Mit Proust noch eine Rechnung offen haben

Roland Barthes macht sich in „Proust. Aufsätze und Notizen“ Gedanken über das Schreiben, gesteht dabei seine Lust, wie Proust schreiben zu wollen, und findet nicht das Leben im Werk, sondern das Werk im Leben Prousts

Von Nora EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Roland Barthes war siebzehn, als er Marcel Proust zu lesen begann. Es sollte eine Verbindung auf Lebenszeit bleiben, wie er gesteht. Regelrecht eingetaucht sei er in dessen literarische Welt. Das Kuriose daran, dass er bei diesem lebenslangen Lesen und Wiederlesen trotzdem kaum etwas über Proust veröffentlicht hat. Das waren am Ende nur kleinere Texte. Hinzu kamen noch Vorlesungen über den Autor und sein Werk und eine dreiteilige Rundfunksendung, in der es um eine recht aufschlussreiche Spurensuche an für Proust bedeutsamen Orten ging; und Barthes hat einen riesigen Zettelkasten angelegt mit immerhin fast dreitausend Karteikarten, auf denen er Zitate, Kommentare, Fragen, Gedanken rund um den Romanriesen À la recherche du temps perdu notierte. Doch irgendwann heißt es auch, er sei kein Proust-Experte – eine maßlose Untertreibung. Wahrscheinlich hatte er dabei an eine pedantische Philologie gedacht, denn in deren Sinne wäre er wohl tatsächlich durchgefallen.

Ein von Bernard Comment herausgegebener Band versammelt nun all die Bruchstücke und zu entdecken ist eine jenseits von Akademismus beheimatete, höchst originelle, geradezu hellsichtige Literaturkritik. Der Lektüregewinn ist enorm, denn die Freiheit, die sich Barthes im Umgang mit dem Autor Proust nimmt, bringt ihn uns ungewohnt nahe, ohne dabei in Biografismus zu verfallen und dennoch der Parallelität von Leben und Kunst das Wort zu reden. Nebenbei bemerkt, scheut sich Barthes auch nicht, eine betont subjektive Haltung einzunehmen, indem er sehr Persönliches mit den Lektüreerlebnissen vermischt und konfrontiert.

Wie geht das alles zusammen? Gleich auf der ersten von 181 für das Buch ausgewählten Karteikarten lesen wir das Bekenntnis:

… eine Rechnung begleichen – oder einfach eine ‚Schuld‘, eine Verpflichtung, ein ‚Agendum‘ gegenüber einem Werk, über das ich kaum geschrieben habe, das ich jedoch vielleicht am häufigsten gelesen und wiedergelesen habe […].

Dann der Hinweis, er stecke im „Proustismus“: „Wenn man mich fragen würde, welches Werk zu schreiben ich fähig gewesen wäre, würde ich antworten, die Suche nach der verlorenen Zeit.“ Oder an anderer Stelle: „Ich glaube, es gibt einen Moment, wo man keine Lust mehr hat, über Proust zu schreiben, sondern Lust bekommt, wie Proust zu schreiben.“ Doch dann wieder eine Relativierung, er sei kein bedingungsloser oder manischer Anhänger. Dennoch, die Anziehungskraft und Faszination hören nie auf und gehen so weit, dass Barthes verblüfft feststellt, wie er bestimmte Situationen und Empfindungen aus seinem eigenen Leben immer wieder zuverlässig bei Proust vorfindet, als könne Barthes selbst nichts Neues sagen, was nicht schon im Roman beschrieben wurde. Das betrifft vor allem sein Verhältnis zur eigenen Mutter, das er bei Proust wiederzufinden glaubt.

Ein wiederkehrender Gedanke ist, dass die Recherche eine Geschichte des Schreibens sei, ein Roman des Schreibens, gleichsam ein Drama in drei Akten:

Der erste Akt spricht den Willen zum Schreiben aus […]. Der zweite Akt, der ziemlich lang ist, weil er den größten Teil der Verlorenen Zeit einnimmt, behandelt die Unfähigkeit zu schreiben.

Und der dritte Akt sei schließlich Die wiedergefundene Zeit – und mit ihr habe er die Fähigkeit zu schreiben gewonnen, aber damit endet das Drama und schließlich auch das Leben des Autors, der wie besessen genau dieses Ziel erreichen wollte und wohl wusste, dass es ein Wettlauf mit der Zeit sein würde.

Den Gedanken griff Jean-Yves Tadié in seiner Proust-Biographie in dem Abschnitt „Leben, um zu schreiben“ auf:

[…] er lebt, um zu schreiben; sein Leben wird zu einem Laboratorium; die Erinnerungen genügen nicht mehr; wie der Gelehrte löst er Experimente aus und erfindet das Reale, um es in literarische Sprache zu verwandeln.

Barthes rät dringend davon ab, nach einem Schlüssel im Roman zu suchen, denn die Figuren und Orte bei Proust seien „fragmentierte Essenzen“, bei denen die Frage nach fiktional oder real unbedeutend sei. „Die Welt liefert nicht die Schlüssel für das Buch; es ist das Buch, das die Welt eröffnet.“ Die „Population des Romans“ finde man eben keineswegs in einer eins-zu-eins Übersetzung im Milieu des Autors. „Die reale Person (Montesquiou zum Beispiel) ist romanesk, die fiktive Person (Charlus) ist real.“ Wir erfahren ja nicht einmal, ob der Erzähler im Roman Proust selbst sei. Im Rahmen dessen, was Barthes mit Essentialisierung meint, gewinnt das mit Blick auf die Namen noch eine besondere Bedeutung. Es erscheint Barthes, als ob die gesamte Recherche poetisch aus einigen Namen hervorgegangen sei. Und wer das System der Namen besitze, besitze zugleich die „Tiefensyntax“ des Buches.

In dem Aufsatz „Eine Forschungsidee“, geschrieben 1971, spricht Barthes von den widersprüchlichen Aussagen von Personen im Roman und auch von wiederkehrenden widersprüchlichen Feststellungen des Erzählers. Die Rede ist von einem „obsessiven Auftreten“ des Paradoxen. Die Rede ist auch von ambivalenten Identitäten, wenn beispielsweise die Fürstin Scherbakow sowohl als Adlige als auch durch ihren Habitus als Bordellwirtin wahrgenommen wird. Die ‚Halbweltdame’ Odette wird zur Madame Swann und Madame Verdurin zur Princesse de Guermante. Barthes kommentiert das so:

Eine unaufhörliche Permutation treibt das soziale Spiel an und erschüttert es so sehr (das Werk Proust ist weitaus soziologischer, als behauptet wird: es beschreibt genau die Grammatik des Aufstiegs und der Mobilität der Klassen), daß sich die mondäne Gesellschaft durch eine Form definieren läßt: die Umkehrung (der Situationen, Meinungen, Werte, Gefühle, Sprechweisen).

Auch wenn die Rechnung mit Proust am Ende offenblieb, so ist doch in den versammelten Materialien eine ungeheure Ideenfülle versammelt, ungeordnet gewiss. Auch hätte Roland Barthes sicherlich in einem umfassenden und geschlossenen Werk über die Recherche noch viel mehr zu sagen gehabt. Sein Zettelkasten gibt das jedenfalls zu verstehen. Die 181 ausgewählten Karteikarten mögen zwar vieles an Gedanken nur vage und mitunter nur rätselhaft andeuten, aber zu ahnen ist der Ideenreichtum darin. Von der Zeitschrift „Fiesta Letteraria“ wurde Barthes nach Prousts Modernität befragt, die er durch dreierlei Beobachtungen beschreibt: Erstens sei der Gegenstand des Buches das Buch selbst, zweitens bleibe der Erzähler „ungreifbar, namenlos, alterslos, grundlos“ und drittens sei Prousts Schreiben ein „Schreiben des Begehrens“. Ich bin sicher, ich werde die Recherche auch noch ein drittes Mal lesen.

Titelbild

Roland Barthes: Proust. Aufsätze und Notizen.
Herausgegeben von Bernard Comment.
Aus dem Französischen von Horst Brühmann und Bernd Schwibs.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022.
343 Seiten , 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783518430743

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch