Kein Reisebericht

Annemarie Schwarzenbachs Afghanistan: „Die vierzig Säulen der Erinnerung“ in einer neuen Ausgabe

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man kann die Sache auch von hinten aufzäumen: Annemarie Schwarzenbachs Berichte über ihre Reise nach Afghanistan waren ein Flop, ja misslungen (zumindest als Berichte). Die Texte umfassen in der nunmehr vorliegenden Ausgabe eben 40 Seiten, was wohl für ein kleineres Format und schütter gesetzt für 80 bis 100 Seiten hätte reichen können. Das Manuskript ist also für einen Reisebericht schlicht nicht umfassend genug. Die Fotografien, die auf der Reise, die Schwarzenbach 1939 unternommen hatte, gemacht worden waren und die sie dem Manuskript seinerzeit beigefügt hatte, hätten vielleicht noch ein wenig Volumen gebracht. Aber selbst unter diesen Umständen wäre aus dem Konvolut kein anständiger Reisebericht geworden: Der Textumfang ist nicht nur zu klein, die Texte sind auch noch zu subjektiv, es gibt zu wenige Ansichten von irgendeiner der Stationen dieser Reise. Kein Wunder, dass sich der Verlag, der seinerzeit im Vorfeld noch willens gewesen war, Schwarzenbachs Afghanistan-Bericht zu drucken, angesichts der eingelieferten Texte gegen die Veröffentlichung entschied. Und auch wenn zu den Gründen Gesichertes nicht zu finden ist, liegen einige nahe: Zu sehr hatte Schwarzenbach doch gegen jede Konvention des Reiseberichts verstoßen, als dass etwas anderes zu erwarten gewesen wäre.

Und trotzdem, aus genau demselben Grund ist es höchst bedauerlich, dass der Schweizer Morgarten-Verlag, der im September 1939 bereits ein Buch Schwarzenbachs veröffentlicht hatte (Das glückliche Tal), seinerzeit das Wagnis nicht eingehen wollte und auf den Druck verzichtete. Denn die eigene, irritierende Qualität dieser wenigen Texte, die zugleich ein ungeheures Terrain abzuschreiten vorgaben, ist unübersehbar, und das in mehrfacher Hinsicht. Unübersehbar liegen hier keine Reiseberichte vor, nicht einmal subjektiv geprägte. Aber unübersehbar knüpfte Schwarzenbach an diese Reise Reflexionen über ihr Verhältnis zur Welt, die ihr bis dahin vorliegendes Werk konsequent weiter entwickelten und ergänzten.

Schwarzenbach hat dies, wie Zeugnissen zu entnehmen ist, die Walter Fähnders (der diesen Band mit einem knappen Nachwort versehen hat) bereits 2008 publiziert hat, selbst gesehen, aber warum sie nun gerade dieses Konzept verfolgt hat, bleibt dennoch solange unklar, wie die Reiseberichtfolie dominant bleibt. Aber was tritt an ihre Stelle?

Konventionell gedacht, wird man persönliche Ursachen für die Form verantwortlich machen wollen. Schwarzenbach hatte ihre Reise nach Afghanistan im Juni 1936 angetreten, und zwar in Begleitung der Autorin und Fotografin Ella Maillart. Im August hatten die beiden reisenden Frauen Afghanistan erreicht, trennten sich aber im Oktober. Schwarzenbach setzte ihre Reise fort, verließ Afghanistan Ende Dezember 1939 und kehrte bereits im Januar 1940 wieder in die Schweiz und in ein Europa zurück, das mittlerweile in einem weiteren Krieg gefangen war.

Die Vierzig Säulen zeigen von dieser Reise vergleichsweise wenig. Selbst aus der Reihenfolge der zehn Texte, die von Schwarzenbach vorgegeben wurde, lässt sich der Reiseverlauf nicht rekonstruieren. Die erkennbaren Stationen folgen nicht der Abfolge der Reisestationen, sondern einer anderen Logik.

Für diese Logik jedoch muss anscheinend die Iteration der realen Reise aufgegeben werden und durch Assoziationspunkte ersetzt werden, die anders geordnet werden können. Man wird diese Texte mithin kaum als Reiseberichte lesen können, freilich auch nicht als Reflexionen persönlicher Zustände, soweit sie nicht vom persönlichen Befinden und der Identität dieser konkreten Persönlichkeit abstrahierbar sind. Dafür muss sie den faktualen Gestus fast vollständig aufgeben und offen fiktional überschreiben.

Dieses doppelte Moment scheint bereits im Aufgangstext des Bandes auf „Chihil Sutun“, der auf die vierzig Säulen eines Palastes der „persischen“ Stadt Isfahan verweist (der im Iran liegende Palast schreibt sich in der heutigen Umschrift Tschehel Sotun und wurde 1647 erbaut). Nun weist der Palast allerdings nur zwanzig Säulen auf, erst mit dem Blick über den davor gelagerten Spiegelteich verdoppelt sich die Zahl. Der gespiegelte Blick auf den Gegenstand also macht ihn erst vollständig, nicht das Gebäude selbst.

Allerdings ergänzt Schwarzenbach diese naheliegende Interpretation mit dem Verweis auf die metaphorische Verwendung der Zahl 40, die im einschlägigen geografischen Raum, der bis Afghanistan reicht, für Reichtum und Überfluss steht. Der gespiegelte Blick, nicht der unvermittelte zeigt mithin erst das wahre Bild, den wahren Reichtum einer Kultur, der sich der Reisenden erschließt. Mithin nicht der sachliche, deskriptive Blick, sondern erst der, der durch die persönliche Erfahrung, die Erinnerung, ja durch die Erinnerungen einer ganzen Kultur gebrochen wird. Die Überschreitung des Faktualen durch das Fiktionale, die Überhöhung der Realität durch eine Spannbreite von Brechungen, die als Reflexion bis hin zur Erfindung auftreten, ermöglicht einen angemessenen Blick, was auf das stilistische Konzept Auswirkungen haben muss.

Allerdings hat das für die auf diese Weise institutionalisierte Erzählfunktion kaum die gewünschte Wirkung. Am Ende steht eben kein gelungener Blick, keine gelungene Reise, keine entwickelte Persönlichkeit, sondern nur zerbrechliche Erinnerungen an ein Subjekt, das sich zum Zentrum einer reisenden Bewegung gemacht hat.

An diesen Punkt gekommen, ist es konsequent, dass die nun vorgelegte Ausgabe auf die Fotografien, die Schwarzenbach dem Projekt zugeordnet hatte, verzichtet hat. Bestünde doch die Gefahr, dass den Fotografien nicht ein eigenes eben auch fiktionales Narrativ zugestanden würde, das zudem nicht zwingend das des Textes stützen muss. Stattdessen hätte die Gefahr bestanden, dass die Fotografien als Authentizitätssignale missverstanden würden, also als Korrektiv des Textes, der auf solche Signale ja seinerseits verzichtet.

Stattdessen jetzt nur reiner Schwarzenbach-Text.

Titelbild

Annemarie Schwarzenbach: Die vierzig Säulen der Erinnerung.
Golden Luft Verlag, Mainz 2022.
44 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783982284408

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