Symbol, Politik und Theater

Robert Menasse denkt in seinem Roman „Die Erweiterung“ mit skeptischem Stirnrunzeln über Europa nach

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Peripherie lässt sich nicht vom Zentrum aus bändigen. Diesen Eindruck vermittelt Robert Menasse in seinem neuen Roman Die Erweiterung. Er richtet darin den Blick auf die Grenzregionen im europäischen Osten und Südosten. Im Herbst 2020 sieht sich die Brüsseler EU-Administration mit dem Beitrittswunsch Albaniens konfrontiert. Dem Vorhaben stehen Frankreich und Polen ablehnend gegenüber, doch der albanische Präsident taktiert raffiniert und stellt die Gegnerschaft auf eine harte Probe. Von seinem Einflüsterer, dem Dichter Fate Vasa bestens orchestriert, scheint sich ganz Europa auf einmal um den Helm des albanischen Freiheitshelden Skanderbeg zu drehen.

Die Erweiterung folgt auf den turbulenten Roman Die Hauptstadt (2017) und weitet dessen Perspektive. Menasse glückt es abermals, die politische Thematik in eine schwungvolle Erzählung einzubetten, die Raum lässt für politische Reflexionen. Der Spagat gelingt, indem er zwei EU-Funktionsträger als Hauptrollen einsetzt, die sich Gedanken über eine Westbalkan-Konferenz machen und damit auch private Probleme und Wünsche mit in Verbindung bringen. Ihre Charaktere verleihen dem Roman Statur. Der eine von ihnen ist Adam Prawdower aus der Generaldirektion für Nachbarschaftspolitik und Erweiterung. Seit sein Blutsbruder aus Solidarnosc-Tagen in Warschau an der Macht ist, quält er sich und seine Familie mit schlechter Laune. Er wirft dem polnischen Ministerpräsidenten vor, ihre einstigen Werte zu verraten und sich zum zynischen Machtpolitiker gewandelt zu haben, der nicht einmal davor zurückschreckt, das Gedenken an Holocaust lächerlich zu machen. Adam sinnt auf Rache.

Ganz andere Gefühle begleiten den Österreicher Karl Auer, auch er ein Brüsseler Beamter und in der „Direktion D“ für Albanien zuständig. Er hat sich in die albanische Justizbeamtin Baja Muniq Kongoli, Tochter eines glühenden Bayern München-Fans, verliebt. Deshalb bemüht er sich doppelt um ein gutes Einvernehmen mit dem Beitrittskandidaten. In Tirana vertiefen obendrein der erwähnte Fate Vasa sowie die unabhängige Journalistin Ylbere Lenz die widersprüchlichen Eindrücke von einem Land im Umbruch.

Mit diesen emotionalen, persönlichen Aspekten bringt Robert Menasse eine auch politisch brisante Räubererzählung in Gang. Wer hat den goldenen Helm Skanderbegs im Wiener Weltmuseum gestohlen, und welche Absichten hegt der albanische Präsident eventuell mit diesem Symbol?

Die Erweiterung präsentiert ein facettenreiches Panoptikum von Figuren und Geistern, von inneren Widersprüchen und politischen Ränkespielen, das Menasse als gewieften Erzähler ausweist, der die komplizierten, zuweilen ins grotesk Irreale kippenden Vorgänge und Geschichten auf eine Weise erzählt, die jederzeit vergnüglich zu lesen ist und die ernsthaften Hintergründe doch nie verdeckt. Souverän lenkt er das vielgestaltige Ensemble seiner Figuren, verwebt ihre Schicksale miteinander und findet zwischendurch immer wieder Raum für ein gleichermaßen empathisches wie skeptisches Plädoyer für eine europäische Zusammenarbeit jenseits der reaktionären Nationalismen. In essayistisch anmutenden Exkursen blitzt immer wieder die politische Aktualität auf, die sich namentlich an real existierenden Figuren festmachen lässt: dem albanischen Zoti Kryeministër (ZK) alias Edi Rama, Adams Blutsbruder Mateusz alias Jarosław Kaczyński oder der gegenwärtigen Kommissionspräsidentin mit der gefestigten Helmfrisur. Menasse spielt lustvoll damit, ohne sich in der Groteske zu erschöpfen. Die Figuren sind glaubhaft gezeichnet, die Handlung entwickelt durchaus politische Logik, vor allem aber überzeugen die Reflexionen über die europäische Erweiterung durch messerscharfe Differenziertheit. Während Polen den Rechtsstaat aushöhle, beklagt sich Adam, würde Albanien für seine Modernisierung des Justizwesens nicht honoriert. Hin und wieder geht Menasse etwas gar tief in die Details, doch er tut dies jederzeit präzise, überzeugend und vor allem hervorragend informiert. Er plädiert für ein geeintes Europa, das die eigenen Widersprüche anerkennt und im politischen Prozess überwindet. „Im Grunde ist Politik ein Spiel mit Kulissen“ im Theater, hält der polnische Ministerpräsident im Roman nüchtern fest: „Vorne hast du symbolische Handlungen, dahinter die Technik.“ Diese Technik empfindet Adam mehr und mehr als ermüdend. Ein dickes Buch mit dem Titel Das Büro, das ihm empfohlen worden sei, hält ihm einen Spiegel vor, in dem sich nichts bewegt. Deshalb legt er es wieder weg.

„Der Exkurs ist die kürzeste Verbindung von zwei Fluchtpunkten“ ist der fünfte Teil des Romans überschrieben, der Ylbere Lenz auf einer Reise ins tiefe Hinterland Nordalbaniens begleitet. Ihr jüdischer Großvater hat während der Besetzung durch die Nazis überlebt, weil er Schutz bei einem Bauern fand. Menasse beleuchtet anhand dieser Erinnerung die zwei Seiten des Kanuns, des traditionellen albanischen Gewohnheitsrechts, indem er die unverbrüchliche Gastfreundschaft gegen die unheilvolle Blutrache abwägt.

Zum Schluss aber verbinden sich nochmals alle Erzählfäden in einem bizarren Showdown auf der Jungfernfahrt des Luxusliners SS Skanderbeg, mit dem der albanische Ministerpräsident die Europatauglichkeit seines Landes demonstrieren will. Mit viel Brimborium und mit Prominenz aus allen Teilen der EU an Bord gerät die Reise unter dem Zeichen von Covid-19 zur dümpelnden Kreuz- und Querfahrt übers Mittelmeer. Europa ist ein kompliziertes Wesen, das gehegt und gepflegt werden muss und nicht vor Stillstand gefeit ist, verdeutlicht hier Menasse nochmals. Er ist ein überzeugter Europäer und zugleich ein realpolitischer Skeptiker. Mit dem ausfasernden Ende, Titanic redivivus, macht sich im Roman auch eine leise Trauer breit. Das letzte Wort überlässt Menasse der Journalistin Ylbere Lenz. Im Tross der Berichterstatter auf dem Schiff gewahrt sie ein politisches Denken, mit dem die offiziellen Verlautbarungen einfach „wie Puzzleteile“ zusammenfügt werden. Das funktioniere nur, hält sie fest, weil alle akzeptieren würden, dass die einzelnen Teile simple Quadrate seien, die nebeneinander gelegt bloß „surreale Bilder“ ergeben. Ylbere Lenz konfrontiert die Politiker deshalb mit der entscheidenden Frage: „Was ist das Symbol für ein geeintes Europa?“ Das Schwein, wie in Die Hauptstadt? Oder der Helm Skanderbegs, des Retters Europas vor den Osmanen? Auch wenn Menasse darauf keine Antwort gibt, gelingt ihm mit seinem Roman ein kleines Kunststück. Er verhandelt ernsthafte Angelegenheiten unter dem Mantel von persönlichen Geschichten und humorigen Anekdoten. Vor allem aber ist Die Erweiterung auch ein spannend zu lesendes Buch, ein Schlüsselroman mit offenem Ausgang.

Titelbild

Robert Menasse: Die Erweiterung. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022.
450 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783518430804

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