Zwanzig Lebensjahre in Briefen – authentisch, brüchig, artistisch

Eine Sammlung von zweihundert Briefen des Kulturkritikers Hans Wollschläger ist erschienen

Von Martin LowskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Lowsky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von dem Essayisten, Kulturkritiker, Übersetzer und Musiker Hans Wollschläger (1935–2007) werden hier 199 Briefe vorgelegt (oder sind es, da die Nummer 193 zweimal vergeben ist, 200?). Es handelt sich laut Nachwort des Herausgebers Thomas Körber um ein Viertel der Dokumente, die Wollschläger in seiner Datei ‚Briefe 1988 f.‘ gespeichert und hinterlassen hat. Mag sein, dass er in einzelnen Fällen die Briefe nicht abgeschickt hat – einer an Wolfgang Schlüter erscheint hier mit der Angabe „abgebrochen worden“ – oder vor dem Absenden noch Korrekturen vorgenommen hat. Aber da er diese Schreiben jedenfalls vor dem Untergang bewahren und einer breiten Öffentlichkeit anvertrauen wollte (offenbar mit der Festsetzung einer Wartefrist von 15 Jahren nach seinem Tode), ist anzunehmen, dass die allermeisten Schreiben am jeweils angegebenen Datum unverändert an ihre Empfänger abgegangen sind. Wollschläger konnte, wenn auch selten, höchst ironisch sein: So in seiner Note an einen Münchner Ministerialreferenten, in der er erklärt, er werde die gewünschte Vorlesung „gern“ honorarfrei halten, wenn er erfahre, auch Kulturminister Zehetmair werde seine Arbeit für den Freistaat unentgeltlich leisten.

Schon die erste Durchsicht zeigt: Wer in den vergangenen Jahrzehnten Kontakt hatte mit der Arno-Schmidt- oder der Karl-May-Szene oder ein Fan der Verleger Franz Greno und Gerd Haffmans war, ja wer überhaupt am Buchwesen Interesse hat, der findet hier spannende Insider-Nachrichten. So liest man, wie Wollschläger zeitweise Greno für seine Friedrich-Rückert- und Karl-May-Werkausgaben gewann; man erfährt sein vergebliches Bemühen, zusammen mit seinem Antiquar-Freund Wiedenroth seine Werke unabhängig vom offiziellen Buchhandel zu verlegen und vertreiben, und schließlich seine Freude (laut Brief vom 20. Januar 1997), beim Göttinger Wallstein Verlag willkommen zu sein. Man stößt auch auf Wollschlägers langes Schreiben an den Rechtsgelehrten, Literaturkenner und phänomenal erfolgreichen Vorsitzenden der Karl-May-Gesellschaft Claus Roxin (Wollschläger war der Vizevorsitzende) – ein Schreiben, das ein Entschuldigungsschreiben anlässlich eines unterbliebenen Freundschaftsdienstes sein soll, aber vielmehr ein elendes Nachtreten ist („Sie sprechen gern“ und „ungewöhnlich viel“) und einen akademischen Konkurrenzneid zeigt, der für Wollschläger gar nicht typisch ist. Bei vielen der Briefe wären präzise Kommentare nützlich, doch wir wollen der begrüßenswerten Edition keineswegs die zu knappen Erläuterungen und mangelnde Recherchen vorwerfen. Denn bei solchen Maßstäben wäre der Band erst in fünf Jahren erschienen. Zu tadeln ist aber: Das Personenregister hat Fehler und Lücken.

Wollschläger nennt den Irak-Krieg der Amerikaner „verbrecherisch“ und beklagt auch, dass im neuen Großdeutschland Synagogen brennen und „Gangster Schabowski“ wieder auf freiem Fuß ist. Er spricht über die Mühen des Schreibens (seine „Skrupulosität gegenüber dem, was eben ein ‚Text‘ zu sein habe“; so an Armin Eidherr), bringt seine Minirente zur Sprache und dankt Jan Philipp Reemtsma „für die Zeit, die Du mir geschenkt hast“, nämlich für dessen pekuniäre Sponsor-Gaben zu manchen Jahresanfängen. Mehrfach betont Wollschläger, dass der Roman Herzgewächse sein „‚eigentliches Werk‘“ sei. Er, der in der Öffentlichkeit immer gesund und elastisch wirkte, erwähnt seine Herzinfarkte, Bandscheibenvorfälle, Nikotin-Entzugserscheinungen und auch die Lungenentzündung, die zu seinem Tod führen sollte. Es fallen der Name seiner Frau Monika und noch weitere weibliche Vornamen, einmal mit dem Epitheton „liebste“. Seinen Sohn Andreas, das Sorgenkind, berät er und tröstet er („Du hast wertvolle Freunde, die Dich lieben: das ist die wichtigste Lebens-Basis überhaupt“) und schickt ihn auf eine katholisch-altmodische Schule. Wollschläger, der lebenslang die Kirche und etablierte Religionen attackiert hat, bedauert zugleich, „wie die großen Herzens- und Geistes-Bildungs-Güter, die der christliche Glaubensinhalt – und sei es nur provozierend durch Repression – in die Welt gebracht hat, aus der Welt verschwinden“ (an Christoph Nahrgang). In die Briefe spielen also die politischen Verhältnisse hinein, auch natürlich der Literat Wollschläger und auch der Mensch, insbesondere der Familienvater, und man erfährt, dass er manche Zeitgenossen sehr und manche weniger mag (er sei „nicht haßfähig“, schreibt er an Manfred Eger).

Mehr noch: Der hier sprechende Mann ist eine Person der Geistesgeschichte, die er selbst mitgeprägt hat oder zumindest in der er eine Rolle gespielt und erlitten hat. „Eisige drei Sekunden lang“ war der Beifall bei seiner Dankesrede zum Kulturpreis der Bayerischen Landesstiftung, schreibt er an Michael Maar (Kulturarbeit sei Friedensarbeit, hatte er in der Rede gesagt). „Ich komme mir manchmal nicht nur lebensendlich, sondern sozusagen aussterbend vor“ (an Peter Horst Neumann), aber auch: Es gibt die „mich überwältigende Erfahrung, mit meinen paar Schreibereien eine Fülle des Wohlwollens und der Freundschaft erwirkt und erworben zu haben“ (an Joachim Biermann). Er verzweifelt, er jubelt; und beides ist seine Realität.

Diese Kollektion von Briefen ist eine Art Lebensbericht über zwanzig Jahre aus authentischem Material, wobei eine gewaltige Brüchigkeit hineinspielt. Denn Gegenbriefe werden nicht vorgelegt, und es ist so, dass Wollschläger seine Briefe aus verschiedenen Anlässen verfasst hat; um den Adressaten zu danken, ihnen etwas zu gestehen, zu protestieren, sie zu belehren, einfach sich mit ihnen auszutauschen. Auch ist die Kollektion spontan gewachsen, nach und nach, basiert sie doch auf Alltagsereignissen und -zufällen. Sie ist, als Ganzes gesehen, zusammengestückelt und chaotisch und, wenn man so will, ein Zeugnis von Postmodernität. Chaotisch ist sie auch deswegen, weil die meisten Adressaten nur ein oder zwei Mal vertreten sind.

Zwei entscheidende Punkte kommen hinzu. Zum einen dies: Wollschläger spricht freimütig, ja mit Offenherzigkeit, mit einem Hang zur Selbstentblößung – und entsprechend ohne Scheu, vertraute Briefpartner entblößt zu sehen und als Entblößte anzureden, und dabei sogar ohne Bedenken, Material für Klatsch zu liefern. So nennt er Dritten gegenüber Gerd Haffmans „Lump“ und einen „Erzschurken“ und dann im Brief an ihn selbst vom 28. Februar 2002 sogar einen „veritablen Schurken“. Genau da tituliert er ihn aber auch als „Mein lieber Gerd“, der als edler Autoren-Förderer „zwei Jahrzehnte lang unter nicht geringem Druck“ leben musste, und schließt die Bitte an: „Laß uns also mal einfach nachschauen, wie sehr wir uns noch mögen“. Das ist Offenheit und Aufforderung zur Offenheit bis in die tiefsten Konsequenzen. (Wie schön wären doch ein paar Gegenbriefe!)

Wichtiger noch ist dies: Auch der Briefschreiber Wollschläger ist ein hoch bewusst arbeitender Künstler. Jeder der Briefe verdient Aufmerksamkeit. Hier eine Briefpassage (an Uwe Neumann, 30. September 2002) über Uwe Johnson, der einmal als Verlagslektor Wollschlägers Herzgewächse in der Hand hatte:

Wie Johnsons Urteil, wenn er sich den Text denn wirklich angesehen hat, ausfiel, entzieht sich meiner Kenntnis, und ich verfügte damals – mit Arno Schmidts Ermutigung im Rücken – auch über genügend Selbstbewußtsein, um es mir egal sein lassen zu können.

Zusammengetroffen bin ich mit Uwe Johnson nur ein Mal –: anläßlich einer Lesung in Bamberg, wo ich damals wohnte, würdigte er mich am folgenden Vormittag eines Besuchs. Das muß Ende der 70er Jahre gewesen sein … Moment, das kann ich genau nachsehen, denn ich habe meinen Schreibtisch-Kalender aufbewahrt –: es war am 25. Juli 1979 (und seine Lesung fand am Abend des 24. im AudiMax der Universität statt). Wir saßen gut zwei Stunden auf meinem Balkon im Sonnenschein und brachten beiderseits, wenn ich mich recht entsinne, wenig mehr als literarische Konversation zustande; eigentlich hatten wir uns nichts zu sagen. Eine sonderliche Ausstrahlung seiner menschlichen Person ist in meiner Erinnerung nicht bewahrt. Heute würde ich freilich gern noch einmal mit ihm reden – und jedenfalls ganz anders als damals.

Wie Wollschläger hier mit den Begriffen „Schreibtisch-Kalender“, „Balkon im Sonnenschein“ und „literarische Konversation“ hantiert, um Distanz und diffuses Interesse gegenüber dem anderen auszudrücken, und dann doch seine damalige Einstellung rügt („Heute würde ich freilich …“) und zugleich Hochmut zeigt (Arno Schmidt „im Rücken“) – das ist ein virtuoses Darstellungsspiel. So wie hier arbeitet er mit dem ‚treffenden Wort‘ immer wieder, und einmal erläutert er unter Berufung auf Arno Schmidt (an Jan Philipp Reemtsma, 7. November 1991), wie die Wörter einen „Scharadentanz“ aufführen und deren Schatten „das Außererkennbare an die Höhlenwand werfen“. Nein, die Wörter sind nicht das Reale, aber sie dienen dazu, „eine Seelensphäre zu bauen, in der sich Liebe zum Gegenstand entfalten kann, Mitfühlen, Erkenntnis“ (an Peter Schünemann). Wollschläger scheut nicht die Wortartistik. Seine Wahrnehmung der Fakten – er schreibt „Wahr-Nehmung“, wie er auch „Ur-Sache“ schreibt – ist durch das Wort gesteuert. An dieser Einstellung, an diesem Respekt, den die Wörter verdienen, hält Hans Wollschläger als Briefschreiber immer fest. Auf diesem Geist, auf dieser tiefsinnigen platonischen Haltung beruht sein Künstlertum.

Wollschlägers Rolle als Künstler hat, so nebenher, noch einen besonderen Effekt; sie macht es ihm psychisch möglich, so unerhört offen zu schreiben. Diese Briefsammlung ist bis in schlichte Details hinein große Literatur.

Titelbild

Hans Wollschläger: Briefe. 1988-2007.
Hg. von Thomas Körber.
Wallstein Verlag, Göttingen 2022.
524 Seiten , 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783835352223

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