Berührt und betroffen lachen und genießen

Verena Rossbachers tragikomischer Roman „Mon Chéri und unsere demolierten Seelen“ ist ein Ereignis

Von Günter HelmesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Helmes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kurz und gut: einfach fabelhaft!

Mit diesem Urteil könnte es nach der Lektüre von Verena Rossbachers viertem Roman Mon Chéri sein Bewenden haben. Zumal sich der Leser darauf berufen könnte, dass der Roman der Autorin im vergangenen Jahr den Österreichischen Buchpreis eingetragen und damit quasi ein Gütesiegel bekommen hat. Nicht schreiben müssen von daher, sondern sich nur an dem Roman ergötzen und bereichern, ja stärken sogar: Das wäre es doch!

Aber selbstverständlich geht das an dieser Stelle nicht, an der Beschreibung und Einschätzung und neben Lob wohl auch Mäkelei erwartet wird. Von daher einen nächsten und dann noch weitere Schritte in den trotz 500 Seiten schlank anmutenden Wälzer hinein.

Der beginnt mit einem knappen, an den Leser gerichteten und – mit Handke als Gewährsmann und leitmotivisch Angesprochenem – um naturalistische Drastik und realistische Dezenz kreisenden poetologischen „Prolog“ der Protagonistin und Ich-Erzählerin Charly Benz. Dann schließt sich der Binnentext an, der drei schnöde „Teil“ genannte Teile mit 133 Kapiteln unterschiedlicher Länge umfasst – Spotlights, filmische Einstellungen diese zuweilen nur, ganze Szenenfolgen einige andere hingegen, allesamt aber mit sprechenden Titeln versehen.

Zunächst der Annäherung halber eine Charakterskizze des Romans: Der ist dem „Prolog“ nach trotz aller angestrebten, aber nicht ganz eingehaltenen Abstinenz in Sachen „Sex“ eine „Liebesgeschichte. Irgendwie“. Dem ist mit den Hinweisen zuzustimmen, dass es zur kunstvollen Figurenanlage der schillernden Ich-Erzählerin beiträgt, dass diese ihrer Absicht nicht ganz gerecht werden kann, und dass Liebe hier im enggeführten wie in einem umfassenderen Sinn zu verstehen ist.

Denn Mon Chéri ist auch, ist möglicherweise vor allem ein großartiges Buch über die Freundschaft, über Lebensentwürfe und Lebensvollzüge, über Pläne und Zufälle, über Begehren, Mögen, Wertschätzen und eben Lieben, über Spontaneität und Vernunft, über Anfänge, Aufbrüche und Schlusspunkte, über Sackgassen, Einbahnstraßen, Highways, Trampelpfade, offenes Gelände und unverstellte Horizonte, über Begegnungen und Abschiede, über Geburt, das Sterben und den Tod. Mon Chéri ist ein Buch voller Humanität – und aller erlittenen Tiefschläge der clownesk sich schützenden Ich-Erzählerin zum Trotz eine sprühende Hommage an das Leben allem anderen voran.

Der Roman zeugt von Klugheit, Beschlagenheit, Sensibilität und Vertrautheit mit unterschiedlichen Milieus, Lebensräumen, Künsten, Disziplinen und (Sub-)Kulturen. Er wartet mit reizvollen, z.T. außerordentlichen und allemal Interesse heischenden Figuren wie Charlys Schwester, der „zertifizierte[n] Schamanin“ Sybille, dem softigen Kulturjournalisten Hans Hänse Quandt oder dem „Kafkaspezialist[en]“ Mo Gabler auf.

Unter all diesen Figuren sticht die, wenn es um ‚das Leben‘ geht, auf ihre Art zugleich stupend erfahrungsblasse und überaus erkenntnisgesättigte, die allemal exzentrische Charly Benz hervor, eine „mausallein“ lebende 43-jährige Schweizerin, sowie ein von ihr nur mit Herr Schabowski angeredeter „Dahlemer Spießer“ mit Vornamen Herbert. Der ist der „Postengel“ der u.a. an „Postangst“ leidenden Charly und ihr Vertrauter, dem sie (und damit uns) aus Vergangenheit und Gegenwart erzählt. Als Kumpel und dann Herzensfreunde, als odd couple-Variante begleiten sie sich schließlich auf nahezu allen Wegen.

Gedankenreich und -verspielt und doch bzw. gerade deshalb unterhaltsam und kurzweilig, wie er ist, hat der handlungsreiche Roman zugleich beträchtlichen Tiefgang und mitreißenden Schwung. Das hängt zum einen mit seiner imponierenden Sprachmächtigkeit zusammen, werden doch neben gehobenen und teils schräger Alltagssprache entlehnten Tönen häufig auch witzige, satirische, ironische, polemische, sarkastische und sogar freche oder ungehörige Töne angeschlagen. Wie schön jedenfalls, auch Formulierungen wie „am öftesten“ oder „schneller, als ein Ferkel blinzelte“ zu lesen, wie schön andererseits, Archaismen wie „angelegentlich“, „Unbill“ und „dräuen“ zu begegnen. Und erfreut es nicht, wenn ebenso sprachschöpferisch wie treffend beispielsweise von „pützelnden“ Händen“ zu lesen ist und das eigene Vokabular durch Bayuwarisch-Österreichisches wie „wurlen“, „herumstrawanzen“, „schiach“, „patschert“ oder „hutschen“ bereichert wird?

Zum anderen brilliert der Roman mit reichlich tragisch, leid- oder peinvoll unterlegter Situationskomik und Skurrilität, mit kurzweiligen Abschweifungen und einem blendenden Stakkato an ausgefallenen Bildern, Assoziationen und inneren Filmen. Damit nicht genug, glänzt er mit einer durchdachten, sowohl Einsicht fördernden wie die Neugier wachhaltenden Schachtelung der erzählten Zeiten. Die umfassen annähernd vier Jahrzehnte und damit auch die Kindheits-, Teen- und Twenjahre der Erzählerin. Das Gros an Erzähltem spielt sich aber in den späten 2010-er Jahren ab. Und zwar in Berlin, wohin Charly Benz 2009 nach desaströs endenden Jahren als erfolglose Langzeitstudentin in Zürich gezogen, nein, geflohen ist.

Obendrein wird der Leser auch im Binnentext von Beginn an immer wieder angesprochen, indem die lange in ständiger Selbst- und imaginierter Fremdbeobachtung und wie in einem Intertext lebende Charly Benz beispielsweise das eigene Erzählen reflektiert. Nachfolgend tut sie dies (auf Seite 301) mit Blick auf ihre „vollmundige[] Ankündigung“ in der Vorbemerkung, „eine garantiert sexfreie Zone einzurichten“, da „Sexszenen […] nur demütigen“:

Ich habe mir vorgenommen, hier niemanden zu demütigen […], aber nun haben wir den Salat: Ich bin schwanger. Und […] auch ein lieber Leser muss sich selbstverständlich sehr selbstkritisch fragen: […] Hatte die Charly Benz irgendwann versehentlich Sex und ich habe es einfach überlesen? […] Ich schlage […] hier einen Kompromiss vor: Für alle, die sich […] nicht demütigen lassen wollen, schreibe ich jetzt einen informativen Satz. Dann blättern Sie schleunigst weiter auf Seite 313 und haben die gefährliche Klippe umschifft. / Für alle anderen gibt es nach dem informativen Satz sozusagen den Masters Cut oder wie das heißt, die extended version.

Diese Charly Benz: Sie ist, da kann man (empört allemal über seine Ausdrucksweise) Herrn Schabowski am Romanende nur zustimmen, eigentlich eine „Superschnecke“. Nur erkennt das lange Zeit niemand: nicht die speziellen Eltern und die ungewöhnliche Wege einschlagenden Geschwister, nicht die tumb-fröhlichen Mitschüler in St. Gallen, nicht die schartigen Dozenten und Kommilitonen in diversen Studienfächern, nicht die Kollegen in einer „veganen Foodcompany“, für die Charly im Marketing arbeitet, vor allem aber: nicht die Männer.

Warum das so ist? Die offenherzige und blitzgescheite Charly ist – man könnte sie mit Stifters Brigitta oder mit Feuchtwangers Margarete Maultasch in Verbindung bringen, in Sachen Pfiffigkeit und Eloquenz aber auch mit ‚Heldinnen‘ Irmgard Keuns – „’keine schöne Frau’“, hat nach eigenen Worten vielmehr ein „Aussehen wie eine demolierte Giraffe mit schlechter Konstitution.“ Schon mit zwölf Jahren wird ihr schmerzhaft klar, dass andere wohl in ihr nur eine „Lachnummer“ sehen, vor allem der „cool[e]“ Dragaschnik, die Leidenschaft, die Liebe (?) ihres Lebens. Danach kann sie, „zum Abschuss freigegeben“, nichts mehr ernst nehmen, führt ein an „Peinlichkeiten“ und „Unsinn nicht gerade arme[s] Leben“ und entwickelt eine „ironische Grundhaltung“, die für sie lange Zeit „in jeder Lebenslage Sinn“ macht.

Und so steht sie denn schließlich da wie eine Frau, deren „ganzes Leben verregnet gewesen“ und „deren Zeit abgelaufen“ ist, „[e]insam, ausgebrannt, verbittert, verängstigt, dumm, frustriert und hässlich“, mit der „privaten Wetterprognose“ „ewige Düsternis“.

Wer aber nun erwartet, dass diese Charly Benz uns mit Larmoyanz und Selbstmitleid und Vorwürfe an Dritte belästigt, sieht sich getäuscht. Selbst „rohe Traurigkeit“, die sie erlebt, kann sie nicht davon abbringen, ihr Leben in stilistischer Anlehnung an hochwertige amerikanische Comedy-Fernsehserien à la Friends oder Gilmore Girls zu erzählen.

Getäuscht sieht sich auch derjenige, der befürchtet, Charlys „Wetterprognose“ in eigener Sache träfe ein. Das freilich mit gelegentlichem Sommerregen einhergehende Gegenteil ist der Fall. Eine „Familienaufstellung“ und ein Parforceritt durch die ganze „Esoterikskala“ bringen gewaltig Zug in ihr Leben. Und dann ist da ja auch noch die Popmusik, die sie flasht und die geradezu für Höhensonne sorgt, auch was Männer anbelangt. Wie Janis Joplin den im Roman immer wieder bemühten Leonard Cohen, lässt sie beispielsweise Hänse Quandt zur rechten Zeit wissen „We are ugly but we have the music”, und schließlich sind es dann gleich drei Herren, die Vater ihres „Wutzis“ sein könnten.

Was ließe sich nicht noch alles von Charly Benz berichten! Dass sie, eine „einzige Narretei“, bis in die Erzählgegenwart hinein ein „Beziehungsdebakel“ nach dem nächsten erlebt hat, dass ihr „Fachwissen in irgendwas“ „null“ ist, dass sie unfähig ist „up to date zu sein“, dass sie ein Fan des „generischen Maskulinum[s]“ ist, dass sie Wittgenstein und die Bachmann für „furchtbare Irrtümer“ und „langweilige[n] Bockmist“, Heidegger für einen „Griff ins Klo“, Frisch für „vollkommen überschätzt“ und Kafka für eine „Nervensäge“ und „traurige Socke“ hält, dass das, was sie über ‚das Leben’ weiß, nahezu ausnahmslos aus Zeitschriften, Film und Fernsehen stammt, dass sie – aber genug. Ein, zwei Sätze zumindest noch über Herbert Schabowski, den anderen ‚Helden‘ des Romans.

Auch er, der anfangs so abgeklärt, vernünftig und unbelastet wirkt, hat einen nicht eben leichten Rucksack zu tragen. Als er auf den Tod an Krebs erkrankt, stülpt er sein Leben noch einmal um, findet zu sich selbst und zu einer Lebensintensität, die er bislang nicht gekannt hat.

Was sollte man als möglicher Leser noch wissen? Vielleicht, dass es im Roman ausgiebig auch um Tinder, Philosophie, Chips und Riegel, Literatur, Werbung, Film und Fernsehen und eben um Popmusik geht. Dann, dass Lifestyle ein einschlägiges Thema des Romans ist, der sich vom Fahrrad über Essen und Kleidung bis zu was weiß ich darüber auslässt, was hip ist und was out. Schließlich, dass Charly und ihre Geschwister vom Vater in Bad Gastein ein im Dornröschenschlaf liegendes Grand Hotel erben.

In diesem Hotel spielt der dritte Teil des Romans, der erzählerisch konventioneller, ironiefreier etc. ausfällt als die ersten beiden Teile. Dies mit gutem Grund, haben sich doch Charly und Herr Schabowski merklich verändert, stehen doch Vorgänge von höchster Ernsthaftigkeit an. Im Gedächtnis haften bleibt dieser dritte Teil deshalb nämlich, weil er parallel von den Eckpfeilern des Lebens, von Geburt und Sterben erzählt. Dabei steht die Plastizität, mit der von der Geburt von Charlys Tochter Mitzi erzählt wird, der hochgelobten in Helena Adlers Fretten in nichts nach.

Eine Paradoxie als Schlussbemerkung: Selbstverständlich, ist man versucht zu sagen, ist auch Mon Chéri nicht perfekt. Beispielsweise haftet dem zuvor angesprochenen dritten Teil, so realistisch er auch daherkommt, etwas Märchenhaftes, Weltenthobenes, Zauberbergartiges, auch: Erzwungenes an. Auf Krawall gestimmt könnte man auch sagen: ‚Hier klappert die Konstruktion, hier wird’s seifig‘.

Aber merkwürdig, an diesem Roman stört das nicht wirklich. Ob das daran liegt, dass einem etliche Figuren da bereits ans Herz gewachsen sind? Oder daran, dass alles (dramatische) Geschehen hier von einem so glaubwürdigen, so herbeigesehnten Geist des menschlichen Bei-, Mit- und Füreinanders durchweht ist? Egal. Wie schön jedenfalls, wenn sich selbst Mäkelei unter der Hand als Lob entpuppt und vermeintliche Mängel als Vorzug erweisen.

Titelbild

Verena Rossbacher: Mon Chéri und unsere demolierten Seelen. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022.
503 Seiten , 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783462001198

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