Vergangenheitsbeschwörung und Gegenwartsdiagnose

Manuel Vilas’ neuer Roman „Was bleibt, ist die Freude“ schreibt seine Familienbiographie fort

Von Bernhard WalcherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Walcher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das vergangene Jahr 2022 war für die spanische Literatur ebenso bewegend wie überraschend. Als Gastland auf der Frankfurter Buchmesse konnten sich zahlreiche – in Deutschland auch noch unbekanntere – Autor:innen und Werke einer interessierten, breiteren Öffentlichkeit präsentieren. Pünktlich zu diesem Termin erschienen der letzte vollendete Roman des im September 2022 verstorbenen Javier Marías (Tomás Nevinson) und die bislang unbekannten Tagebücher des 2015 viel zu früh verstorbenen grandiosen Autors Rafael Chirbes, der gemeinsam mit den noch lebenden Großmeistern der spanischen Literatur Fernando Aramburu und Antonio Muñoz Molina zur selben Generation der wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geborenen Schriftsteller zählt.

Manuel Vilas ist, 1962 geboren, nicht eine ganze Generation jünger als die genannten Autoren, doch dokumentieren seine bislang in deutscher Übersetzung erschienenen Romane jene späte(re) Geburt, insofern für sie die literarische Auseinandersetzung mit und Aufarbeitung der Franco-Zeit nicht mehr dasselbe Gewicht besitzt  wie etwa im Werk von Rafael Chirbes. Dennoch könnte man Vilas auch als legitimen Erben von Chirbes’ Romanwelten bezeichnen. Sein neuer Roman Was bleibt, ist die Freude ist die Fortsetzung seiner 2020 in deutscher Übersetzung erschienenen fiktionalisierten Eltern- und Familienbiographie Die Reise nach Ordesa. Mit dem Erfolg, den ihm dieser Roman bescherte, aber eben auch mit denselben Themen des Vorgängertextes wie Vergangenheitsbewältigung und -beschwörung, der Frage nach dem Sinn des Lebens und gesellschaftlicher Dynamiken und Verhältnisse, beschäftigt sich der Erzähler auch in Vilas’ neuem Roman. Wo Chirbes für seine Romane auf erfundene Figuren und Familien zurückgreift, um die sozialen und historischen Verhältnisse Spaniens etwa in der fiktiven Stadt Misent in seinem fulminanten Roman Krematorium (2007) zu sezieren, greift Vilas auf seine eigene Familiengeschichte zurück. Er reflektiert und beschwört gleichermaßen mit einer schon aus dem Vorgängerroman bekannten Struktur von in diesem Falle 107 kleinen, meist nur zwei bis drei Seiten umfassenden Kapiteln die Lebensbedingungen seiner eigenen Gegenwart und der Vergangenheit seiner Eltern, wofür oftmals die Alltagserfahrung von Leben aus Arbeit und Geld die gedankliche Grundlage bildet. Für Vilas spielt daher die soziale Herkunft und Stellung der Familie auch eine zentrale Rolle. Er stammt nicht aus einem privilegierten Bildungshaushalt und nicht selten kreist die Auseinandersetzung mit der eigenen Familie um die intellektuelle Ausbuchstabierung der floskelhaften wie doppeldeutigen Formulierung, wie viel und was man im Leben eigentlich verdient hat. Damit ist – trotz oder gerade wegen der autobiographisch gefärbten Grundanlage des Textes – gleichsam auch die soziale Dimension des Textes benannt und seine sozialgeschichtliche Brisanz: Aufgrund der schonungslosen Aufrichtigkeit des Erzählers mit sich selbst und den Verhältnissen, aus denen er kommt und in denen er lebt, fragt er immer wieder mit dem Gestus und Bewusstsein eines Aufsteigers, dem die eigene Besserstellung gegenüber den Vorfahren suspekt ist und legt damit auch die sozialen und geschichtlichen Dynamiken im Spanien der letzten 50 Jahre offen:

Die Leute arbeiten und zahlen und mit der Zeit, schon in den Fünfzigern, wissen die Leute nicht mehr, warum sie arbeiten, noch, wofür sie zahlen. Sie wollen nur eine Form von Frieden, auf irgendeine Art ruhig sein, irgendeine Form von Stille. […] In Spanien leben wunderbare Menschen, die politischen, sozialen, ökonomischen Eliten sind dagegen krank. Die Eliten in Spanien haben niemals funktioniert, deshalb ist das Land weiterhin so seltsam, anders, kompliziert. Immer haben uns die Eliten in den Abgrund gezogen.

Den Roman zeichnet auf struktureller Ebene vor allem sein reflektierend-monologisierender Stil aus, von dem eine Sogwirkung ausgeht, der man sich nur schwer entziehen kann. Das liegt hauptsächlich an zwei Elementen: Einerseits operiert der Roman weltanschaulich-ideologisch häufig mit teils überraschenden Umwertungen menschlicher Gefühlsregungen wie etwa der Trauer oder Freude, die in neue Denk-Kontexte integriert werden, andererseits – und das kann der Übersetzerin Astrid Roth nicht hoch genug als Verdienst angerechnet werden – besticht und betört die Sprache des Textes geradezu durch ihre ungeheure und unnachahmliche Poetizität. Gleichwohl gibt es auch so etwas wie ein äußeres Gerüst, eine Handlungs- und Ereignisstruktur, die sich präzise benennen lässt. Die erzählte Zeit umfasst die Spanne vom 19. Juli 2018, dem 56. Geburtstag des Autors, an dem er sich in einem Hotel in Barcelona befindet, bis in die ersten Monate des Jahres 2019. Von diesen Stationen aus, zu denen auch noch die Chicago-Reise mit der Ehefrau im Dezember 2018 und verschiedene Reisen mit den eigenen Kindern gezählt werden können, entfaltet der Text seine Vergangenheitsbeschwörungen und Liebesbekundungen, die immer wieder ihren Ausgangspunkt in fast schon aphoristisch eingestreuten (Merk-)Sätzen und Fragen wie „Nur die Gegenwart zählt“ oder „Was macht die Zeit mit uns?“ nehmen.

Die von Vilas gewählte Form kleinteiliger Kapitel lässt Assoziationen zu literarischen Schreibweisen wie im Essay oder der Abhandlung aufkommen, doch verharrt und erstarrt der Text nicht in einer Art kasuistischer Darlegung zentraler allgemeinmenschlicher Themen, sondern lässt eher an die Lebendigkeit essayistischer oder reflektierender Texte wie jene von Montaigne oder Marc Aurel denken. Dass sich Vilas in der Gestaltung seines Romans solch namhafter Stichwortgeber durchaus bewusst ist, zeigen nicht zuletzt auch die zahlreichen Bezüge und Überlegungen zu spanischen Dichtern (seiner Generation) wie Carlos Castan oder älterer Autoren wie Antonio Machado und José Hierro. Schon einmal hat es in der spanischen Literatur die Fortsetzung eines Textes mit dem Titel Alegría – wie Vilas’ Roman im Original betitelt ist – gegeben. Nach seiner Freilassung aus dem Gefängnis, in das er von den Franco-Schergen wegen seiner republikanischen Gesinnung gesteckt worden war – hat der spanische Dichter José Hierro del Real (1922–2002) im Jahr 1947 seinen Gedichtband Alegria veröffentlicht. Es ist die poetische Fortsetzung seiner Lyriksammlung Tierra sin nosotros (Erde ohne uns), in der es um die Verarbeitung nicht nur der jüngsten spanischen Geschichte geht, sondern auch um die zentralen Fragen nach der Sinnhaftigkeit des Daseins und der Bedeutung der Vergangenheit für die Gegenwart. An beides, die Doppelperspektive sowohl auf das, was war und ist,  als auch das Poetische als Mittel, schwer Verständliches sagbar zu machen, knüpft Vilas mit seinem neuen Roman kongenial an.

Titelbild

Manuel Vilas: Was bleibt, ist die Freude.
Aus dem Spanischen von Astrid Roth.
Berlin Verlag, Berlin 2022.
368 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783827014313

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