Ein höchst literarisches Ereignis
Mit „La plus secrète mémoire des hommes“ ist Mohammed Mbougar Sarr ein Roman gelungen, der noch lange nach seiner Goncourt-Prämierung im Gespräch bleiben wird
Von Caroline Mannweiler
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Du bist naiv.“ So lautet der lakonische Kommentar Stanislas auf die These seines Mitbewohners Diégane, Autoren sollten schreiben dürfen, was sie wollen, unabhängig von ihrem Wohnort, ihrer Herkunft oder Hautfarbe, und dass das Einzige, was man von Autoren verlangen müsse, Talent sei. Dieser kleine Wortwechsel, den Mohammed Mbougar Sarr seinen Figuren in seinem Goncourt-prämierten Roman La plus secrète mémoire des hommes in den Mund legt, dürfte viel von seinem eigenen Empfinden enthalten. Denn ja, natürlich können Autoren alles schreiben und am Ende zählt das Talent, das Mbougar Sarr zweifelsfrei besitzt, und doch ist es eben nach wie vor nicht ganz einfach, ein frankophoner afrikanischer Schriftsteller zu sein.
Das fängt schon bei der Sprachwahl an, die manche immer noch als Ausweis der besonderen Anziehungskraft französischer Sprache sehen, andere als Sackgasse, wenn man sich doch endlich vom sogenannten Zentrum emanzipieren möchte, während sie für die Autoren einfach ein Medium ist, etwas, in dem man sich bewegt, nicht etwas, mit dem man Gruppen auszeichnen oder ausschließen möchte. Dass man es trotzdem unweigerlich tut, wissen nicht zuletzt die Übersetzer, wie die Romanfigur Stanislas, seines Zeichens Übersetzer aus dem Polnischen und an einer Neuübersetzung von Gombrowicz Ferdydurke arbeitend, der Diégane, einem aufstrebenden senegalesischen Schriftsteller und Hauptfigur Sarrs Romans, gerne mit literarischer Expertise beisteht, ansonsten den Literaturbetrieb aber doch als recht bourgeoise Veranstaltung wahrnimmt.
Dieser Aspekt bleibt auch Diégane nicht verborgen, und manchmal schämt er sich fast, wenn er mit seinen ebenfalls in Paris lebenden Schriftstellerkolleg*innen Nächte damit verbringt, über die Qualität von Senghors Lyrik zu diskutieren. Doch dann besinnt er sich darauf, dass irgendwer dies doch tun müsse. Warum? Nun ja, damit die Literatur am Leben bleibt. Was damit gewonnen ist, also Definitionen von Literatur, gibt der Roman eine Menge, wobei die meisten eine modernistische Tendenz einschlagen, also Literatur als etwas begreifen, das dem Klarsehen, nicht dem Entfliehen, der Welt dienen soll.
Dass mit diesem Klarsehen keine allzu große Hoffnung auf Veränderung des ‚Gesehenen‘ einhergeht, muss dabei mitbedacht werden, von Konzepten engagierter Literatur distanziert sich Sarr in seinem Roman, nicht jedoch von einer Sympathie für Engagement. Ein Teil des Romans handelt denn auch von Chérif, einem Jugendfreund Diéganes, der zuhause im Senegal als Philosophieprofessor arbeitet und zum politischen Aktivisten wird, dabei jedoch fast zu Grunde geht. Aus Schuldgefühlen, zum Selbstmord der jungen Oppositionellen Fatima Diop beigetragen zu haben, versucht er selbst, sich zu verbrennen, und wird von Diégane, der gerade zu Besuch in Dakar ist, in letzter Minute gerettet. Diese Episode ist dabei nicht nur deshalb wichtig, weil sie die Versehrungen zeigt, die oppositionelles Engagement mit sich bringen kann, sondern auch, weil Chérif im Roman dazu da ist, Diégane einen entscheidenden Schub für sein schriftstellerisches Schaffen zu geben. Er solle ruhig schreiben, meint Chérif, der Diéganes literarische Entwicklung mitverfolgt hat, nur bitte nicht solche Ego-Romane, die nur von ihm handelten, sondern etwas Großes.
Dieses Placet beflügelt Diégane, der befürchten musste, von seinem Jugendfreund nicht mehr erkannt zu werden, zu sehr entfremdet durch das Leben im Pariser Literaturkosmos, der mit den Kämpfen senegalesischer Oppositioneller wenig zu tun hat. Aber – und das ist dann doch so etwas wie ein roter Faden des Romans, der in der Fülle literarischer Anspielungen, unterschiedlichen Genres (Detektiverzählung, Rezension, Brief, innerer Monolog, Essay u.v.m.) und Imaginationsräumen (afrikanischen wie nicht-afrikanischen) zwar fast untergeht, ohne den die Verbindungen zwischen allem jedoch kaum funktionieren würden – solange in dieser ‚Entfremdung‘ also noch ein paar Leute existieren, die einen erkennen, ist nicht alles verloren.
Denn bei aller existentiellen Einsamkeit, die die Hauptfigur Diégane als Los des Schriftstellers gleich im ersten Satz des Romans festhält, scheint Diégane doch etwas weniger einsam als die zweite Hauptfigur des Romans, Elimane Madag, alias T.C. Elimane. Dieser hat in seinen Künstlernamen die Vornamen seiner beiden ‚Förderer‘, Thérèse Jacob und Charles Ellenstein hineingewoben, die seinen Roman verlegt haben und damit durchaus ein Wagnis eingegangen sind – das ganze findet im Paris der 30er Jahre statt, in dem zwar die Négritude-Bewegung bereits eingesetzt hat, Schwarzafrikanische Schriftsteller aber noch immer marginal im literarischen Feld sind. Das Wagnis entpuppt sich schon bald als Fiasko, Elimane wird des Plagiats bezichtigt, die rassistischen Töne sind in den von Sarr sorgsam ausformulierten Kritiken, ob positiven oder negativen, Legion, und Elimane findet sich aus dem Literaturbetrieb brutal verstoßen, noch ehe er richtig in ihm angekommen war.
Nun mag diese ganze Geschichte arg konstruiert klingen, sie basiert auf einem wahren Vorbild, nämlich Yambo Ouologuems 1968 erschienenem Werk Le Devoir de violence (Das Gebot der Gewalt), das ebenfalls von Plagiatsvorwürfen getroffen, den Rückzug Ouologuems aus dem Pariser Literaturbetrieb veranlasste. Yambo Ouologuem ist Sarrs Roman gewidmet, und es ist bereits absehbar, dass die Rezeption Sarrs auch Devoir de violence zu neuer Leserschaft verhelfen wird. Ob dies auch für den im Epigraph auftretenden Autor zutreffen wird, ist weniger absehbar, aber auch nicht so wichtig, denn Roberto Bolano, aus dessen von Robert Amutio ins Französische übersetzten Los detectives salvajes Sarr seinen Titel La plus secrète mémoire des hommes entnimmt, hat ja glücklicherweise schon viele Leser.
Trotzdem ist diese zweite Referenz für Sarrs Werk ebenfalls von zentraler Bedeutung, denn Bolano erlaubt es ihm, aus dem doch etwas erschöpfenden Afrika-Frankreich-Komplex auszubrechen und einen neuen Kontinent ins Spiel zu bringen, nämlich Lateinamerika. Dorthin verschlägt es auch T.C. Elimane, wohl weil er in Südamerika den Mörder seines Verlegers Charles Ellenstein sucht (der Literaturkenner und Nazi Joseph Engelmann verrät Ellenstein, der daraufhin im KZ umkommt), aber auch, weil Sarr so die Möglichkeit schafft, Elimane in Argentinien mit Autoren wie Ernesto Sábato und dem exilierten Witold Gombrowicz zusammenzuführen, sowie mit einer fiktiven „haitianischen Autorin“, die wegen ihrer Diplomateneltern in Argentinien lebt und sich dort äußerst wohl fühlt. Warum bleibt letztlich ihr Geheimnis, in der Ökonomie des Romans passt dieses eher glückliche ‚Exil‘ jedenfalls insofern gut als die haitianische Autorin zugleich als ‚Retterin‘ Siga D.s fungiert, einer aus dem Senegal auswandernden Autorin, die in ihrer Ablehnung der mit dem Exildiskurs einhergehenden sentimentalen Überfrachtung auch ein Vorbild für ihren Freund und Autorkollegen Diégane ist.
Was nicht heißt, dass die Problematik der Emigration in Sarrs Roman keine Rolle spielen würde. Im Gegenteil. Viele Figuren, fast alle, sind von ihr gezeichnet, nicht zuletzt die im Senegal zurückgebliebene Mutter, Mossane, die den Verlust ihres Mannes, der für Frankreich in den Krieg zieht, und ihres Sohnes (besagtem Elimane) nicht verkraftet, aber auch der kongolesische Schriftstellerkollege Diéganes Musimbwa, den das Trauma, Überlebender eines – im Roman eindringlichst geschilderten – Massakers geworden zu sein, an eben diesen Ort der Auslöschung seiner Familie in der Demokratischen Republik Kongo zurückführt. Doch Sarr gibt sich alle Mühe, diese Einzelschicksale eben nicht als Illustrationen des Exils erscheinen zu lassen, sondern als je eigene, keinem einheitlichen Muster zu unterwerfenden Schicksale.
Dass die Literaturkritik verallgemeinernde Begriffe wie Emigration und Exil dann doch wieder hervorkramt, gehört zu ihren Unarten, wie es Diégane in einer seiner zahlreichen Tiraden gegen die nach „Problematiken“ Ausschau haltende Literaturkritik ausführt. Und es gehört wiederum zu den (höchst sympathischen) ‚Unarten‘ Sarrs Romans, eigentlich schon jede Kritik, die man an seinem Roman üben könnte, vorwegzunehmen, wie etwa die einer zu sehr ausgestellten Belesenheit, oder einer zu prätentiösen Formulierung tiefschürfender Wahrheiten.
Sarr hat alle diese ‚Schwächen‘ erkannt und verarbeitet, und ein Werk geschaffen, das mit unnachahmlicher Energie vor allem dafür eintritt, dass die Literatur weitergeht. Merci, möchte man ihm sagen – und in diesen Dank auch gleich Holger Fock und Sabine Müller miteinschließen, die den Roman ins Deutsche übertragen haben.
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