Wider das Schlafwandeln
Grete Weils Roman „Der Weg zur Grenze“ liegt erstmals in einer Leseausgabe vor
Von Günter Helmes
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Schriftstellerin, Übersetzerin, Rezensentin und Fotografin Grete Weil (1906-1999) wuchs in München in einem großbürgerlichen jüdisch-liberalen Milieu auf. Der sich für Millionen als fatal, als tödlich erweisende Glaube an die sogenannte deutsch-jüdische Symbiose gehörte ebenso selbstverständlich zu diesem Milieu wie das rege, das Sozialleben prägende Interesse an Kunst und Kultur. Zu Weils Freundeskreis gehörten beispielsweise Erika und Klaus Mann.
Seit 1935 lebte Grete Weil im niederländischen Exil. Zwölf Jahre später kehrte sie nach Westdeutschland zurück, „um die Deutschen in einen öffentlichen Dialog über die Nazivergangenheit und die deutsch-jüdischen Beziehungen der Nachkriegszeit zu ziehen“ (I. Richardsen) – jahrzehntelang vergeblich.
Als Schriftstellerin, als „Chronistin der Besatzungszeit in den Niederlanden“ (I. Richardsen) sah Weil ihre Aufgabe nach eigenen Worten darin, „gegen das Vergessen anzuschreiben. Mit aller Liebe, allem Vermögen, in zäher Verbissenheit.“ Von dieser Absicht zeugen u.a. dokumentarisch und / oder autobiographisch gesättigte Romane wie Ans Ende der Welt (1949), Tramhalte Beethovenstraat (1963) und Meine Schwester Antigone (1980).
Nun ist mit Der Weg zur Grenze ein weiterer, von ihr selbst später nicht mehr zur Veröffentlichung vorgesehener Roman erschienen. Er ist ihrem ersten, 1941 im KZ Mauthausen ermordeten Mann Edgar Weil gewidmet und entstand bereits im Winter 1944/45 in Amsterdam unter schwierigsten Bedingungen. Der Roman fiktionalisiert reichlich eingeflossenes Autobiographisches auf eine allgemeingültige Bedeutung hin. Im Sinne von „Trauerarbeit und Abbitte“ (I. Richardsen) stellt er auch eine Form von Selbsttherapie dar.
Beigegeben sind dem Roman u.a. erhellendes Material über die 1943 von Herbert Meyer-Ricard aufgebaute antifaschistische „Hollandgruppe Freies Deutschland“, der auch Weil angehörte, sowie ein Nachwort der Herausgeberin Ingvild Richardsen. Dieses informations- und thesenreiche, hier nur punktuell anzusprechende Nachwort gilt dem Leben Grete Weils im zeit- und kulturgeschichtlichen Kontext, ihrer „Bedeutung als Schriftstellerin“ und dem Roman Der Weg zur Grenze selbst. Mit etlichen Fotografien und Dokumenten angereichert, überzeugt das Nachwort insgesamt. Allerdings enthält es eine ganze Reihe von Informationen, die dann im Material zur „Hollandgruppe“ noch einmal auftauchen.
Der Roman, dessen Titel mehrdeutig ist, wartet mit einer bunten Welt an Figuren aus unterschiedlichen Klassen, Schichten, Ländern und Generationen auf, die wiederum, dem Naturell nach sehr verschieden, unterschiedliche Berufe, Überzeugungen, Lebensstile und Schicksale haben. Er, diesbezüglich ansatzweise ein Panorama, lässt sich in die Nähe großer Gesellschafts- und Zeitromane der bzw. über die Weimarer Republik rücken wie Lion Feuchtwangers Erfolg und Die Geschwister Oppermann, Oskar Maria Grafs Unruhe um einen Friedfertigen und Der Abgrund, Adam Scharrers Maulwürfe, Anna Seghers Der Kopflohn oder Gerson Sterns Die Waage der Welt.
Der markanteste Unterschied zu diesen Romanen dürfte sein, dass in Der Weg zur Grenze Privates, Liebesglück und Liebesleid sowie eigenes Handeln und Nichthandeln zumal, deutlich im Vordergrund steht. So geht man nicht fehl, wenn man den Roman als einen Entwicklungs- und Liebesroman bezeichnet, in dem dramatische Zeitläufte als unerbittlicher, Tod und Verderben, doch auch (Selbst-)Erkenntnis bringender Antagonist bzw. Katalysator eine entscheidende Rolle für die Protagonisten und ihnen Nahestehende spielt.
Der Weg zur Grenze, gegen Ende von erschriebenen Zufällen nicht ganz frei, wirkt durch den häufigen Gebrauch des Präsens, von erlebter Rede und (zuweilen steifen) Dialogen frisch und plastisch, überzeugt aber auch durch Naturschilderungen und poetisch-lyrische Passagen. Gelegentliche Kommentare der Erzählerstimme gelten sowohl den Figuren als auch zeitgeschichtlichen Ereignissen und Fragen, beispielsweise der Machtübergabe an Hitler und, ansatzweise, der Kollektivschuldthese.
Der Roman besteht aus einer Rahmen- und einer Binnenhandlung. Die Rahmenhandlung, selbst eine packende Erzählung, spielt „im späten Februar des Jahres 1936“, die Binnenhandlung in den ca. 15 Jahren zuvor. In beiden Teilen ist der Tod außerordentlich bedeutsam.
Die aus „gutem Hause“ stammende Monika Merton, durch starkes Rauchen als emanzipiert und intellektuell, aber auch als ‚strapaziert‘ angedeutet und erzählerisch als Jüdin markiert, und der jüngere, noch knabenhafte Andreas von Cornides, ein weltfremder und Politik verabscheuender Schöngeist, sitzen inmitten fröhlich Nazi-Liedgut schmetternder junger Leute zusammen in einem „Skizug“, der „von München aus ins bayerische Oberland“ fährt. Zufälliger Weise haben sie sich, die sich nur oberflächlich kennen, auf dem Bahnsteig getroffen, er auf einem lapidaren Sonntagsausflug, sie hingegen auf der Flucht vor den Nazis.
Andreas‘ aufbrechende Anhänglichkeit an Monika sowie weitere Umstände bringen es mit sich, dass die beiden zwei gefahrvolle Tage in einem hochgelegenen „Week-End-Häuschen“ verbringen müssen. Hier erzählt Monika Andreas aus ihrer Jugend, vor allem aber von ihrer Entwicklung und ihrer in einer Katastrophe endenden Liebes- und Ehegeschichte mit ihrem gleichaltrigen, als Adoleszent genialisch dichtenden Cousin Klaus. Dem, einem Intellektuellen durch und durch schon als Jugendlicher, war sie, eine kapriziöse, „schwierige und verwöhnte Sechzehnjährige“, für die „Glück die einzige Tugend“ ist, ohne es zu wissen gleich „verfallen“.
Schon zu Anfang hatte es im Übrigen aus Monikas stets „scharf[]“ selbstkritischem Mund mit Blick auf Andreas geheißen:
Ich werde dich aus deiner Ruhe reißen […], dass dir Hören und Sehen vergeht. Du bildest dir ein, die Welt zu kennen, weil du sie mit deinen Künstlernerven fühlst, aber […] das reicht nicht aus […], das ist ein tödlicher Luxus, dem auch ich früher ergeben war. […] Hast du schon einmal von Dachau gehört?
Dass Weil beim Verfassen des Romans mit diesem Andreas‘ bisherige Traumwelt zerstörenden Vorhaben Monikas auch eine von ihr selbst aufzuklärende Leserschaft vor Augen hatte, daran lässt die nachfolgend skizzierte Binnenhandlung keinen Zweifel. Für die Rahmenhandlung ist zuvor aber noch nachzutragen, dass Monika die Flucht über die Grenze nach Österreich gelingt. Andreas hingegen – aber es soll an dieser Stelle nicht zu viel vorweggenommen werden.
Die ersten gut fünfzig Seiten der Binnenhandlung spielen in den früheren 1920er Jahren. Es geht um Monikas Familie, um Münchens bessere Kreise sowie um Monikas Backfisch-‚Affäre‘ mit dem kunstsinnigen Armin Hesse, der ein tragisches Schicksal erleidet.
Dann wechselt die Szenerie ins „rasende[], menschenfressende[]“ Berlin der späten 1920er Jahre. Entsprechend erweitert sich das Themenspektrum. Beiherspielend ist nun beispielsweise auch von Klassenjustiz und der Wissenschaftslandschaft zwischen Elfenbeinturm, Konservativismus und Rechtsradikalismus die Rede.
Ausführlicher aber richtet sich der Blick auf Klaus, dessen anfänglich „gläubige[s] Pathos“ sich in „Trauer“ und Melancholie verwandelt hat und der, nach eigener Einschätzung in allen Belangen bindungsunfähig, keinen Beruf zu finden vermag. Schließlich nimmt er widerwillig eine Stelle im Pharmaunternehmen eines patriarchalen Jugendfreundes seines Vaters mit Namen Dr. Hartmann an. Der zählt zusammen mit seiner Tochter Thea zunächst als Skeptiker und dann als glühender Anhänger der Nazis zu den weiteren profilierten Romanfiguren.
Noch einlässlicher wird Monika thematisiert. Sie, die „Maßlose“, studiert mittlerweile recht uninspiriert Geschichte und lebt flott. Ihr privatistisches Glücksstreben und ihr „Individualismus in Luxusausgabe mit Goldschnitt“ werden radikal durch den mit ihr befreundeten, aus proletarischen Verhältnissen stammenden Sozialisten Hans Hauser in Frage gestellt. Dies mit mäßigem Erfolg freilich, „rollt“ Monika doch trotz sich mählich weitenden politischen Horizonts und einsetzender Selbstproblematisierung weiterhin „ohne Richtung und Ziel, wie bisher an den Peripherien entlang.“ Hauser, ins Visier der SA geraten, wird schließlich von dieser in Monikas Beisein erschossen. Daraufhin flieht Monika aus Berlin.
In Paris und dann an der Côte d’Azur, wir schreiben das Jahr 1930, sehen wir sie wieder, nach wie vor konzeptlos und politisch nicht eben hellsichtig. Immer stärker wird ihr bewusst, dass sie Klaus liebt, auch wenn das beispielsweise von dessen Mutter Beatrix – auch sie eine profilierte Figur des Romans – für ungut gehalten wird. Ein heruntergekommener Fremder macht sie mit der wahren Natur des Krieges und dem Pazifismus bekannt, ein zum Freund werdender Raymond mit gelebter Humanität und mit den vertrackten, explosiven deutsch-französischen ‚Naturen‘ und Beziehungen. Und Klaus und sie finden als Liebende zueinander. Schließlich heiraten die beiden, empfinden aber schon nach wenigen Monaten ihre Ehe als „unerträglich“ und werden sich immer fremder.
Zurück in Berlin, bricht Monika ihr Studium ab, versucht zu verdrängen, freundet sich wie Klaus mit dem Kommunisten und früheren Nationalsozialisten (Freiherrn) Klaus (von) Santen und dessen Kreis an, lässt sich von ihrem „Dämon“ dazu treiben, „ihre Welt [Klaus] in Trümmer zu schlagen“, wird depressiv, begeht – nunmehr wieder in München und im Jahr 1932 – einen Selbstmordversuch, fängt dort eine Lehre als Fotografin an, hat zu Sozialisten und Sozialistinnen Kontakt, kommt wieder mit Klaus zusammen, engagiert sich wie dieser in einem Landschulheim des charismatischen, in gewisser Hinsicht weltweisen Albert Meyerhof in einer idyllischen, scheinbar ‚windstillen Ecke‘ der bayerischen Berge.
Dann der Reichstagsbrand, die Märzwahlen 1933, der „Umsturz in Bayern“, der sogenannte Röhm-Putsch Mitte 1934. Vergeblich versuchen Monika und Klaus über die zynischen Hartmanns, eine befreundete „Schutzhaftgefangene“ aus Berlin vor dem als Selbstmord inszenierten Tod zu retten. Monikas Vater stirbt in Zusammenhang mit einer vorübergehenden Verhaftung durch die SA, die Mutter flüchtet ins Ausland. Das Landschulheim fällt an die Hitler-Jugend, Meyerhofer und dann auch Klaus werden verhaftet. Der ist, als Jude, aller Bemühungen Monikas zum Trotz nicht wieder freizubekommen und landet in Dachau. In diesen Zusammenhängen spielen sein ehemaliger Chef Hartmann und ein alter Freund der Mertons eine schändliche Rolle. Der letzte Satz des Romans aus dem Mund des „Mäcen[s]“ des Landschulheims Barons Freiberg lautet: „’Ja, Monika, er ist tot.’“
Dass Der Weg zur Grenze der Herausgeberin nach „in der deutschen Literatur einzigartig“ dastehe, trifft nur begrenzt zu, auf die Umstände der Entstehung und vielleicht auf die Funktion für die Autorin nämlich. Nur begrenzt zuzustimmen ist auch der Formulierung, der Roman hebe – anhand der Figuren des „Golem“ Dr. Hartmann und dessen Tochter Thea – „die Rolle der Wirtschaft an der Etablierung des deutschen Faschismus“ hervor. Die Herausgeberin selbst schränkt ein, der Roman thematisiere aber nicht die – doch entscheidende – Rolle der nur einmal erwähnten Schwerindustrie beim Aufsatteln der Nazis.
Überzogen scheint es überdies zu sein, von einer „Tour de Force durch die Weimarer und die NS-Zeit bis 1936“zu sprechen. Dazu hätte der Roman u.a. ausführlicher auf eher unterrepräsentierte Themen wie „jüdische Identität“ und „Antisemitismus“ eingehen müssen. Dass er dies nicht tut, hat damit zu tun, dass für Monika und Klaus ihr jüdisch Sein eine untergeordnete Rolle spielt. Wenn sie rassistisch verfolgt werden, reagieren sie darauf kaum als ‚Juden‘, eher als selbstbewusste und gebildete bürgerliche Deutsche.
Uneingeschränkt zustimmen kann man der Herausgeberin hingegen darin, dass Der Weg zur Grenze vorführt, „wie unumgänglich es ist, sich der politischen Realität zu stellen, und wie gefährlich, sich von ihr ausgenommen zu fühlen.“ In den auch das Nachwort beschließenden, heute wie eh und je hoch aktuellen Worten Gregor Santens: „’Ein Mensch ohne Politik ist wie ein Schlafwandler – über kurz oder lang wird er von seinem Dach herunterfallen’.“
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