Abenteuer Lyrik

Gut ein Jahr vor August Stramms 150. Geburtstag gibt Matthias C. Hänselmann dessen sämtliche Gedichte in einer wissenschaftlich-kritischen Ausgabe heraus

Von Günter RinkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Rinke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer es unternimmt, sich mit der Persönlichkeit, dem Leben und Werk August Stramms (1874–1915) zu beschäftigen, muss sich auf Befremdliches und Überraschendes einstellen. Das gilt bis heute, obwohl Stramm längst als einer der Wegbereiter und früher Meister des literarischen Expressionismus kanonisiert ist. Der von Matthias C. Hänselmann als Band 2 der in Passau erscheinenden „Kleinen Bibliothek der Lyrik in der Zeit“ herausgegebene und kommentierte Band mit sämtlichen Gedichten Stramms „samt einigen Vorstufen und lyrischen Fragmenten aus dem Nachlass“ bietet eine gute Möglichkeit, sich diesem außergewöhnlichen Dichter zu nähern – und womöglich sich für ihn zu begeistern.

Schon das Titelfoto irritiert. Ein dekorierter Hauptmann in Uniform, auf der Nase ein Kneifer, blickt einen unverwandt an. „Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut, / In allen Lüften hallt es wie Geschrei“ und so weiter, das war Jakob van Hoddisʼ Erkennungsgedicht der Expressionisten, gewissermaßen die Parole, die man sich zurief und mit der man sich als Adept der neuen Literatur zu erkennen gab. Aber diese Hauptmannsmütze sitzt fest wie angewachsen. Man kann sich den Mann als Kompaniechef vorstellen, der seine Leute stramm (!) stehen lässt, aber nicht in einem Literatencafé zwischen lauter Bohémiens.

Sieht so ein Verfasser revolutionärer Lyrik aus? Denn als revolutionär kann man die Gedichte Stramms zweifellos bezeichnen. Sie sprechen jeder Vorstellung von traditioneller Lyrik Hohn. Vom Vers bleiben nur Rudimente, Strophen gibt es kaum, Reim und Metrum sucht man vergebens; oft, vor allem in den späten Gedichten, steht nur ein Wort in einer Zeile. Hänselmann zeigt in seinem Vorwort, dass Stramms Umgebung fassungslos war, als der strebsame Postbeamte und Familienvater sich unerwartet als Dichter zu betätigen begann. Man glaubte, er habe den verzweifelten Ehrgeiz entwickelt, seine Frau, die damalige Erfolgsschriftstellerin Else Krafft, auf dem Feld der Literatur zu übertreffen. Seine Dissertation hatte Stramm über die Vision eines Welteinheitsportos geschrieben. Vielleicht enthält der Text Überraschungen, aber nach geistigen Höhenflügen klingt das Thema nicht.

Im Postdienst erwies sich Stramm als ebenso strebsam wie als Reserveoffizier. Er bildete sich fort und erreichte die Stellung eines Postinspektors und damit den „seinem Alter gemäß vorläufig höchstmöglichen Beamtengrad“ (Hänselmanns Vorwort). Nebenbei absolvierte er regelmäßig militärische Dienstübungen, so dass er auch hier „mit der Beförderung zum Hauptmann den für Reservisten höchstmöglichen Dienstgrad erreichte“ (ebd.) Ob Rüdiger Görner ihn (kürzlich in der FAZ) richtig einschätzt, wenn er ihn „nach außen hin ein[en] Kleinbürger“ nennt, „wie ihn Heinrich Mann oder Alfred Döblin […] erfunden haben könnten“, erscheint angesichts dieser Karriere zweifelhaft. Hinzu kommt, dass Stramm sich an der Berliner Universität einschrieb und neben seinem Dienst regelmäßig philosophische und nationalökonomische Vorlesungen besuchte.

Die für sein Leben als Dichter entscheidende Beziehung konnte August Stramm zu Herwarth Walden, dem Herausgeber der Zeitschrift Der Sturm, aufbauen. Walden publizierte Stramms Dramen und viele seiner Gedichte. Er gab, in Abstimmung mit dem Dichter, die Sammlung der Liebesgedichte unter dem Titel Du sowie, nach dem Tod Stramms an der Ostfront am 1. September 1915, die Kriegsgedichte unter dem Titel Tropfblut heraus. Der Herausgeber des vorliegenden Bandes erläutert ausführlich mögliche Ursprünge des Titelwortes. Überhaupt ist der textkritische Apparat, der Angaben zur (vermuteten) Entstehungszeit, Publikationsdaten und sprachliche Varianten zu jedem Gedicht enthält, für die Forschung sehr nützlich.

Dieser Publikation liegen die Erstdrucke aus der Zeitschrift Der Sturm zugrunde, von denen es in den Gedichtbänden einige Abweichungen gibt, was Orthographie und Zeichensetzung angeht. Nur eine Unstimmigkeit hat der Rezensent gefunden: Das Wort „Schoß“ in dem Gedicht Schlacht liest man in dieser heute üblichen Schreibweise, während es Thomas Anz in seiner Expressionismus-Monographie (2002) nach der früheren, von Jeremy Adler 1990 herausgegebenen Sammlung als „Schooß“ zitiert. Im Gedicht Abend finden wir diese Schreibung, während das Wort in der Sammlung Tropfblut „Schooss“ geschrieben sei, so die Erläuterung im Anhang.

Überzeugend ist die Anordnung der Gedichte, die einige von Walden in Tropfblut aufgenommene Gedichte aus dieser Sammlung herausnimmt und wieder in ihren ursprünglichen Entstehungskontext rückt. Die Arbeitsweise Stramms kann man kennenlernen, wenn man die in dem Band enthaltenen Vorstufen miteinander und mit der Endfassung vergleicht. So sind zu dem Gedicht Untreu sechs Vorstufen abgedruckt, die deutlich machen, wie viel Arbeit nötig war, um etwa zu einem Ausdruck wie „die glutverbissnen Lippen“ zu gelangen. Hänselmann dokumentiert Stramms skrupulösen Umgang mit der Sprache auch im Vorwort an Beispielen ausgewählter Briefe an Herwarth Walden. In einem geht es um die Wortneuschöpfung „schamzerpört“ im Gedicht Freudenhaus, mit der sich ein Drucker nicht abfinden mochte, auf der Stramm aber bestand.

Bleibt die Frage, welchen Gewinn literaturinteressierte Laien aus der Lektüre dieser befremdlichen Gedichte ziehen können. Darauf gibt es mehrere Antworten. Erstens wird das Gedicht als solches von Stramm überaus ernst genommen. Die expressionistische „Wortkunst“ geht aus einem intensiven Verdichtungsprozess hervor. Lothar Schreyer, der einige Jahre für die Zeitschrift Der Sturm als Redakteur arbeitete, beschreibt den Prozess wie einen mehrfach wiederholten Destillationsvorgang, bei dem die reine (Sprach-)Substanz, manchmal nur ein Wort, übrigbleibt. Stramm skelettiert nicht nur Sätze, ohne sich um Regeln der Grammatik zu kümmern, vielmehr verschmilzt er Wörter zu Neologismen, durch die verborgene Sinndimensionen erschlossen werden. Das Gedicht Schlachtfeld beginnt mit den Worten: „Schollenmürbe schläfert ein das Eisen.“

Sowohl durch Wortneuschöpfungen als auch durch die Verletzung grammatischer Regeln, z. B. der grammatischen Kongruenz zwischen Subjekt und Verb, sowie die Missachtung herkömmlicher semantischer Verträglichkeit (kann Eisen einschläfern?) schafft Stramm eine Sprache der Entgrenzung: „Die Form des Wahrgenommenen und die Empfindung des Wahrnehmenden gehören ein und derselben Ordnung an“ (Frank Krause). Die Entgrenzung von Subjekt und Objekt lässt sich gut an Stramms bekanntem, auch in Schullesebüchern zu findenden Gedicht Patrouille zeigen:

Die Steine feinden
Fenster grinst Verrat
Äste würgen
Berge Sträucher blättern raschlig
Gellen
Tod.

Die Dinge sind hier „zu potentiell todbringenden Akteuren dynamisiert“, so formuliert es Silvio Vietta. In späteren Gedichten tragen zur Dynamisierung die immer weitere Verknappung und – ein zweiter wichtiger Aspekt – der Klang der Wörter bei: „Wägen / Wägen wegen / Wegen regen / Stauen / Lauen“ usw. (Weltwehe). Liest man die Gedichte laut, kann der Vortrag zu einem atemlosen oder kurzatmigen Jagen werden, das den Inhalt (etwa einen Sturmangriff) sinnlich erfahrbar macht.

Schließlich, ein dritter Aspekt, werden die Themen Sexualität und Gewalt in ein spannungsvolles, nicht selten symbiotisches Verhältnis gesetzt. Sicher nicht zufällig ist der erste Gedichtzyklus der Liebe, der zweite dem Krieg gewidmet. Die Liebe wird nicht ohne den Tod gedacht. Das Gedicht Erfüllung, der erfüllten sexuellen Begierde gewidmet, endet mit den Worten: „Über uns segnet der Tod / Säender Tod!“ Das dialektisch gebaute Gedicht Schön, in dem Gegensätze unvermittelt nebeneinander stehen („Mord Gebären / Sterben Sein“) mündet in zwei Ausrufen: „Dein Körper flammt! / Die Welt erlischt!“). Im Gedicht Schlacht – darauf hat Thomas Anz aufmerksam gemacht – heißt es unvermittelt: „Liebe spreizt den Schoß“.

„Der aggressive und der erotische Vitalismus gehen zuweilen Verbindungen ein“, schreibt Anz. Die Kriegsgedichte sind nicht kriegskritisch, sondern in ihnen „mischen sich Grauen und Faszination“ (ebd.). Aus dem Vorwort geht hervor, dass Stramm die Möglichkeit verwarf, sich von einem weiteren Fronteinsatz befreien zu lassen. Kameradschaft, Ehrgefühl, Patriotismus, eine Art Sucht nach Steigerung des Lebensgefühls angesichts des stets gegenwärtigen Todes, dabei genaues Registrieren des Schrecklichen um ihn herum – all das zusammen bewegte Stramm im Sommer 1915 zur Rückkehr an die Front, von wo er seine letzten acht Gedichte an Walden schickte.

Stramms Bedeutung für die Entwicklung der modernen Lyrik im 20. Jahrhundert kann kaum überschätzt werden. Wer seine Gedichte heute liest, lässt sich auf Lyriklektüre als Abenteuer ein. Dass die Kriegsgedichte wieder unmittelbar aktuell werden würden, war vor nicht sehr langer Zeit noch nicht abzusehen. 

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August Stramm: Sämtliche Gedichte. Samt einigen Vorstufen und lyrischen Fragmenten aus dem Nachlass.
Kritisch erarbeitet, kommentiert und mit einem Vorwort versehen von Matthias C. Hänselmann.
Ralf Schuster Verlag, Passau 2022.
236 Seiten , 29,96 EUR.
ISBN-13: 9783940784599

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