Angekommen in der Normalität?

In Usama Al Shahmanis Roman „Der Vogel zweifelt nicht am Ort, zu dem er fliegt“ geht es um die Flucht vor dem Schweigen

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die deutschsprachigen Romane des irakisch-schweizerischen Schriftstellers Usama Al Shahmani beschäftigten sich bisher mit dem Irak und dem Schweizer Exil. Der erste Roman In der Fremde sprechen die Bäume arabisch (2018) war dem Bruder im Irak, der zweite Im Fallen lernt die Feder fliegen (2020) dem Schicksal zweier junger irakischer Mädchen, die anders als deren Eltern in der Schweiz angekommen sind und keine Rückkehr anstreben, gewidmet.

Im dritten Roman, dessen Titel abermals ein vermeintlich aus dem Arabischen entlehnter, blumiger Spruch ist, erlebt Al Shahmanis Protagonist und Alter Ego, Dafer Schiehan, als Kind die islamische Revolution, die in der Rückkehr von Ayatollah Chomeini aus dem Exil 1979 ihren Anfang findet, da er die Monarchie für beendet erklärt und einen Gottesstaat ausruft. Ein Jahr später beginnt der Erste Golfkrieg zwischen dem Iran und dem von Saddam Hussein ebenfalls streng religiös geführten Irak. Der Autor nutzt die Perspektive des Kindes um scheinbar naiv-direkt so etwas Befremdliches und Einschneidendes wie die rigorose Kulturrevolution bei der gleichzeitig das Justiz- und Bildungswesens sowie die Wirtschaft und Medien islamisiert wurden, begreifbar zu machen. Allerdings bedient er sich ausschließlich der gängigen Stereotype, die der Westen gläubigen Muslimen vorhält und differenziert hier kaum. Die gebildete, freidenkende, kurzhaarige, Auto fahrende Apothekerin Aschuak verlässt schlagartig das Land, Jungen dürfen plötzlich selbst innerhalb Dafers Familie nicht mehr mit den Mädchen spielen, Männer verweigern Frauen den Handschlag und man isst statt am Tisch wieder auf dem Boden.

Anschließend in der Schulzeit werden Mitschüler ohne Erklärung aus dem Klassenzimmer abgeführt und tauchen nur manchmal und nach längerer Zeit, für immer mundtot gemacht, wieder auf. An der Universität wiederum sorgen die Gewaltexzesse des grausamen Regimes für eine unerträgliche Atmosphäre des Misstrauens. Dafers Aufnahmeprüfung wird zum Verhör, religiöse Mitbewohner, wenn staatstreu, zur Gefahr, Kommilitonen verschwinden. In Bagdad herrscht nur noch Angst und Schrecken vor den Intrigen und der Willkür der Baath Partei. Man lernt sich die Dinge harmlos zu denken und schweigt, um zu überleben: „Wer redete, machte sich schuldig, und wer schwieg, machte sich verdächtig.“ Eine ausweglose Situation.

Dafer – wie auch den Autor – zwingt 2002 sein Theaterstück zur Flucht vor dem Regime in die Schweiz. Aber anders als so viele Geflüchtete, die nach Meinung Dafers nur an die Rückkehr in die Heimat denken und keinerlei Integrationsbereitschaft zeigen, lernt er die deutsche Sprache, die für ihn zum Türöffner wird und ein Zugehörigkeitsgefühl möglich macht: „In die Schweiz gekommen war er mit schwarzen Haaren, ohne Deutschkenntnisse und allein, nun hat er graue Haare, träumt auf Deutsch und fühlt sich vielen Menschen verbunden.“

Neben der deutschen Sprache hat Dafer auch die Natur in der Schweiz schätzen gelernt, wandert häufig viele Stunden entlang der Flüsse, durch Wälder und findet dabei seine innere Ruhe. Für ihn schaffen die Bäume mit ihren Wurzeln Zugehörigkeit, während die Bewegung der Flüsse, wenn er ‚festhängt‘, ihn daran erinnert, sich zu erneuern. Die Flüsse Thur, Aare und Limmat geben ihm Lebendigkeit.

Usama Al Shahmani lässt in seinem dritten Roman seinen Protagonisten langsam in der Schweiz ankommen, die Fluchterfahrung verarbeiten und mit seiner irakischen Vergangenheit abschließen. Dafer erlebt aber auch Alltagsrassismus, steht wegen des zeitweise aussichtslosen Asylverfahrens kurz davor, nach Großbritannien weiterzuziehen und bleibt doch. Die aus dem Irak mitgebrachten Gleichnisse, Gedichte, arabischen Weisheiten oder Redewendungen werden übersetzt oder weichen zunehmend der deutschen Sprache, mit der er nun seine Gefühle ausdrückt. Er strapaziert sogar das Klischee, dass die von ihm angenommenen Schweizer Tugenden ihn, wie ein Uhrwerk funktionieren lassen.

Als er zu einem Familienbesuch in den Irak aufbricht und sich all den Gefahren, die einen Geflüchteten besonders bedrohen, erneut aussetzt, wird er dort als Gast, nicht als Sohn, empfangen. „Das Gemeinsame, das ihn trotz der langen Trennung von der Heimat mit ihr verband, ist ihm abhandengekommen.“ Er fühlt sich fremd, hält der Familie eine Rede über seine Wahlheimat, die Schweiz, um mit allerlei Gerüchten und Vorurteilen aufzuräumen. Er erklärt den neugierigen Kindern, die wissen wollen, ob er lieber irakisch oder schweizerisch kocht, dass er manchmal italienisch koche. Und auf die Frage, was er mehr liebe, die Schweiz oder den Irak, ist seine Antwort, er liebe beide. Bei diesem Wiedersehen verliert er seine Heimat zum zweiten Mal. Ein Land, in dem bewaffnete Milizen herrschen, Frauen leiden, Attentate auf Märkten Alltag sind und ein studierter, friedlicher Rückkehrer um sein Leben fürchten muss, verliert für ihn jeden Wert und lässt ihn sich umso mehr der Schweiz zuwenden

Zurück in der Schweiz fühlt er allerdings, dass es hier „nach Ruhe und Freiheit [duftet]“. Es sind nicht Fleiß, Toleranz, Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit und die gesunde Ernährung, von denen Dafer seiner Familie im Irak berichtet hat, die ihn von der Schweiz so überzeugen. Es ist die Selbstverständlichkeit mit der man über alles reden, schimpfen und schreiben darf. Ja, man kann sich auch dort ein Zuhause aufbauen, wo man sich (neu) sozialisiert und eine Zugehörigkeit empfindet. Im Irak aber herrscht die gängige Meinung, dass ein Leben im Exil keine Alternative zum Geburtsort darstelle. Es ist und bleibt vorübergehend und unvollkommen: „Das Leben im Exil ähnelt dem Versuch mit einer Hand zu klatschen. Es kann gelingen, aber der Klang wird nie so sein wie der mit zwei Händen.“

Das Lesepublikum erfährt in dem konventionell aufgebauten Roman vieles über das irakische Schicksal oder allgemein derer, die in ihrem Heimatland kein Recht auf freie Meinungsäußerung haben, sich vor Denunzierung, Bespitzelung und Willkür nicht schützen oder verstecken können. Es ist eine Stärke des Autors ohne Dramatisierung unmissverständlich klarzumachen, warum Dafer jenseits der eigenen physischen Gefährdung keine Wahl hatte und sein Heimatland verlassen musste.Das Gleichgewicht, das er so schmerzlich vermisst hat, lässt ihn Al Shahmani in der deutschen Sprache und der Natur finden, die ihm helfen, in der Normalität der Schweiz anzukommen.

Titelbild

Usama Al Shahmani: Der Vogel zweifelt nicht am Ort, zu dem er fliegt.
Limmat Verlag, Zürich 2022.
176 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783039260423

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