhofft, worin die „verlorene, vergessene Kraft der Bücher“ besteht. Als er zu guter Letzt das Argument vorträgt, Lesen lehre das „Mitgefühl für andere Menschen“ und dergestalt hartnäckig auf seinem Standpunkt Pro-Buch beharrt, hat er die Prüfung bestanden und kann so auch die Klassenkameradin befreien.

Eine ambivalente Nothilfe für ein gefährdetes Medium

Natsukawa legt seine Geschichte zum einen als Plädoyer für ein bewährtes und unbedingt zu bewahrendes Kulturgut an, zum anderen als katzengestütztes Lehrmodul der Reifung. Durch den Protagonisten erklärt der Verfasser einige Werke zum guten Buch bzw. zum weltliterarischen Kanon, darunter Nachtflug von Saint-Exupéry, Dr. Samuel Johnson: Leben und Meinungen von James Boswell, Hundert Jahre Einsamkeit von Gabriel García Márquez und – als einzigen japanischen Titel – Lauf Melos! von Osamu Dazai. Solche wichtigen Repräsentationen des Mediums wären schwerer zu lesen, garantierten aber die Entdeckung von Neuem, während die aktuell produzierte Schmökerware nur Altbekanntes wiedergebe, das die schnelle, weil einfache Lektüre erlaube. 

Bei kritischer Betrachtung der „Bücherkatze“ wäre diese aber am Ende doch den Kategorien zuzurechnen, die innerhalb der Narration als literarisches Fastfood entlarvt werden. Die Erzählung bedient sich der für die japanische Unterhaltungsliteratur gängigen Elemente des im Text als Wissensschrifttum geschmähten, seit Jahren beliebten Ratgeber-Genres (ikikata no hon). Sie ermahnt dazu, nicht der – spätestens mit der Ernennung eines einschlägigen Ministers zur japanischen Volkskrankheit erklärten – Einsamkeit zu frönen. Es gelte den Rückzug in den Schmollwinkel zu meiden, sich Resilienz anzueignen, um die Widrigkeiten des Lebens tatkräftig zu überwinden:

In Zukunft wollte er auf eigenen Füßen stehen und selbst die Initiative ergreifen, ganz gleich, was es zu bewältigen galt. Zu behaupten man habe keine Wahl, war nicht bloß Voreingenommenheit, sondern vor allem eine Ausrede.

Natsukawas Botschaft möchte hier offensichtlich ernst genommen werden und lässt zunächst keine postmoderne Ironie erkennen. Eher noch wäre die gesamte Textkomposition im Bereich der Melodrama-Renaissance der sogenannten Nuller-Literatur (zero nendai no bungaku) zu Beginn der 2000er Jahre anzusiedeln. Die Katze, die von Büchern träumte (im japanischen Original eigentlich Die Geschichte von der Katze, die die Bücher schützen wollte / Hon o mamorou to suru neko no hanashi) vermeidet jedes Risiko des Avantgardistischen. Insofern arbeitet der Autor konsequent mit dem Grundmuster des phantastischen Abenteuers. Zudem kann er auf eine Reihe bereits publizierter erfolgreicher Katzenliteratur (etwa Kanojo to kanojo no neko / Das Geschenk eines Regentages) und auf andere bibliotherapeutische Großvater-Enkel-Texte bauen. Pate gestanden haben mag, um nur ein mögliches Vorbild für die letztere Sparte zu nennen, Flügel aus Papier (2015) von Marcin Szczygielski, in der Verlagsprosa ein „bewegender Roman“, der vom jungen Rafal handelt, der mit seinem Großvater im Ghetto lebt und sich nur geborgen fühlt, wenn er liest. Rintarôs Verlust- und Bedrohungserfahrung ist sicher weniger dramatisch. Sie stellt ein weiteres literarisches Beispiel aus Japan dar, in dem vom Verlust der Retro-Rückzugsorte berichtet wird. Das Thema der Bücherrettung ist zeitgemäß und an sich sehr willkommen. Natsukawas Version enthält jedoch etwas viel pädagogische Ambition.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Sosuke Natsukawa: Die Katze, die von Büchern träumte. Roman.
Aus dem Japanischen von Sabine Mangold.
C. Bertelsmann Verlag, München 2022.
180 Seiten, 22 EUR.
ISBN-13: 9783570104361

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