Demokratie in Zeiten des Populismus

Jürgen Habermas schreibt den „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ in die Twitter-Moderne weiter

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jürgen Habermas‘ „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ ist über die Jahrzehnte hinweg die immer noch einflussreichste Schrift des Frankfurter Adorno-Schülers geblieben. Ihre Bedeutung lässt sich nicht zuletzt daran erkennen, dass sie den Medien im Prozess demokratischer Willensbildung eine zentrale Rolle zugewiesen, sie also nicht als Sprachrohr partikularer Interessen diskreditiert (wie es die marxistische Kritik formuliert), sondern als zentrale Plattform gesellschaftlicher Auseinandersetzung aufgewertet hat. Ihr Orchester bildet den Raum, in dem der Streit der Meinungen und Haltungen wenn nicht zur Erschließung von Wahrheit, dann doch von angemessenem politischen Handeln ausgetragen wird. Medien präsentieren politische Positionen aber nicht nur, sie diskutieren und bewerten sie, sie kontrollieren sie und ermöglichen so die gesellschaftliche Willensbildung. Dies geschieht nicht harmonisch oder immer friedlich – wenngleich die politische Debatte die Grenzen zur Vernichtung von politischen Gegnern nicht überschreitet –, und der Willensbildungsprozess mündet nicht unbedingt in einem Konsens. Aber dahinter steht das Ideal, dass dieser Prozess die unter den gegebenen Bedingungen bestmögliche Lösung gesellschaftlicher Probleme generiert und zugleich den notwendigen Prozess zu Mehrheitsbildung ermöglicht.

Damit das alles funktioniert, müssen Bedingungen erfüllt werden, denn die repräsentative Demokratie basiert auf einem fragilen Fundament, nämlich vor allem auf dem Vertrauen seiner Bürger auf die Funktionalität des politischen und medialen Systems, und darauf, dass das Wahlsystem, in dem sie jeder für sich das gleiche Gewicht, mithin dieselbe Stimme haben, unabhängig vom sozialen Stand, vom Geschlecht oder von der Herkunft, ihre Stimme gleichberechtigt berücksichtigt. Hinzu kommt das Motiv sozialen Ausgleichs, mit dem die Extreme der kapitalistischen Wirtschaftsform moderiert werden können. Das ganze System ist inklusiv, relevant ist aber allein die geteilte Staatsbürgerschaft, und nicht Herkunft, Status oder ein anderes Unterscheidungskriterium.

Gegen den Mythos der direkten Demokratiemodelle setzt Habermas ausdrücklich auf die Rollenverteilung von Politik, Medien und Bürgern – was durch Studien etwa Hedwig Richters bestätigt wird, die in den historischen Modellen direkter Demokratie die ausgrenzenden Wirkungen hervorgehoben haben. Die Versammlung der freien und gleichen Männer schließt Frauen und Abwesende etwa aus. Das ist nicht nebensächlich, berührt es doch einen zentralen Punkt der Kritik der repräsentativen Demokratie in Abgrenzung zu anderen Demokratiemodellen, die mehr oder weniger unter dem Schlagwort „direkte Demokratie“ zusammengefasst werden können. Alle sollen über das abstimmen dürfen, was sie betrifft – was eben andere ausschließt, je nachdem, was unter „betreffen“ verstanden wird. Eine absterbende Klasse etwa hat in einem solchen Denken nichts, was sie betrifft.

Die Kritik der radikalen Linken hat sich schon seit dem 19. Jahrhundert gerade gegen die Medien im demokratischen System gewandt, werden sie doch aufgrund der Eigentumsverhältnisse als Propaganda- und Verblendungsinstrumentarien diskreditiert, deren wichtigste Aufgabe darin bestehe, das Volk, in der marxistischen Theoriebildung noch mehr das Proletariat „durch die Macht der kapitalistischen Tagespresse zu Stimmvieh“ herabzudrücken (Richard Müller). So gesehen wählen eben „die dümmsten Kälber“ „ihre Schlächter selber“. Dem hat Habermas das doppelte Moment von bürgerlichem Engagement und Entlastung durch die Vertretung entgegengesetzt, was man gelegentlich zu schätzen lernt.

In der jüngeren Geschichte ist die Struktur von Öffentlichkeit allerdings massiven Veränderungen unterworfen, auf die Habermas in mehreren kleinen Schriften reagiert hat, die nun in einem Band bei Suhrkamp erschienen sind. Neben die professionalisierten Medien, die von journalistischen Kompetenzträgern bespielt werden, sind Plattformen getreten, in denen ungefiltert und ohne weitere Aufbereitung Daten, Fakten und Meinungen verbreitet werden. Die Filterfunktion, die Medien für die Verbreitung von Nachrichten, Ereignissen und Meinungen übernehmen, hat sich mithin auf einen Teilbereich von Öffentlichkeit, auf den der konventionellen Massenmedien zurückgezogen, während neue mediale Plattformen im Netz zunehmend direkt bespielt werden können, ohne dass es dazu irgendwelcher Qualifikationen bedürfte, über den Zugang zum Netz hinaus. Das hat, folgt man Habermas, zur Erosion der Funktion der Medien für die Bildung von Öffentlichkeit geführt, nicht zuletzt weil die direkte Meinungsäußerungen nicht in einen unbegrenzten Raum eingebracht werden, der ja auch in seiner Gesamtheit nicht mehr zu überblicken und wahrzunehmen wäre. Die Ausweitung von Öffentlichkeit in die direkte Teilnahme führt zur Bildung von relativ streng abgegrenzten Meinungsräumen, zur Diskreditierung der konventionellen Medien, zur Implementierung von ungeprüften Faktenbehauptungen (bis hin zu Plattformen, die intentional Fake-News und/oder Verschwörungstheorien produzieren und verbreiten) und schließlich zu massiven Erosionserscheinungen beim Vertrauen der Bevölkerung in die Funktionsfähigkeit des politischen Systems. Ob damit das in der Gesellschaft vorhandene destruktive Potential seine verhängnisvolle Wirkung auf das politische System überhaupt entfalten kann (also schon immer da war), oder ob es durch die neuen medialen Möglichkeiten und sich etablierenden Plattformen generiert wird, beantwortet Habermas nur indirekt. Die Willfährigkeit von Wahrheit in der politischen Agitation faschistischer Bewegungen wäre hier gegebenenfalls in die Diskussion einzubringen.

Habermas fokussiert jedoch mehr auf Erfahrungen aus der jüngeren Vergangenheit, die sich nicht zuletzt darin zeige, dass politische Mandatsträger sich nicht scheuen, das politische System selbst anzugreifen, um den eigenen Machterhalt zu sichern, dass mithin das System, in dem Öffentlichkeit und Politik mit Gesellschaft verschränkt wird, aus sich selbst heraus angegriffen und unterminiert wird.

Das erinnert – und daran wird Habermas‘ nicht offen gelegte Argumentations- und Denkfolie erkennbar – an Modelle aus dem frühen 20. Jahrhundert, in dem Diktatur und Volkswillen über die Akklamation und den Aufstieg des sich selbst deklarierenden Führers in Übereinstimmung miteinander gebracht werden. In der Konsequenz führt das zu einem System, in dem Repression und Akklamation, die sich teils Mittel der direkten Demokratie bedienen, gleichermaßen zur Erhaltung eingesetzt werden. Wo der „spontane Volkswillen“ angeführt wird, ist gerade unter demokratietheoretischer und -praktischer Sicht jedes Misstrauen angebracht. Nonkonformistische Positionen sind hier nur noch in kleinem Maße und unter der beständigen Drohung möglich, liquidiert zu werden.

Gegen solche Modelle hat sich Habermas seinerzeit grundlegend absetzen wollen und will es immer noch. Dass das in den westlich geprägten Industriestaaten etablierte Modell liberal-repräsentativer Demokratien derzeit unter massivem Druck steht und gegen ein Ensemble vermeintlich demokratischer, den Volkswillen formulierender Strömungen bestehen muss, ist kaum zu übersehen. Neue Medien und Formate wie Twitter, Instagramm, Facebook spielen dabei eine zentrale Rolle. Sie in einem gegebenenfalls überarbeiteten System von Öffentlichkeit zu integrieren, in dem Meinungsstreit und Haltungsdifferenzen im Sinne des gesellschaftlichen Zusammenhalt zusammengeführt werden, ist wohl die Aufgabe, der sich eine offene Gesellschaft stellen muss.

Ein Beharren auf dem Status quo ante, wie das zum Teil in den Reaktionen auf die skandalisierten Extreme der neuen Medien zu erkennen ist, wird dabei wohl kaum helfen. Fake-News, Verschwörungstheorien und populistische bis extremistische Haltungen sind jedenfalls nicht einfach zu bannen. Die neuen Medien und Plattformen, die ihrerseits in stetem Wandel sind, sind jedenfalls nicht mehr wegzudenken, ihre Teilnehmerschaft nicht zu disziplinieren (Selbstdisziplin braucht aber Zeit). Solche Plattformen und Kanäle zu nutzen, gerade ihre zugleich systemsprengende Macht zu integrieren, wird wohl die Aufgabe sein, auf die nicht zuletzt diese Schrift Habermas̛ hinweist.

Titelbild

Jürgen Habermas: Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022.
108 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783518587904

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