Fünf Einakter, tragisch bis grotesk

Der Lyriker Ludwig Steinherr legt nach einer Novelle nun auch Bühnentexte vor

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zunächst sei die Handlung der fünf Einakter dieses Bandes umrissen:

Museumsshop

Im Shop des Deutschen Museums in München unterhält sich ein Besucher mittleren Alters mit einer jungen Verkäuferin, die als studentische Aushilfe im Ferienjob nur wenig Ahnung hat, was ihm durchaus recht ist. Sie kommen auf Planeten zu sprechen und auf den Film Casablanca, den sie nicht kennt. Über das mit den Nazis paktierende französische Vichyregime jedoch hat sie ein Referat geschrieben. Sie studiert aber nicht Geschichte und auch nicht Japanologie – für Letzteres schrieb sie sich ein, damit die Eltern das Kindergeld bekommen. Die zunehmend freundliche Unterhaltung führt jäh in die Tiefe menschlicher Existenzangst. Man liest betroffen, warum für den Besucher zehn Minuten im Museum eine Ewigkeit sind, während für die Verkäuferin das Alltagsleben weitergeht.

Die Geste

In diesem Zweipersonenstück sind die promovierte medizinische Forscherin Isabell und der Werbefachmann Paul von einem Abend bei der Physiotherapeutin Lena und dem erfolglosen Romanautor Frank zurückgekommen. Sie finden die beiden unergründlich und sehen sie dennoch als ihre besten Freunde an. Ein überdrehter Streit um Schlafengehen oder Munterbleiben führt zu Wichtigerem. Isabell hat von einem zufälligen Treffen Pauls mit Lena erfahren, das bei beiden Spuren hinterlassen hat. Und sie kommt nicht darüber hinweg, wie abfällig Paul auf ihre Hände geblickt hat, als von ihren Tierversuchen zur Entwicklung eines lebensrettenden Medikaments für Kinder die Rede war. Sie hat in seinem Blick auch den Wunsch gelesen, von Lenas zarten Händen berührt zu werden. Frank bestreitet diesen Blick und ihre Deutung. Doch der Autor hat eine unerwartete Wendung parat: Isabell gesteht, dass es in Wahrheit ein Blick Franks auf ihre Hände war, der sie entsetzt hat. Denn mit Frank, den sie für ein Genie hält, hat sie seit einem Jahr ein Verhältnis. Und eifersüchtig auf Lena ist sie seinetwegen. Paul geht schlafen.

Alicia Glücksbaum

Wie reagiert eine nüchterne Businessfrau, wenn eine junge Frau in goldenem Overall und mit Glitzerperücke ihren Laden betritt und ihr ein riesiges Ei in Goldfolie und mit Schleife als Hauptgewinn überreicht? „Nehmen Sie das bitte weg!“ Die Besucherin stellt sich als für das Universum tätige Künstlerin vor, erzählt von einer Kindheit mit brutalem Vater und depressiver Mutter, vom Jugendknast und ihrem Tiefpunkt, „total betrunken und bekifft in einer fremden Wohnung“. Da habe sie dasselbe Licht gesehen wie einst Paulus auf dem Gemälde „Paulus vor Damaskus“ von Cavaraggio, von dem sie eine Kunstpostkarte zeigt. Gott habe sie gesegnet und ihr den Namen Alicia Glücksbaum gegeben, weil sie den Menschen Glück bringen solle. Seit man ihr in einem italienischen Geschäft ein Glitzerei geschenkt habe, verschenke sie diese Eier, die sie mit Geld aus Brieftaschen und Geldbeuteln erwerbe. Nein, kein Diebstahl, Gott schenke sie ihr. Die Businessfrau spendiert nach Essen und Trinken auch noch 200 Euro. Gott werde immer wieder Geld hinlegen. Ihre Hand sei jetzt Gottes Hand und mache alle Gedanken Alicias hell und klar und gut.

Wird hier Leichtgläubigkeit gegenüber einer erfolgreichen „Masche“ verspottet oder darauf verwiesen, dass auch der nüchternste Mensch etwas braucht, woran er glauben kann? Vielleicht beides.

Zwei Komödien werden als Zugabe gekennzeichnet. Man könnte sie auch Tragikomödien nennen, weil sie ähnlich wie Die Geste die Brüchigkeit zwischenmenschlicher Beziehungen offenlegen.

Das Geschenk

Alex hat für Sabina ein Geburtstagsgeschenk gekauft, das alle Grenzen sprengt: eine goldene Rolex-Uhr, als „Vermeer fürs Handgelenk“. In erbittertem Hin und Her über den Preis von 5.000 Euro äußert Sabina drei Verdächtigungen: Soll die extrem teure Uhr, die man von Generation zu Generation vererbt, sie zum Kinderkriegen überreden? Hat Alex ein erstes graues Haar an ihr entdeckt? Oder hat er sie betrogen? Sie jedenfalls, das gesteht sie, hat ihn betrogen. Da legt Alex eine Männer-Rolex auf den Tisch; die beiden Uhren sollten so etwas wie Eheringe sein. Doch Sabines Rolex tickt nicht, und Alex meint, die Uhren seien vielleicht Fälschungen aus China. Plötzlich tickt Sabrinas Uhr – dies und vor allem die wechselseitige sexuelle Anziehungskraft könnte die Beziehung retten.

Das Abendessen

In dieser Farce in einem Akt stehen die Beziehungen von zwei Paaren auf der Kippe. Die im Kulturdezernat beschäftigte Christina, Expertin für mittelalterliche Kunst, und der auf Baurecht spezialisierte Jurist Erwin sitzen an ihrem „Beziehungstag“ – sie sind jetzt drei Jahre zusammen – im italienischen Stammlokal, wo sich der Wirt Vito und seine Frau Grazia um sie bemühen. Die gefräßige kleine Christina macht viel Aufhebens darum, ausnahmsweise Kälbchen zu essen, vitello tonnato, eine kalte Vorspeise aus Kalbtafelspitz. Das verwundert, weil auch das Hauptgericht Ossobuco vom Kalb stammt. Bedenklicher sind vergiftete Komplimente Erwins für Christina oder deren Feststellung, bei guter Zeiteinteilung bringe man Depression im Leben unter. Dann erzählt sie Vito, sie sei schwanger, widerruft das aber Erwin gegenüber, der es geglaubt hat. Das Ganze gerät aus der Spur, als Grazia, den neuen Koch, von ihm verstört oder in ihn verschossen oder beides, für einen Mörder hält und sich dennoch –  vielleicht –  mit ihm in der Speisekammer eingeschlossen hat. Da wirkt der so beflissene Vito nur noch hilflos. Zur grotesken Farce steigert sich das Ganze, als Christina mit ihrem Hang zur italienischen Oper meint, im Hauptgericht könne Grazia verarbeitet worden sein. Am Schluss stürzt sie sich auf die Spaghetti – man müsse an die Zwillinge denken, die sie erwarte.

Der souveräne und zugleich sorgsame Umgang mit der Sprache, die den bedeutenden Lyriker Ludwig Steinherr auszeichnet, findet sich auch in diesen fünf Texten für das Theater. Er dient hier der Charakterisierung der Figuren im Dialog, die besonders in den drei Stücken über gestörte Paarbeziehungen mit ihrer Wortwahl mehr von sich preisgeben, als ihnen lieb sein kann. Dies geschieht besonders krass in Das Abendessen, wo Sätze wie „Das liebe ich so an dir“, „Und dafür liebe ich dich“ oder „Ja, aber genau so liebst du mich!“ nicht darüber hinwegtäuschen, dass an der Beziehung nicht alles stimmen kann, wenn der Mann nicht weiß, ob die Frau tatsächlich schwanger ist oder nur flunkert.

In Alicia Glücksbaum ist es die dick aufgetragene pseudoreligiöse Sprechweise, die der Titelfigur ihren Erfolg bringt, auch wenn man sich wundert, dass eine nüchterne Geschäftsfrau letztlich akzeptiert, Gott sei auch der Schutzherr der Taschendiebe.

Im berührenden Einakter Museumsshop wird der zunächst nur höfliche Dialog immer herzlicher, so dass das tragische Ende überwältigend wirkt. Das bereits in seiner Novelle Verona kopfüber behandelte Thema der Brüchigkeit von Paarbeziehungen scheint dem Autor Ludwig Steinherr besonders am Herzen zu liegen. In allen drei Stücken, die sich damit befassen, deuten zunächst nur Andeutungen und Nuancen auf eine Störung hin. Beim Lesen wundert man sich über die „Kopflastigkeit“ fast aller Personen, von denen zwei so selbstverständlich über den Philosophen Ludwig Wittgenstein parlieren wie andere Leute über das  Wetter. Beim Lesen, wie gesagt – auf der Bühne sicher nicht, weil die Texte wahrscheinlich getrennt voneinander aufgeführt werden. Theaterbesucher können sich auf ein Feuerwerk von Wortwechseln mit überraschenden Einfällen und grotesken Zuspitzungen freuen, die vom Tragischen ins Groteske reichen und von großer Menschenkenntnis grundiert werden. Auf Regieanweisungen konnte der Autor verzichten.

Titelbild

Ludwig Steinherr: Museumsshop. Fünf Einakter.
Books on Demand, Norderstedt 2022.
136 Seiten , 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783754384985

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