Neue Facetten zum Werk Else Lasker-Schülers: lesenswert, tiefschürfend, aber…

Julia Ingold über „Arabeske und Klage. Aspekte des Ausdrucks bei Else Lasker-Schüler“

Von Karl BellenbergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karl Bellenberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1 Aufbau und Schwerpunkte der Abhandlung

Die Dissertation über die bildkünstlerische Dichterin Else Lasker-Schüler umfasst drei Teile, den der Arabeske, den der Klage und einen dritten, im Buchtitel nicht genannten Aspekt, das Satyrspiel.

Im ersten Teil ‚Arabeske‘ wird der erste Gedichtband Styx, die Briefe nach Norwegen (Mein Herz), die Kalligrafie im Gesamtwerk sowie Prosa, Das Peter Hille-Buch, Ich räume auf! und die gesammelte Prosa in Konzert, in den Blick genommen unter dem Aspekt der Arabeske: als Verzierung, als Groteskenvariante und als Thema mit Variation.

Der zweite Teil befasst sich mit der ‚Klage‘ in Lasker-Schülers Werk: Arthur Aronymus, die kleine Prosa Die weiße Georgine, aus dem Nachlass Auf der Galiläa, zwei Grafiken und dem graphischen Anteil in Briefen und Postkarten, sowie der Handschrift selbst. Einen großen Teil nimmt dabei die Auseinandersetzung mit Walter Benjamins und Gershom Scholems ‚Theorie der Klage‘ ein, die nochmals im dritten Teil ‚Satyrspiel‘ fortgeschrieben wird unter Hinzunahme des russischen Literaturtheoretikers M. Bachtin über Karneval, Clownerie und Lachkultur, um den dritten Teil theoretisch zu untermauern. Dieser befasst sich mit den Werken Die Wupper, den Tagebüchern aus Zürich und dem Schauspiel IchundIch, beide aus dem Nachlass.

Résumés beschließen etliche Unterkapitel.

Ein umfangreiches Literatur- und Quellenverzeichnis listet schließlich, geordnet nach Primär- und Sekundär-, sowie Sonstiger Literatur, eine 30 Seiten umfassende Bibliographie.

2 Gesamteindruck

Ingold hat ihre Lasker-Schüler umfassend und gründlich gelesen. Außerordentlich viele, bemerkenswerte Querbezüge werden gezogen, auch zu entlegener Sekundärliteratur. Der Apparat mit 2.115 Fußnoten ist bei knapp 330 Fließtextseiten gewaltig, die herangezogene Primär- und Sekundärliteratur zu Else Lasker-Schüler ist umfänglich; zum Teil wird gar aus den Else Lasker-Schüler Archiven Jerusalem und Marbach zitiert.

Die Behandlung des Werkes von ELS unter dem Aspekt der Arabeske ist ein neuer Ansatz. Zwar schrieben G. v. Graevenitz über Arabeske bei Goethe und V. Liska in Die Nächte Tino von Bagdads bei ELS, aber in seiner Ausführlichkeit und u.a. unter Bezugnahme auf die Kabbala ist der erste Teil interessant. Warum aber muss ein entlegenes Gedicht aus dem Nachlass Das Lied des schmerzlichen Spiels als Protagonist für Arabeske herhalten, das nirgends sonst behandelt wird und vielleicht auch als unveröffentlichter, von der Dichterin nicht weiter geformter Nachlass daselbst gut eingeordnet bliebe?

Die Kleine Genealogie (S. 35ff.) der Lasker-Schüler’schen Arabeske gerät durchaus umgreifend. Über Joh. G. Jacobi (Ende 18. Jhd.), die Arabeske in der Malerei in jener Zeit, über Goethes Von Arabesken und West-östlichem Divan, über Fr. Schlegel und H. Heine rankt sich die Erörterung, um Wesentliches der Arabeske geschichtlich zu basieren, „das Unvereinbare elegant oder einfallsreich zu kombinieren“ (S. 47), und sie als „zutiefst orientalistisch“ als „Zierrat oder Rahmen“, „Thema und Variation“ und funktionale Ausweichung gegen das muslemische Bilderverbot zu kennzeichnen.

Ob all diese historisch-basalen Gegebenheiten, die Ingold darstellt, der Lasker-Schüler bewusst waren oder eher ‚subkutan als kultureller Hintergrund‘ in ihrem Werk mitschwingen, wäre eine Untersuchung wert gewesen. Die Bescheinigung von „weiterem arabesken Dichten […] um ornamentale Ranken, […] Schmuck und Rahmen“ (S. 66) wird ihrer Dichtung nicht gerecht, wenngleich mit neuem Blick die Arabeske als ein Aspekt ins Bewusstsein der Rezeption gerückt wird.

Der zweite Aspekt, dem sich Ingold widmet, die Klage, ist wohl, wie es scheint, der deutlich wichtigere. Die ausführliche Abhandlung über Benjamins und Scholems Theorie der Klage führt tief in diese Materie ein und setzt sich mit deren Briefwechsel intensiv auseinander. So auch mit den wesentlichen Gedanken Benjamins über Sprache als die essenzielle Möglichkeit von Ausdruck und Mitteilung des menschlichen Geistes, wenngleich seine Sicht der Stellung des Menschen in der Schöpfung bis heute immer mehr Fragezeichen bekommen hat, so auch zu der Ansicht Benjamins: „Gottes Schöpfung vollendet sich, indem die Dinge ihren Namen vom Menschen erhalten“ (S. 197).

Die relativ langen, intensiven Auseinandersetzungen mit Benjamin- und Scholem-Texten lassen den Bezug zum Eigentlichen, den Else Lasker-Schüler Texten, streckenweise verblassen. Dann aber kommen z. B. beim Kapitel Klage und Clown erhellende Erkenntnisse: „Sie [ELS] kombiniert in so vielen Szenen Leid mit Karneval respektive Groteske respektive Humor. Wie in nahezu alle ihre Idyllen die Not einbricht, bricht in Momente der höchsten Not das Komische ein…“ (S. 286) und man hat sogleich Szenen aus dem Drama IchundIch oder dem Schauspiel Die Wupper vor Augen, beides Werke, denen Ingold eigene Abschnitte widmet.

Dass Ingold die Groteske und Clownerie im Werk Lasker-Schülers derart intensiv ausarbeitet, ist bemerkenswert und neu und lenkt die zeitweise auch heute noch romantisch verklärte Rezeption des Werkes auf diesen wenig beleuchteten, wichtigen Aspekt, der „eine Zuflucht vor der Verzweiflung“ (Feßmann) der Dichterin kennzeichnet.

3 Kritische Einzelanmerkungen

Manche Bemerkungen und Literaturhinweise zu Zitaten in Ingolds Dissertation wirken befremdlich: „Die Erzählerin [ELS] plappert maßlos…“ (Ingold S. 313), wo es bei der zitierten B. v. Matt weniger buschikos ein „Drauflosexperimentieren“ ist.

Das auf Arnold Schönbergs Komposition Ein Überlebender aus Warschau gemünzte Auschwitz-Verdikt Adornos aus 1962 wird ein andermal kurzerhand und völlig diachron auf ein Lasker-Schüler Gedicht aus dem Nachlass, das stilistisch vor dem Ersten Weltkrieg(!) einzuordnen ist, angewandt (S. 15). Im Übrigen revidiert Adorno seine Aussage 1972 eingedenk der Gedichte von Celan (Adorno GS7:477). – In aller Kürze: Was hat also ein 1900er Jugendstilgedicht mit Dichten nach Auschwitz zu tun? Später wird der Gedanke wieder aufgegriffen (S. 210) ohne die Problematik dieser diachronen Betrachtung zu diskutieren. Man ist gut beraten, fallweise die zitierten Originale zu konsultieren.

Der Begriff Phrase-images (Satz-Bild), erstmalig von Jacques Rancière verwendet und offenbar nur bei ihm vorkommend, ist ein nicht lexikalischer und fixiert bei Ingold die Multimedialität in Schrift, Bild, Klang der genreübergreifenden Werke von Zeichnungen, Briefen, Gedichten, Dramen und Prosa Lasker-Schülers, ohne dass durch diesen Begriff ein Verständnismehrwert entstünde.

Ähnlich ergeht es mit dem vom amerik. Psychologen James Gibson in den 1970er Jahren geprägten Begriff affordance. Hierunter wird die „auffordernde“ Eigenschaft, der Gebrauchs- oder Angebots-Charakter einer Sache verstanden. Der Begriff ist offenbar im Deutschen unklar und missverständlich, wird in dt. Literaturlexika nicht behandelt und die Notwendigkeit seiner Einführung bei Ingold erschließt sich nicht.

Schließlich finden sich gleich mehrere Stellen der Arbeit, an denen von Kitsch die Rede ist, mehrfach abwertend verwendet und von Ingold nicht erläutert. Der Kitschbegriff um 1900 (Kitsch = Populärkultur) ist zudem ein anderer als der heutige; er wird bis heute mehr und mehr verunklart und komplexer: reflexive Kunst – Populärkunst – Kitsch. Während Romantik ein existenzielles Leiden an der Wirklichkeit darstellt und die Versöhnung mit der entfremdeten Welt in der ästhetischen Erfahrung der Erhabenheit vollzieht – und das gilt auch auf weite Strecken für das Werk Lasker-Schülers – wird im Kitsch als Imitation romantischer Kunst hingegen die schöne Welt/Wirklichkeit proklamiert für eine und in einer populären Massenkultur und –produktion, etwa heute in Helene Fischers Atemlos (Harry Lehmann 10/2019).

Und weiter: Die Arabeske mit Spiel von „Thema und Variationen, sprich der permanenten Selbstwiederholung, existiert […gerät] zum absoluten Selbstzweck“ (S. 35). Man kann das zunächst so stehen lassen, jedoch der Schluss „Lasker-Schülers Form beständiger variationsreicher Selbstwiederholung haftet unweigerlich ein Geist interesselosen Selbstzwecks an und damit eine performative Affirmation von Poesie bis hin zum Kitsch“ (S. 32) bedarf unweigerlich einer guten Erklärung und Begründung, wie auch Ingolds Einschätzung zum Peter Hille Buch mit seinen „phantastischen Wesen, die seit der Romantik durch deutschen Kitsch geistern“ (S. 124).

Ingold verwendet Kitsch so an mehreren Stellen ihrer Arbeit leichtfertig (u.a. S. 190). Pars pro toto wird dem an dieser Stelle widersprochen. So ist in ihrer Einlassung zum Gedicht Das Lied des Gesalbten (1901) zu lesen: „Der Kitsch und der salbungsvolle Ton des Gedichts sind durch den Verweis auf uraltes Unrecht gebrochen“. Eine harsche Kritik! – Das „uralte Unrecht“ bleibt ebenfalls unerklärt. Dass es sich hier um ein frühes Beispiel, „gattungsgeschichtliche Traditionen aufzubrechen“ (Sander 2020:466), handelt, bleibt unberücksichtigt. Henneke-Weischer, die sogar von Ingold zitiert wird, belegt stattdessen signifikant, dass Form, Sprache, Bilder und ihre Schichtungen in diesem Gedicht diejenigen des Hohen Liedes sind. Sie zeigt zudem zwei Lesarten „des Gesalbten“, die des Messias und die des gesalbten Dichters mit dem dreifach eingeschriebenen Auftrag „Verschwenden sollst Du mit Liebe!“ Die zweite Lesart findet sich bei Lasker-Schüler an etlichen Stellen ihres Werkes als dichterisches Selbstverständnis von göttlichem Auftrag, Liebe in die Welt zu bringen (Gebet) und dies zudem verschwenderisch! Die chiastischen Verschränkungen „Du sollst“ – „Ich will“ im obigen Gedicht sind weniger Arabesken, denn stilistische Analogien zu den mosaischen Gesetzestafeln (vgl. Henneke-Weischer 2003:153-160). Also weder Kitsch noch salbungsvoll.

Späterhin liest man bei Ingold: „Das frühe Gedicht wirkt wie eine feierliche, programmatische Verkündung der dichterischen Strategie, Klagen und Leid in Arabesken zu kleiden.“ Der militärische Begriff der ‚Strategie‘ passt gar nicht und schon gar nicht auf Absichten, Strebungen und Wollen der Lasker-Schüler („Ich habe mir nie ein System gemacht“). Klage und Leid sind ELSs essentielle, zentrale Befindlichkeiten, die in schmucke (ansonsten inhaltlose) Arabesken zu fassen, sicher keine Strategie gewesen sein dürfte. So verwendet Lasker-Schüler selbst das Wort Arabeske nur ein einziges Mal in ihrer Lyrik. Es drängt sich (nicht nur hier) der Eindruck auf, dass solche ‚interpretatorischen Schieflagen‘ dann entstehen, wenn der Focus auf das eigene Thema (hier Arabeske und Klage) zur Verengung gerät.

Fallweise werden Schlussfolgerungen in den Raum gestellt, die ihrer Begründung ermangeln. Beispiel: „Mit Levines abstraktem Analysemodell beschrieben ‚kollidieren‘ bei Lasker-Schüler die beiden Formen Arabeske und Klage“ (S. 24 und 287), ohne dass der Leser eine Verständnishilfe dazu bekommt.

Auf S. 212 lesen wir die These: „Eine Klage muss das Beklagenswerte [notwendigerweise] darstellen oder benennen“ (S. 212). Ist dem so? Was ist z. B., so ließe sich fragen, die Klage im Gedicht David und Jonathan? Der Abschied vom Freund selbst wohl nicht, denn der geschieht immer (Vers 12). Es ist nämlich ‚versteckt‘ (und eben nicht dargestellt!) der emotionale Verlust, das Fehlen Jonathans, als beklagenswerte Grunderfahrung der ›grenzenlosen Liebe‹ Davids (vgl. auch Gedicht ’Αθανατοι ).

Dann auf S. 217: „die Arabeske ist musikalisch“ – „sie überspielt ihre Monotonie nur geschickt“. Man ist irritiert, Monotonie in der Musik? Man sucht nach Beispielen und stößt gedanklich auf Minimal-Music, also Cage, Reich und Glass: tatsächlich viel Arabeskes in deren Pattern, in ‚ihrem Tönen‘ das Schweigen! Man sucht nach Bezügen zum Werk der Lasker-Schüler… Wo denn?

Unter der Überschrift Vexierbilder (Trugbilder) findet sich zum Gedicht Im Anfang die Ausführung (S. 75): „Gott steht nun auf einer Stufe mit all den anderen Dingen[!] aus dem Reich des Benenn- und Abbildbaren. Er ist zum ‚sujet de l’art‘ geworden“ mit einem Verweis auf Henneke-Weischer. Dort allerdings geht es um die Sprache des Hohen Liedes, die Else Lasker-Schüler als archaischen Stil verwendet, und um die Bibel ‚als Text von existenzieller Bedeutung‘, also das genaue Gegenteil. Man könnte über Im Anfang – wie auch zu den Hebräischen Balladen – sagen: „Die Bibel mal anders gelesen“, oder mit Henneke-Weischer (2003:453): „die biblischen Geschichten […] subjektiv gelesen […] als an sie gerichteten Text […], eine Offenheit, die den Bibeltext in unendliche Weiten treibt…“ und eben nicht als „Groteske […] bis zur Ironie gesteigerter Kitsch“ (S. 75).

Zum vierten Teil der Briefe nach Norwegen (BnN) lesen wir bei Ingold: „Die Texte […] sind mit dieser Äußerung noch sinnloser. Sie erhalten die Eigenschaft der Arabeske […] keinerlei Mitteilung zu enthalten“ (S. 80).  Die Briefe nach Norwegen derart dem Genre der (sinnleeren) Arabeske als Thema mit Variationen zuzuschlüsseln, verkennt die – die Bourgeoisie tief und gewollt verstörende, künstlerische – „Grenzaufhebung zwischen Fiktion und Authentizität“ (Dick 2003:208). Die Reaktionen führten damals in Berlin fast zum Eklat. So stattdessen „imaginiert Mein Herz (=BnN) ein sehr lebendiges Bild der Millionenstadt Berlin vor dem Ersten Weltkrieg“ (Dick). Wichtig für uns heute ist in den BnN u. a. die „Inthronisation“ des Prinzen Jussuf von Theben, Else Lasker-Schülers alter ego: „Telegramm: Eben regierender Prinz von Theben geworden“ (BnN) und mit dieser Spielfigur die Eröffnung eines „weiteren Spielraumes“ (Dick) der Lasker-Schüler.

Kap. 4 Kalligraphie (S. 101ff.) nimmt sich der Briefe und Illustrationen an. Gleich der dritte Satz stellt fest: „Dort sind die Illustrationen plump und steif. Sie wären nicht der Rede wert […, doch hier] entwickelt Lasker-Schüler ihre Zeichenkunst“. Dem ist zu widersprechen; die Illustrationen spiegeln genau die für Lasker-Schüler so typische Vermischung von „Schrift: Bild: Schrift“ wider; Text und Illustration gehen eine Symbiose ein, die „öffentlich zur Schau gestellt“ wird im Sturm, so z. B. in Briefe nach Norwegen vom November 1911 das „Verbrecherkonterfei“ von O. Kokoschka zum Brieftext „Hört nur, Kokoschka wird steckbrieflich verfolgt in der neuen, freien Presse […] und gerade seine charakteristischen Verbrecherzüge sind gemildert.“ ELS nimmt mit ‚Verbrecher‘ Bezug auf Kokoschkas Ruf als „Oberwildling“; das Zeitungsklischee hat zudem gekonnte Ähnlichkeit mit dem wirklichen Konterfei Kokoschkas, „mit Bildern und wirklich lebenden Menschen“. „Der Bischof“ (Sturm vom Dezember 1911) wird ebenso mit Ironie präsentiert als Mondgesicht verkehrt herum in einer mittelalterlichen Kappe der ‚unteren‘ Stände.

„Lasker-Schüler folgt als bildende Künstlerin einer ‚Grammatik‘ der Arabeske“ (S. 118), so liest man im Résumé am Ende des Kapitels Kalligraphie. Solche Pauschalierung beachtet nicht, dass ihr bildkünstlerisches Werk weit mehr umfasst als Kalligraphisches, etwa den Briefwechsel mit Franz Marc, das kolorierte Theben oder etliche Einzelbilder: Abbessinische Juden (Kreide), Medizinmann aus Mexico (Kreide, Aquarell), Der blaue Jaguar (Pastell- und Ölkreide) und Jussuf (in Gamaschen, Bundstift), um nur weniges zu nennen. Und gerade die Farbigkeit, das ganze Gegenteil von Arabeske, nimmt Gudert (1966:61) in den Blick: „Die Farbmetaphorik als Grundtypus des bildhaften Ausdrucks“.

4 Résumé

Ingold zeigt an etlichen Stellen ihrer Arbeit eine spezielle Sichtweise auf das Werk Else Lasker-Schüler, die akzeptiert werden will. Gleichwohl ist der große Facettenreichtum der Arbeit hervorzuheben, etwa der Exkurs zum „Höllengrund“ (S. 321) im Drama IchundIch (vgl. Bauschinger 2004:420).

Das Kapitel über das Drama IchundIch erscheint – wenn auch viel zitiert und nacherzählt wird – am dichtesten gearbeitet und verdeutlicht einmal mehr die Verschlingung von Arabeske, Klage und Clownerie im Lasker-Schülerʼschen Text.

Ob die angesprochene, detaillierte Auseinandersetzung mit Benjamins und Scholems zum Teil mystischen und geradezu kryptischen Ausführungen zu Sprache und Klage wirklich die Problematik um die Klage bei Else Lasker-Schüler erhellt oder gar erklärt? Es scheint eher so, dass solche zitierten ‚Gedankenarabesken‘ selbst der (Er-)Klärung bedürfen. Beispiel: „Der schweigsame Rhythmus, die Monotonie der Klage ist das einzige, was von ihr [der Klage] haften bleibt: als […] Symbol […] des Erloschenseins in der Revolution der Trauer […; weil dessen] Unantastbarkeit […] alle Dichtung konstituiert“ (FN223 auf S. 216). Man ahnt den Schluss, den Ingold daraus ziehen wird: „Lasker-Schülers künstlerischer Ausdruck impliziert die Möglichkeit des Schweigens [, der Ausdruckslosigkeit]“  (Klappentext).

Zum Schluss (S. 337ff.) fasst Ingold zusammen: der Lasker-Schüler‘sche Stil sei unverkennbar arabesk, sein Gestaltungsprinzip sei das von Thema und Variationen mit Rückgrifft auf Selbstzitate durch das Gesamtwerk hindurch. Solch ein Schluss greift wohl zu kurz. Nicht betrachtet werden nämlich die Wandlungen von Sprachstil und -bildern etwa vom Jugendstil zur Exil-Lyrik, die Wandlung von Themen in ihren besten Gedichten aus Hebräische Balladen zu denen der ‚Allerwelts-, Gelegenheits- und Personalgedichten‘, vom Gassenhauer zum Sterbegesang. Wie will man mit solchem Finale Gedichte wie Trieb und Weltflucht (beide 1902) auf einen so verkürzten Thema-und-Variationen-Nenner bringen, auf ein und „denselben Ausdrucksmodus“ (S. 337)? Wo ist da „Arabeske“, wenn in IchundIch Klamauk sich mit Hellsicht trifft? Im Übrigen sei, so Ingold, „die Essenz von IchundIch […] das aberwitzige ›Potporie‹ aus disparaten Formen und Inhalten…“ (S. 339). Wenn das die Essenz wäre, wären wir schnell mit Lasker-Schüler, der unstrittig größten deutschen Dichterin des 20. Jahrhunderts, fertig. Statt der „Möglichkeit des Schweigens“ hätte man in das Zentrum des Aspektes der Klage bei ELS die lebenslange Suche nach ihrem Gott stellen können, nach dem Gott ihrer Klage, den sie anruft Gott hör…: „Für meine Traurigkeit fehlt jedes Maß auf deiner Waage.“

Es ist schade, dass die an und für sich so akribisch geschriebene und lesenswerte Arbeit mit ihren Aspekten zu Arabeske und Klage bei ELS doch manches Vermeidbare aufweist.

Titelbild

Julia Ingold: Arabeske und Klage. Aspekte des Ausdrucks bei Else Lasker-Schüler.
V&R unipress, Göttingen 2022.
375 Seiten , 55,00 EUR.
ISBN-13: 9783847114383

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