Kann eine neue Schuld eine alte mindern?
Diese Frage stellt sich in John Boynes Roman „Als die Welt zerbrach“
Von Anne Amend-Söchting
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAuch wenn man John Boyne eine Kommerzialisierung des Grauens unterstellen könnte – unbestreitbar ist, dass er seinen, inzwischen zum Schulklassiker avancierten Roman Der Junge im gestreiften Pyjama (2006) mit einer der intensivsten und aufwühlendsten Szenen, die in realistischer Literatur möglich sind, enden lässt. Der neunjährige Bruno, Sohn des Kommandanten von Auschwitz, verschwindet mit dem gleichaltrigen Schmuel, gefangen im Konzentrationslager, in der Gaskammer. 80 Jahre später, im London des Jahres 2022, fühlt sich Brunos Schwester Gretel, inzwischen 92, nach wie vor schuldig dafür, war sie doch diejenige, die Bruno ermutigte, Schmuel zu besuchen, unter dem KZ-Zaun hindurchzuschlüpfen und einen der gestreiften „Pyjamas“, die Sträflings-Uniform, überzuziehen.
Nach der Befreiung von Auschwitz wird Gretels Vater gehängt. Sie selbst flieht mit ihrer Mutter nach Frankreich, wo die beiden nach einigen Monaten ruhigen Lebens der Selbstjustiz ehemaliger Résistance-Kämpfer*innen zum Opfer fallen. Man prangert sie öffentlich an und schert ihnen die Haare. Die Mutter, die sich gerade von ihrer Alkoholsucht erholt hat, verfällt dieser erneut und stirbt wenige Jahre später daran. Gretel wandert nach Australien aus, kehrt aber nach Europa zurück, nachdem sie in Sydney zufälligerweise Kurt Kotler, Oberleutnant in Auschwitz, einer der Schergen ihres Vaters, getroffen hat. Kotler, in den Gretel als Zwölfjährige verliebt war, ist den „Nazijägern“, so wie er selbst sagt, entkommen – bis nach Australien seien sie wohl nicht vorgedrungen. Kotler, der nun Kozler heißt, führt ein unauffälliges Leben als Bankangestellter. Er ist verheiratet und hat einen fünfjährigen Sohn, den Gretel entführt. In letzter Minute spürt Kotler sie auf und verhindert die Umsetzung ihres Plans, den Jungen zu töten sowie sich zu suizidieren.
Gretel lässt sich dauerhaft in London nieder, wo sie bei Harrods arbeitet. Sie heiratet den Historiker Edgar Fernsby, bringt einen Sohn zur Welt und bleibt Hausfrau. Nach dem Tod ihres Mannes lebt sie allein in ihrem luxuriösen und geräumigen Appartement. Als die Familie Darcy-Witt mit dem neunjährigen Henry in die Wohnung unter ihr zieht, werden in Gretel schlummernde Erinnerungen aktiviert. Madelyn, die psychisch erkrankte und als Schauspielerin wenig erfolgreiche Mutter, kann sich nur bedingt um ihren Sohn kümmern. Mitunter vergisst sie sogar, ihn aus der Schule abzuholen. Eines Tages versucht sie, sich das Leben zu nehmen. Mit einer anderen Hausbewohnerin, Heidi, 69 Jahre alt und an leichten demenziellen Erscheinungen leidend, gelingt es Gretel, Madelyn zu retten. Vor allem jedoch bemerkt Gretel, dass der Familienvater Alex, ein Filmproduzent, Mutter und Sohn schlägt, den Sohn so heftig, dass er ernsthafte Verletzungen davonträgt.
Alex ist über Gretels Vergangenheit informiert. Er schlägt ihr ein „Gleichgewicht des Schreckens“ vor, nachdem sie ihn wegen häuslicher Gewalt angezeigt hat. Doch darauf lässt sie sich nicht ein…
Gretel, die Ich-Erzählerin, lässt die Kapitel ihrer Geschichte zwischen der Gegenwart, 2022 in London, und den Etappen ihrer Vergangenheit, 1945 bis 1971, alternieren. Wenngleich sich in dieser homodiegetischen Erzählstimme kaum eine Spannung zwischen erzählendem und erlebendem Ich aufbaut, das erzählende Ich die Ereignisse weitestgehend registrierend wiedergibt und auch das gesamte Szenario der Sequenzierung etwas holzschnittartig und schematisch wirkt, ist es realistisch, dass Gretels Vergangenheit „an jenem anderen Ort“, an einem Ort, dessen Name nicht genannt werden darf, ihr gesamtes Leben perfundiert und determiniert.
Schuld ist das Hauptthema des Romans. Dabei dominiert zunächst weniger die Frage nach der Schuld als solcher als vielmehr die Problematik des Sich-schuldig-Fühlens mit einem möglichen Kausalnexus im Hintergrund. Gretel fühlt sich schuldig, dies im Gegensatz zu ihrer Mutter und zu Kotler, die nach wie vor nationalsozialistischen Ideologemen verpflichtet sind. Beide sind davon überzeugt, keine Schuld zu haben, sondern lediglich als schuldig dargestellt zu werden.
In einer Schlüsselszene des Romans konfrontiert Kotler, der gerade seinen Sohn wiedergefunden hat, Gretel mit der vermeintlichen Faszination des Vergangenen. So wie alle anderen habe sie sich dem Charisma und der Aura, die von Hitler ausgegangen sei, nicht entziehen können. Aus der Brusttasche seines Hemds zieht Kotler sodann „die Brille des Führers“ hervor. Er habe sie aufbewahrt, weil sie ihm verdeutliche, dass er einmal in seinem Leben „Teil von etwas Großem, etwas sehr Schönem“ gewesen sei. In Gretel, von Kotler aufgefordert, durch die Brille zu schauen, toben widersprüchliche Gefühle. Sie „widert“ sich „selbst an“ und fühlt sich zu ihrer „Schande gleichzeitig privilegiert“, als sie die Brille aufsetzt und Kotler zuhört:
Mit leiser, eindringlicher Stimme sagte er: „Und jetzt erzähl mir bloß nicht, dass du ihn nicht vermisst. Dass du dir nicht wünschst, er hätte sein Werk zu Ende gebracht und wir hätten gesiegt. Stell dir die Welt vor, in der wir jetzt leben würden. Wie anders alles wäre. Ich habe es mir damals so gewünscht. Das tausendjährige Reich, das er uns versprochen hat. Sei ehrlich zu dir selbst, Gretel. Du wolltest es doch auch, oder?“
Da sie sich nicht gegen die hochgradig manipulativen Worte wehrt, wird insinuiert, dass auch sie noch einen Rest an Begeisterung spürt und ihre Schuldgefühle, die sich sowieso hauptsächlich auf den Tod ihres Bruders richten, nur bedingt mit den anderen Verbrechen der Nationalsozialist*innen, insbesondere dem Genozid, zu tun haben. Zumindest hegt sie prononciert ambivalente Gefühle gegenüber einer Schuld, die den Rahmen des Privaten transzendiert.
Gretels Leben besteht über Jahre hinweg aus Aktionen der Flucht, die sie nie im eigenen Leben ankommen lassen, die alle Bemühungen, an einem neuen Ort Fuß zu fassen, torpedieren und ihr die Erkenntnis verwehren, dass sie weniger während des Dritten Reichs und des Zweiten Weltkriegs, d. h. als Kind und als Jugendliche, sondern in erster Linie danach schuldig geworden ist. Ihr Schweigen hat die Schuld anderer vereitelt.
Die Etappen des Flüchtens, des Sich-Entziehens und ebenso der Exklusion sind im Roman deutlich konturiert: Sie beginnen in Frankreich, erreichen ihren vorläufigen Höhepunkt mit dem Tribunal der ehemaligen Résistance-Kämpfer*innen, führen dann nach Australien, wo Gretel trotz der geografischen Distanz zum Grauen, trotz der 17000 km, die sie zurückgelegt hat, „keine Absolution“ spürt. Bevor sie in London ihren zukünftigen Ehemann kennenlernt, ist sie mit David befreundet, dessen jüdische Familie ermordet worden ist. Ausgerechnet ihm erzählt sie ihre Geschichte, woraufhin er sie als Schuldige klassifiziert und erbarmungslos verstößt. Das Kind, das sie von ihm erwartet, gibt sie zur Adoption frei. Erst gegen Ende des Romans wird aufgedeckt, dass es Heidi ist, mit der sie im selben Haus wohnt und die über ihre leibliche Mutter nicht informiert ist.
Als nach der Hochzeit Ruhe in ihr Leben einzukehren scheint, wird Gretel von ihrer zweiten Schwangerschaft nachhaltig verunsichert. In ihrer Mutterrolle habe sie versagt, so betont sie des Öfteren, es komme z. B. nicht von ungefähr, dass Caden zum vierten Mal heirate. 1970, Caden ist neun Jahre alt, erleidet Gretel einen Nervenzusammenbruch, auf den ein fast einjähriger Aufenthalt in einer psychiatrischen Einrichtung folgt. Die Jahre danach, 1971 bis 2022, bleiben im Roman weitestgehend ausgespart. Auf „Flight“ folgt „Freeze“ – ein Zustand, in dem sie „all the broken places“, so der englische Titel des Romans, still in sich bewahrt und ihren inneren Scherbenhaufen mit Alltagsroutinen übertünchen kann.
Hyponym zur Schuldthematik im Allgemeinen drängen sich zwei essenzielle Fragen auf: 1. Ist es ethisch vertretbar, in einem „Gleichgewicht des Schreckens“ eine Schuld mit einer anderen in Balance zu halten? 2. Gibt es so etwas wie eine „Stellvertreterschuld“, kann eine neue Schuld eine alte mindern bzw. lässt sich eine Schuld gegen eine andere ausspielen? Frage 1 beantwortet die Protagonistin mit einem klaren Nein. Sie entscheidet sich gegen die pragmatische Lösung eines „quid pro quo“ oder „do ut des“, in der beide Beteiligten ihre jeweiligen Geheimnisse bewahren würden. Trotz alledem ist sie nicht bereit, ihre frühere Identität, Tochter eines KZ-Kommandanten, preiszugeben. Ihre Angst, sich dieser Vergangenheit, ihrem nachfolgenden Schweigen und der Frage, ob sie bis zum Alter von 15 Jahren schuldig geworden ist oder nicht, zu stellen, ist so übermächtig, dass sie ein schweres Verbrechen begeht. Damit rettet sie nicht nur Henry vor seinem Vater, ihn, der ihre Erinnerung an den Bruder getriggert hat, sondern rächt sich gleichermaßen symbolisch und post festum an ihrem eigenen Vater. Rein faktisch reduziert sich die alte Schuld damit in keiner Weise. In ihrer subjektiven und intraindividuellen Welt stellt sich aber die Protagonistin der Schuld und trägt im Zuge der Strafe für die neue einen Teil der alten ab. Auf „Flight“ und „Freeze“ folgt letztendlich ein recht skurriler „Fight“, dessen Resultat Erleichterung bringt: Gretel kann endlich wieder den Namen ihres Bruders, Bruno, aussprechen.
So wie Der Junge im gestreiften Pyjama kommt Als die Welt zerbrach formal eher anspruchslos daher, stellt jedoch grundlegende ethische Fragen, die sich in Diskussionen ad libitum ausweiten, vertiefen und differenzieren lassen. Deshalb kann man auch ertragen, dass die Protagonistin und die Personen in ihrem Umfeld tendenziell unsympathisch sind, als Charaktere blass bleiben, als Trägerinnen von moralischen Fragen hingegen überfrachtet wirken. In diesem Kontext ist dem Roman allerdings seine Uneindeutigkeit zugute zu halten, denn die implizierten Antworten bleiben vage und bieten Raum für Multiperspektivität. Allein zwei Binsenweisheiten, die der Text vermittelt, lassen sich nicht hinwegdebattieren: Ideologien, primär die perniziösen, wirken lange nach. Jede Schuld ist einzigartig und jede Verantwortung, die man nicht übernommen hat, potenziert die Schuld.
Trotz gewisser Vorbehalte, vor allem deshalb, weil manche Handlungsdetails immens konstruiert wirken, ist Als die Welt zerbrach ein Roman, der es „in sich hat“, anfänglich vor sich hin plätschernd, dann an Fahrt aufnehmend, grundsätzlich realistisch und plausibel. Auch wirkt die Fortsetzung reifer als der vorgängige Bestseller. Dass sie dennoch nicht zu einem solchen mutieren wird, darf vorsichtig prognostiziert werden.
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