Das angriffslustige und widersprüchliche Enfant terrible der amerikanischen Nachkriegsliteratur

Zum 100. Geburtstag des Schriftstellers Norman Mailer

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Er war einer der innovativsten und vielseitigsten Autoren Amerikas, ein manischer Vielschreiber, ein eigenwilliger und sprachgewaltiger Schriftsteller: Norman Mailer. Skandal- und publicityfreudig scherte er sich nie um das, was man heute „political correctness“ nennt. Mit seinen provokanten Romanen, Essays und journalistischen Arbeiten sorgte Mailer immer wieder für Widerspruch und Kritik. Für Marcel Reich-Ranicki war Mailer „nicht unbedingt ein bedeutender Schriftsteller – die meisten seiner Bücher sind längst vergessen – und doch ein Autor, dessen Weltruhm seine guten Gründe hat.“ Der französische Publizist Bernard-Henri Lévy nannte ihn einen „Giganten der amerikanischen Literatur“.

Norman Kingsley Mailer wurde am 31. Januar 1923 in Long Branch / New Jersey geboren. Die Eltern waren litauische Juden und beide wurden auch in dem osteuropäischen Land geboren. Der Vater Isaac Barnett Mailer kam über den Umweg Südafrika, wohin er bereits 1900 als Neunjähriger mit seinen Eltern ausgewandert war, nach New York. Norman Mailers Mutter Fanny (geb. Schneider), Tochter eines Rabbiners, kam vierjährig als jüngstes von fünf Kindern 1895 in die Vereinigten Staaten. Die beiden lernten sich schließlich 1921 in New York kennen, heirateten im Februar 1922 und ein Jahr später kam ihr Sohn Norman zur Welt.

Im Sommer 1928 verließen die Mailers Long Branch und zogen mit ihren beiden Kindern (Tochter Barbara war ein Jahr zuvor geboren) nach Brooklyn, dem Zentrum des streng orthodoxen Judentums in den USA. Hier verbrachte der junge Norman seine Kindheit und er betrachtete den New Yorker Stadtbezirk zeitlebens als seine eigentliche Heimat. In Crown Heights, einem Stadtteil von Brooklyn, besuchte er die Public School und anschließend die Boy`s High School von Brooklyn. Danach studierte er von 1939 bis 1943 am Harvard College Flugingenieurswesen und erwarb 1943 einen Bachelor of Science.

Während des Studiums kam er mit der zeitgenössischen amerikanischen Literatur in Berührung; er las John Dos Passos, Thomas Wolfe, Ernest Hemingway, William Faulkner oder John Steinbeck. Die Lektüre bestärkte den Siebzehnjährigen in seinem Wunsch, selbst Schriftsteller zu werden. Bei einem landesweiten Literaturwettbewerb reichte er eine erste Geschichte ein und erhielt prompt den ersten Preis. Ein großartiger Erfolg, doch die Ernüchterung folgte alsbald: ein zweites Manuskript wurde abgelehnt.

Im Januar 1944, kurz bevor er zur US-Army eingezogen wurde, heiratete Mailer die Musikstudentin Bea Silverman. Er wurde an die Pazifikfront geschickt und diente bis 1946 auf den Philippinen und in Japan. Hier hatte der frischgebackene Harvardabsolvent die Gelegenheit, das Leben seiner Kameraden und die Schrecken des Krieges zu studieren. Nach der Entlassung aus der Armee begann er seine Erlebnisse und Erfahrungen in einem Roman künstlerisch zu verarbeiten. Die Arbeit ging ihm leicht von der Hand; bereits Ende September 1947 war das achthundert Seiten starke Manuskript abgeschossen und vom New Yorker Verlag Rinehart & Company akzeptiert. Danach gönnte er sich mit seiner Frau Bea einen mehrmonatigen Aufenthalt in Europa, vor allem an der Sorbonne in Paris, wo sich die beiden für den achtmonatigen „Cours de la Civilisation Française“ einschrieben. Während eines Italientrips erhielt Mailer ein Glückwunschtelegramm seines Verlages: sein Roman The Naked and the Dead (1948, dt.: Die Nackten und die Toten, 1950) führt die Bestsellerliste der New York Times an.

Hintergrund des Romans ist die militärische Eroberung der Pazifikinsel Anopopei, die von starken japanischen Stellungen verteidigt wird. Der Kampf wird aus Sicht von Soldaten eines Stoßtrupps geschildert, parallel dazu auch aus der Perspektive des Divisionskommandeurs, des rücksichtslosen Generals Edward Cummings. Er verkörpert die Autorität der Armee; seine Maxime lautet, dass in der Armee jeder Einzelne Angst vor seinem Vorgesetzten haben muss und dieser Verachtung gegenüber seinen Untergebenen. Auch Sergeant Sam Croft ist für seine Härte und Rücksichtslosigkeit bekannt, während Leutnant Robert Hearn, anfangs Cummings` Adjutant, die sinnlose Gewalt an der Front verabscheut. Damit erregt er den Zorn des Generals, der ihm zur Strafe das Kommando des Spähtrupps übergibt. Die Mission durch den Dschungel gestaltet sich jedoch äußerst schwierig und aufopferungsvoll.

Ringsum waren sie vom Dschungel umgeben, von Dämmerung und vom Rauschen des Wassers, von den Geräuschen und Gerüchen der tiefsten Dschungelwildnis. […] Ihre Gewehre glitten ihnen allmählich von der Schulter und rutschten fast ins Wasser, und ihre Füße versanken im ekelerregenden Flussschlamm. Ihre Hemden wurden vom Schweiß genau so durchnässt wie ihre Hosen vom Wasser. Sie schwitzten nicht nur vor Ermüdung und wegen der dumpffeuchten Luft, sondern auch vor Angst. Der Fluss leistete so heftigen Widerstand, als sei er ein lebendiges Wesen, das sich knurrend um ihre Füße wälzte. Ihre Hände, aufgerissen von den Dornen und messerscharfen Blättern, begannen zu bluten, und das Gewicht ihrer Rücksäcke wurde immer drückender.

Die US-Soldaten erleiden bei ihrem Versuch, die japanischen Linien auszuspähen, zahlreiche Verluste – unter ihnen auch Hearn. Bei der Rückkehr zu ihrer Einheit erfahren die Überlebenden, dass ihr übermenschlicher Einsatz völlig unnötig war.

Mailer zeichnete hier ein ungeschminktes Bild von den Schrecken und der selbstzerstörerischen Sinnlosigkeit des Krieges. Dabei ging es ihm weniger um Schilderungen des Schlachtgeschehens, sondern er konzentrierte sich auf die einfachen Soldaten mit ihren Leiden und Ängsten. In Rückblenden ließ er auch ihre Lebensläufe einfließen. Die Einzelschicksale wurden so zu einem Soziogramm der amerikanischen Gesellschaft, deren alltägliche Gewaltbereitschaft sich an der Front in einer individuellen Bereitschaft zum Töten äußert. Darüber hinaus prangerte Mailer den Machtmissbrauch beim Militär an.

Der Roman rief zahlreiche kontroverse Debatten hervor. Er blieb mehr als 60 Wochen lang auf der Bestsellerliste der New York Times und wurde bald in zahlreiche Sprachen übersetzt. Der sensationelle Publikumserfolg machte Mailer zu einem Shootingstar in der amerikanischen Literaturszene. Um den nervenreibenden Trubel um seine Person in New York zu entgehen, gingen die Mailers für einige Monate nach Vermont. Danach versuchte Mailer vergeblich, als Drehbuchschreiber in Hollywood Fuß zu fassen. Auch die Verfilmung seines Erstlingswerkes (Regie Raoul Walsh) kam erst 1958 zustande. Neben Verdammt in alle Ewigkeit (1951, James Jones), Catch-22 (1961, Joseph Heller) und Schlachthof 5 oder Der Kinderkreuzzug (1969, Kurt Vonnegut) gehört Die Nackten und die Toten zu den großen amerikanischen Antikriegsromanen.

Der Riesenerfolg seines Erstlings warf den 25jährigen Mailer beträchtlich aus der Bahn. 1951 erschien sein zweiter Roman Barbary Shore (dt. Am Rande der Barbarei, 1952), den er bereits während seines Studienaufenthaltes in Paris begonnen hatte. In apokalyptischen Visionen beschwört der Roman, der jedoch von der Kritik verrissen wurde, ein düsteres Bild von der Zukunft Amerikas. Auch der Hollywood-Roman The Deer Park (1955, dt. Der Hirschpark, 1956), in dem Mailer die moralisch-sittliche Verwahrlosung der Traumfabrik anprangerte, war nur ein mittelmäßiger Erfolg. Bereits der Titel zog einen Vergleich mit dem geheimnisumwitterten Privatbordell des französischen Königs Louis XV.

Mailer fühlte sich vom literarischen Establishment verraten; enttäuscht von den beiden Misserfolgen sollte er in den nächsten zehn Jahren keinen weiteren Roman mehr veröffentlichen. Er wähnte sich bereits „als ewiger One Book Author“. In seiner Verbitterung bemitleidete er sich selbst und geriet mit Alkohol- und Drogenexzessen in die Schlagzeilen.

Nachdem sich Mailer 1952 von seiner ersten Frau scheiden ließ, heiratete er zwei Jahre später die Schauspielerin und Malerin Adele Morales (1925-2015), die er 1960 während einer hochprozentigen Auseinandersetzung mit einem Messer schwer verletzte. Der verhängnisvolle Streit geschah im Anschluss an eine Wahlparty: Mailer wollte im darauffolgenden Jahr für den Bürgermeisterposten von New York kandidieren. Er bekannte sich schuldig und wurde zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Die Ehe wurde 1962 geschieden. Unter dem Titel The Last Party veröffentlichte Adele Morales 1997 ein Erinnerungsbuch ihrer Ehe mit dem Schriftsteller. Nach der Scheidung war Mailer noch viermal verheiratet und hatte neun Kinder. Mit seiner letzten Ehefrau (Hochzeit 1980), dem ehemaligen Model und der späteren Schauspielerin und Schriftstellerin Norris Church Mailer (1949-2010), war er bis zu seinem Tode verheiratet.

Seine literarische Produktion beschränkte sich in den 1950er Jahren auf mehrere Essays und einen Gedichtband. Außerdem war Mailer 1955 Mitbegründer der einflussreichen New Yorker Wochenzeitung The Village Voice, in der er wöchentliche Kolumnen veröffentlichte. Nach internen Streitigkeiten über die Ausrichtung des Blattes zog er sich jedoch bald aus der redaktionellen Mitarbeit zurück. Wichtigster Text aus dieser Zeit war sein berühmter Aufsatz The White Negro (1957, dt. Der weiße Neger), in dem er die sogenannten „Hipster“ skizzierte, die sich mit ihrem kreativen und rebellischen Instinkt dem gesellschaftlichen Konformitätsdruck widersetzten. Mit dem bis heute umstrittenen Artikel, in dem Mailer angesichts der Lebensbedrohungen durch die modernen Vernichtungsmaschinerien einen Kult von Sex, Rausch und Protest propagierte, suchte er Anschluss an die Beatniks, die ebenfalls eine radikale Abkehr von der Wohlstandsgesellschaft forderten. In der Essaysammlung Advertisments for Myself (1959, dt. Reklame für mich selber, 1963) mit Auszügen aus seinen Romanen, autobiografischen Notizen, Kommentaren und Interviews nahm er zu seinen eigenen Werken Stellung.

Nach einer langen Schaffenspause erschien 1965 sein vierter Roman An American Dream (dt. Der Alptraum, 1965), in dem Mailer den idealen Anspruch des „amerikanischen Traums“ der bitteren Realität der amerikanischen Gegenwart gegenüberstellt. Hauptfigur ist Stephen Rojack, ein dekorierter Kriegsheld und Ex-Politiker, Professor für Psychologie und Fernsehstar, der seine Frau Deborah in einem Akt der Selbstbefreiung tötet und sich anschließend in einem Rausch aus Sex, Gewalt, Lügen und Alkohol verliert. Bis heute ist unklar, ob Mailer in dem düsteren Roman auch die verhängnisvolle Auseinandersetzung mit seiner zweiten Ehefrau verarbeitet hat. Bei seinem Erscheinen sorgte das Buch für einen Skandal und der Autor wurde zum Feindbild für die feministische Bewegung.

1967 nahm Mailer in Washington an dem großen Anti-Vietnam-Marsch zum Pentagon teil, sprach vor den Demonstranten, kollidierte mit der Polizei, wurde festgenommen und zu drei Tagen Haft verurteilt. Ein Jahr später erschien sein Bericht The Armies of the Night (dt. Heere aus der Nacht, 1968), der mit Pulitzer-Preis und den „National Book Award“ ausgezeichnet wurde. Der Untertitel lautete History as a Novel. The Novel as a History (dt. Geschichte als Roman; der Roman als Geschichte). Mailer verwandte hier die Erzähltechnik des „new journalism“, in dem er Fakten rund um die Demonstration mit persönlichen Wahrnehmungen kombinierte. Diese Technik hatte er bereits in seinem engagierten Vietnam-Roman Why Are We in Vietnam? (1967) angewandt. Mailer gab auf diese Frage keine direkte Antwort, vielmehr zeigte er Am Beispiel einer Bärenjagd – so auch die deutsche Übersetzung (1970) – in Alaska aus dem Hubschrauber heraus und mit schweren Waffen das unmenschliche Kriegsgeschehen in Vietnam.

Mit diesen neuen Werken war Mailer aus der über zehn Jahre andauernden, schöpferischen Talsohle heraus. Die 1970er und 1980er Jahre sollten seine produktivste Schaffensperiode werden. In einer mehrteiligen Reportage Of a Fire on the Moon (1969, dt. Auf dem Mond ein Feuer, 1971) berichtete er für die Zeitschrift Life von August 1969 bis Januar 1970 über die Mondlandung. Dazu mischte er sich unter die Wissenschaftler, die Hilfskräfte und Bürokraten und sogar unter die Astronauten; er besuchte Pressekonferenzen und schnüffelte in verstaubten Winkeln herum. Er betrachtete die Apollo 11-Mission aber nie isoliert, immer wieder setzte er sich auch mit der amerikanischen Gegenwart auseinander. Seine schriftstellerische Gabe, historische Großereignisse in Reportagen zu dokumentieren und zu kommentieren, bewies Mailer auch mit der schillernden Hommage The Fight (1975, dt. Der Kampf 1976) an den wohl größten Box-Kampf aller Zeiten zwischen Muhammad Ali und George Foreman am 30. Oktober 1974 in Kinshasa, der als „Rumble in the Jungle“ in die Sportgeschichte einging. Mailer, selbst ein begeisterter Boxer, beschränkte sich dabei nicht nur auf den nächtlichen Kampf, sondern widmete sich auch ausführlich der Vorgeschichte und Vorbereitung des Fights.

1973 veröffentlichte Mailer eine Biografie (Marilyn: A Biography) über Marilyn Monroe, die ursprünglich als Essay geplant war, sich dann aber zu einer Mischung aus Biografie, Auseinandersetzung mit dem filmischen Werk und Überlegungen zu den Todesumständen des Hollywoodstars entwickelte; versehen mit einer großen Anzahl von Bildern namhafter Fotografen. Bei der Biografie, die ein großer Erfolg wurde, steht allerdings bis heute die Frage im Raum: Was ist Wahrheit, was ist Dichtung?

Mailer wurde oft als frauenfeindlicher und sexistischer Schriftsteller kritisiert. In seiner äußerst polemischen Schrift The Prisoner of Sex (1971, dt. Gefangen im Sexus, 1972), mit der er sich gegen die Angriffe der amerikanischen Frauenbewegung verteidigte wollte, zeigte sich jedoch, dass er mit der Verteidigung der naturbedingten Geschlechterrollen unfähig war, die volle Freiheit und Anerkennung des weiblichen Individuums anzuerkennen. Neben dieser teilweise verletzenden Auseinandersetzung veröffentlichte er in den 1970er Jahren das Reportagebuch St. George and the Godfather (1972, dt. St. Georg und Luzifer, 1972) zu den Parteikonvents der Republikanischen und der Demokratischen Partei, den Auswahlband (Essays, Studien, Glossen, Briefe und Reden) Existential Errands (1972, dt. … nichts als die Wahrheit, 1973) sowie den Tatsachenroman The Executioner’s Song (1979, dt. Gnadenlos. Das Lied vom Henker, 1979). Nach Die Nackten und die Toten ist diese Geschichte über das Schicksal eines Doppelmörders das wichtigste und bekannteste Buch von Mailer. Doch dazu später mehr.

Nach elfjähriger Schreibarbeit erschien 1983 der historische Monumentalroman Ancient Evenings (1983, dt. Frühe Nächte, 1983) über das alte Ägypten, gefolgt von der Kriminalgeschichte Tough Guys Don’t Dance (1984, dt. Harte Männer tanzen nicht, 1984), in der Mailer anhand einer außergewöhnlichen Vater-Sohn-Beziehung das verlogene Milieu einer amerikanischen Kleinstadt schilderte. In den 1990er Jahren erschienen dann noch das Psychogramm des Kennedy-Mörders Oswald’s Tale. An American Mystery (1995, dt. Oswalds Geschichte. Der Fall Lee Harvey Oswald. Ein amerikanisches Trauma, 1995), die interpretierende Biographie Portrait of Picasso as a Young Man (1995, dt. Picasso, Porträt des Künstlers als junger Mann, 1996) und The Gospel According tot he Son (1997, dt. Das Jesus-Evangelium, 1998). In Mailers Jesus-Roman, als Autobiografie des Messias in der Ich-Form geschrieben, ist der Gottessohn ein wirklicher Mensch aus Fleisch und Blut, mit seinen Ängsten und Schwächen. Der Autor setzte sich hier mit seinem „eigenen Jüdischsein“ auseinander. Kurz vor seinem Tode griff der Jude Mailer mit The Castle in the Forrest (2007, dt. Das Schloss im Wald, 2007) noch einmal ein brisantes Thema auf, indem er eine Annäherung an den jugendlichen Adolf Hitler wagte und den späteren Diktator als Spielball höherer Mächte sah. Das Buch ist jedoch keine Analyse des Phänomens Hitler, sondern eine aus Fakten und Fiktion zusammengesetzte Milieustudie.

Norman Mailer, der seit 2000 in Provincetown lebte, starb am 10. November 2007 in einem Bostoner Krankenhaus und wurde Tage später auf dem Friedhof von Provincetown beigesetzt. Den Grabstein ziert ein Zitat aus seinem Roman Der Hirschpark: „There was that law of life so cruel and so just which demanded that one must grow or else pay more for remaining the same“ (dt. Da war dieses grausame und doch so gerechte Gesetz des Lebens, nach dem man sich entweder zu entwickeln hatte oder andernfalls teuer dafür bezahlen musste.“).

Seit vielen Jahren macht sich der Langen Müller Verlag um Norman Mailer verdient. So sind hier seit 2018 seine wichtigsten Werke in deutscher Übersetzung in einer neuen Edition erschienen – zuletzt, anlässlich seines 100. Geburtstages, der Tatsachenroman Gnadenlos. Das Lied vom Henker. Mailer erzählt hier die Geschichte von Gary Gilmore, der zwei Morde beging und auf eigenen Wunsch hingerichtet werden wollte. Gilmore war 1964 wegen bewaffneten Raubüberfalls zu einer fünfzehnjährigen Haftstrafe verurteilt und im April 1976 vorzeitig entlassen worden. Drei Monate später erschoss er an zwei aufeinanderfolgenden Tagen einen Tankstellenmitarbeiter und den Angestellten eines Motels. Für diese Taten wurde er von einem Gericht zum Tode verurteilt. Doch aufgrund eines Vollstreckungsmoratoriums wurden seit 1967 in den USA keine Hinrichtungen mehr vorgenommen. Der 35-jährige Gilmore legte jedoch keine Rechtsmittel gegen die Verurteilung ein und trieb sein Verfahren mit aller Macht voran.

Moody [Anwalt Robert Moody] fragte ihn ständig aufs neue: „Haben Sie denn gar keine Angst?“ Und er antwortete mit „Nein“. Kein einziges Mal sagte er etwas, das darauf schließen ließ, und nie, dass er vielleicht seine Meinung ändern würde. Seine Standfestigkeit wurde Moody fast unheimlich. Gilmore schien mit jeder Faser seines Seins hinter seinem Entschluss zu stehen. Nicht nur seine emotionale Kraft schien zu wachsen, sondern auch seine physische. „Wie fühlen Sie sich?“, fragte Bob Moody. „Konnten Sie schlafen?“ – „Ich habe sehr gut geschlafen.“

Mailer führte die Leserschaft zu den verschiedensten Schauplätzen des Dramas: ins Gefängnis, vor Gericht und schließlich in den Hinrichtungsraum. Am 17. Januar 1977 wurde die Todesstrafe vollstreckt.

Jetzt war der Arzt bei ihm und heftete ihm einen weißen Kreis auf das schwarze Hemd. Dann trat er zurück. Pfarrer Meersman machte das Zeichen des Kreuzes, das letzte, was er zu tun hatte. Auch er trat hinter die Linie zurück, drehte sich um und blickte auf die Gestalt mit der Kapuze zurück. […] Gilmore war unendlich stark in seinem Verlangen, richtig zu sterben, so stark, dass er nicht einmal die Fäuste ballte, als der Countdown begann.

Mailer konnte auf umfangreiche Recherchen zu diesem aufsehenerregenden Fall zurückgreifen, die ihm vor allem von dem Fotojournalisten Lawrence Schiller zur Verfügung gestellt wurden. Daher basiert Gnadenlos in der Hauptsache auf Interviews und Gesprächen (mit mehr als hundert Leuten, darunter auch Aufseher und Mithäftlinge), Dokumenten, Tonbandaufzeichnungen, Protokollen über die Gerichtsverhandlungen und anderem Originalmaterial. Neben dem Gerichtsverfahren, das von den Medien gierig aufgegriffen wurde, schilderte Mailer auch Gilmores Lebensgeschichte von dem lieblosen Elternhaus über die strenge Erziehung bei katholischen Schwestern und dem Aufenthalt in einer Erziehungsanstalt bis hin zur allmählichen Kriminalisierung. Die in seinem kurzen Nachwort erwähnte Mitwirkung der hinterbliebenen Ehefrauen der beiden Opfer unterstrich noch einmal Mailers möglichst ausgewogene Rekonstruktion des Geschehens. Der fast 1000seitige Tatsachenroman, der 1982 mit Tommy Lee Jones als Gary Gilmore verfilmt wurde, fand internationale Beachtung und Mailer erhielt dafür seinen zweiten Pulitzer-Preis.

Zum 100. Geburtstag des Schriftstellers ist im Langen Müller Verlag auch eine Mailer-Biografie des deutsch-amerikanischen Journalisten Steven Thomsen erschienen. Es ist überhaupt die erste deutschsprachige Biografie des Journalisten und Schriftstellers Norman Mailer. Der studierte Literaturwissenschaftler und Amerikanist Thomsen ist zudem Kenner der deutschen und nordamerikanischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. In rund 25 Kapiteln beleuchtet er detailliert und umfassend die Lebensstationen der schillernden Persönlichkeit. Da Mailer als Person in besonderem Maße mit seinem Werk verwoben war, untersucht Thomsen die Zusammenhänge zwischen Mailers ereignisreichem Leben und dessen schriftstellerischer Karriere.

Bei der Analyse einzelner Werke zeigt Thomsen, wie Mailer hier die Grenzen zwischen Roman und der traditionellen Reportage überschritt. Mit den Mitteln des „new journalism“ wollte Mailer die sauber recherchierten Fakten für die Leser*innen anschaulich präsentieren. Er lieferte Denkanstöße statt Erklärungen und stellte Fragen, auf die es schwer eine Antwort gibt. Thomsens Anliegen ist es, den Künstler Mailer von der Berühmtheit Mailer und von der Persönlichkeit Mailer zu trennen, um so eine kritische Auseinandersetzung mit dem künstlerischen Werk zu ermöglichen. Neben dem öffentlichen Bild versucht der Autor immer wieder, die Beweggründe und die Überzeugungen offenzulegen, ohne dabei der Selbstinszenierung Mailers aufzusitzen. Bereits in seiner Vorbemerkung wünscht sich Thomsen auch für unsere Gegenwart eine solche polarisierende Figur wie Norman Mailer, „die Einspruch duldet, ja, diesen sogar einfordert“.

Ergänzt wird die Neuerscheinung durch eine umfangreiche Bibliografie, die Norman Mailers wichtigste Werke mit kurzen Inhaltsangaben auflistet, sowie einigen Privatfotos. Der Langen Müller Verlag hat außerdem für den Februar mit Gespenster. Das Epos der geheimen Mächte – Erster Ring einen weiteren Titel angekündigt, in dem sich Mailer mit der Central Intelligence Agency auseinandersetzte.

 

Titelbild

Steven Thomsen: Norman Mailer. Die Biografie.
Langen Müller Verlag, München 2022.
300 Seiten , 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783784436456

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Norman Mailer: Gnadenlos. Das Lied vom Henker.
Aus dem Amerikanischen von Edith Walter und Lore Strassl.
Langen Müller Verlag, Stuttgart 2022.
994 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783784435244

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch