Autobiographisches Mosaik

Friedrich Christian Delius‘ nachgetragene „Erinnerungen mit großem A.“

Von Hannes KraussRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hannes Krauss

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 13. Februar wäre Friedrich Christian Delius achtzig geworden. Leider ist er wenige Monate nach seinem 79. Geburtstag gestorben, aber in den gerade erschienenen Aufzeichnungen wird er noch einmal lebendig. Bis kurz vor seinem Tod hat er an diesem autobiographischen Buch gearbeitet. Ein von der Familie über die Traueranzeige gesetzter Satz aus Beethovens „Heiligenstädter Testament“ („Ach es dünkte mich unmöglich, die Welt eher zu verlassen, bis ich das alles hervorgebracht, wozu ich mich aufgelegt fühlte …“) lässt erahnen, unter welchen Umständen diese „Erinnerungen mit großem A“ zu Ende gebracht wurden. Dem Buch allerdings merkt man es in keiner Zeile an: kurzweilige, bisweilen auch heitere Rückblicke auf das eigene Leben – und zugleich ein Mosaik bundesrepublikanischer Kulturgeschichte. Eine Notiz („Achtzig Jahre, dazu sollen andere was sagen.“) soll als Auftrag verstanden werden. 

Kaum einer hat die Zustände des Landes, in das er zwar nicht hineingeboren wurde, in dem er aber die meiste Zeit seines Lebens verbrachte (in der hessischen und ostwestfälischen Provinz und in Berlin – erst in der Halbstadt, dann in der Hauptstadt) so in Sprache gefasst, wie Delius. Still und zurückhaltend als Mensch, stilsicher und unbestechlich als Autor hat er in mehr als drei Dutzend Büchern – Gedichtbänden, Romanen, Erzählungen, Essays, Satiren – die Struktur und die Innenseiten einer Gesellschaft bloßgelegt, die geprägt war von der Verdrängung ihrer Vergangenheit. Sein literarisches Werk fügt sich zur deutschen Chronik der letzten fünfundsiebzig Jahre. Delius‘ nachgetragene Erinnerungen führen noch einmal zurück in die Pfarrhauskindheit der fünfziger Jahre – mit der angstvollen Bewunderung des wortmächtigen Vaters, mit Schulnöten und den Qualen des Stotterns, aber auch mit dem Ausweg ins Schreiben. Die Rollen „als Schweiger“ und „als Zuschauer“ hat Delius widerspruchslos akzeptiert, auf den Vorwurf, „Du hältst dich raus, du tust nichts!“ aber erwiderte er selbstbewusst: „doch, ich tue was, ich schaue zu, ich schaue nicht weg, ich merke mir das“. Prägnanter können die Prinzipien seines (Schriftsteller-)Lebens und seines Werkes nicht beschrieben werden. 

Schon in jungen Jahren als Lyriker erfolgreich (und von manchen auch gefürchtet) wurde Delius 1972 mit der satirischen Festschrift zum 125jährigen Bestehen des Hauses S (Unsere Siemenswelt) einer breiteren Öffentlichkeit bekannt – nicht zuletzt durch die Prozesse, mit denen der Weltkonzern diesen Autor und seinen Verlag zu ruinieren drohte. Die schon hier erkennbare Arbeitsweise hat Delius in den folgenden Jahrzehnten zur Meisterschaft perfektioniert: eine durch akribische Recherche abgesicherte fiktionale Adaption fremden Denkens und Handelns, die Zustände, Haltungen, Mentalitäten und Ideologien kenntlich machte. Selbst beschreibt er seine Entwicklung so:

Es brauchte […] die Reibungen am Dokumentarischen, bevor ich […] zur Freiheit der Fiktion beim Romanschreiben fand, zur Entwicklung einer […] eigenen Sprache. Erst mit ihr, mit dem eigenen Rhythmus konnte ich dem Vater, den Eltern, dem Großvater mit Hilfe der autobiographischen Erzählungen Paroli bieten. 

Die zwischen 1981 und 2021 entstandenen Romane und Erzählungen illustrieren deutsche Verhältnisse nicht, sondern ordnen sie mit poetischen Mitteln ein in historische und lebensgeschichtliche Kontexte. Wer sich nur für den Wirklichkeitsgehalt interessierte, versäumte ihre literarische Qualität. Besonders deutlich wurde das bei der skeptischen Rezeption des dritten Teils der Trilogie über den Deutschen Herbst (Himmelfahrt eines Staatsfeindes, 1992). Dass dies kein Buch über die „Rote-Armee-Fraktion“ und den Terrorismus war, sondern ein literarisches Spektakel, das mit kalkulierter Dramaturgie und sprachlicher Akkuratesse ein Psycho- und Soziogramm der westdeutschen Gesellschaft zeichnete – einer Macher- und Organisatoren-Gesellschaft, in der den Massen nur die Konsumentenrolle blieb –, das hatten die Wenigsten begriffen.

Ein anderes großes Thema Delius’scher Prosa ist die deutsche Teilung. Am bekanntesten wohl Die Birnen von Ribbeck (1991). Dieser Monolog eines LPG-Bauern – ausgelöst von Westberliner Besuchern, die Fontane zu Ehren in Ribbeck einen Birnbaum pflanzen und dabei vor allem sich selbst feiern – geriet zum furiosen Räsonnement über deutsche Geschichte (Krieg, sowjetische Besatzung, Leben in der DDR) und über die als Kolonisierung wahrgenommene Vereinigung. InDer Spaziergang von Rostock nach Syrakus (1995) wurde die reale Geschichte eines DDR-Kellners verarbeitet, der in den 1980er Jahren über die Ostsee floh, weil er auf den Spuren seines Landsmannes Seume einmal im Leben nach Syrakus reisen und anschließend in die DDR zurück kehren wollte. Die fiktionale Version zeichnet ein facettenreiches Panorama des Alltagslebens in der späten DDR. 

Besonders originell ist der literarische Blick auf deutsche Geschichte und deutschen Alltag in Delius‘ autobiographisch grundierten Texten. Erinnerungen an den 4. Juli 1954 (den Tag des Endspiels um die Fußballweltmeisterschaft in Bern) werden in Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde (1994) zum Auslöser für ein Buch über Väter, über Unterdrückung und Befreiung durch Sprache, über hessisches Dorfleben in den 1950er Jahren, über die Nachkriegszeit, über das Heranwachsen im Schatten der innerdeutschen Grenze, über pubertäre Sehnsüchte und Ängste. 

In einem Interview bekannte Delius, „Handlung interessiert mich wenig, mich interessieren Augenblicke“. So näherte er sich auch der Studentenbewegung der 1960er Jahre über die Schilderung eines singulären Ereignisses an (Amerikahaus und der Tanz um die Frauen, 1997) und zeigte, dass diese nicht zuletzt kollektive Adoleszenz war. Die Verschränkung von politischer Symbolik und privater Not dokumentiert, dass die Repressionen der Adenauerzeit sich auch in den Körpern eingenistet hatten.

Eine weitere Folge dieser aus der Rekonstruktion von Privatem gefügten Chronik erschien 2006: Bildnis der Mutter als junge Frau, gewissermaßen pränatale Erinnerungsliteratur. Der – wie Die Birnen von Ribbeck – aus einem einzigen Satz bestehende Text schildert den Gang einer hochschwangeren jungen Deutschen durch Rom, im Januar 1943 auf dem Weg zu einem Konzert in der evangelischen Kirche. Die Wahrnehmungen und Gedanken dieser Frau (offenkundig der Mutter des Autors), deren Mann Soldat und Hilfspfarrer war und unerwartet nach Nordafrika versetzt wurde, präsentieren Bilder vom historischen und zeitgenössischen Rom, von der mecklenburgischen Heimat, vom italienischen Faschismus, von katholischer Opulenz und protestantischer Nüchternheit, von Kunst und Musik. Zusammengehalten, teilweise auch überlagert, werden diese Bilder durch die Sorgen und Ängste einer Frau, die mitten im Krieg unter Menschen lebt, deren Sprache sie nicht versteht, einer unpolitischen Frau, die unter den politischen Verhältnissen leidet, sie aber erträgt. 

In die Reihe jener Bücher, die Momentaufnahmen aus der eigenen Biographie zu Miniaturen der jüngeren deutschen Geschichte verdichteten, gehört schließlich Die Zukunft der Schönheit (2018), eine Episode vom ersten USA-Besuch des dreiundzwanzigjährigen Autors, der auf dem Rückweg von einer Gruppe 47-Tagung in Princeton am 1. Mai 1966 in New York den Auftritt des Jazz-Musikers Albert Ayler erlebte. In der Rückschau wird daraus ein eindrucksvolles Buch über Musik und Sprache, über Versagensängste (als junger Autor und als Kind), über Erinnerungen an den Kennedymord und die ersten Vietnam- Demonstrationen. Zugleich ist es eine – nicht ohne Sympathie geführte – Auseinandersetzung mit dem früh verstorbenen, wortgewaltigen und strengen Vater, der gleichermaßen Vorbild und Widerpart war. Die Erinnerungen an die Improvisationen des Jazz-Musikers lösen kluge Reflexionen aus – über den Zusammenhang von Schreiben und Widerstand (auch gegen die politischen Verhältnisse). Ein Kunststückchen, das auf knapp 100 Seiten mehr über die Generation der in den 1940er Jahren Geborenen verrät, als mancher Geschichtswälzer. Zudem ein Musikbuch, das durch die Musikalität seiner Sprache glänzt. 

Delius‘ Selbsteinschätzung, „kein politischer Autor” zu sein, mag irritieren, aber sie trifft die Haltung dieses „bekennenden Introvertierten“ (so eine andere Selbstbeschreibung) ziemlich genau. Er war ein politisch engagierter Zeitgenosse, der „keine Angst vor der Wirklichkeit” hatte und diese Wirklichkeit in Literatur goss. Eine Literatur, die den Blick schärft für ungewöhnliche Perspektiven und mit ihrer rhythmischen, formbewussten Sprache sensibilisiert für die Innenseiten von Politik und Historie. Nicht mit großen Worten, aber mit genauen Sätzen hat er dieses Land unter seiner glatten – bisweilen auch schmutzigen – Oberfläche ausgeleuchtet. Nie lautstark, immer präsent. Ein wacher Zeitgenosse und zugleich ein Sprachkünstler, der das Politische im Privaten zum Vorschein brachte. 

Am 30. Mai 2022 ist dieser zurückhaltend-sympathische Mensch endgültig verstummt, aber mit seiner ungewöhnlichen Autobiographie hat er sich noch einmal zu Wort gemeldet. Wissend um „Begradigungen, Beschönigungen, Vereinfachungen, Selbstüberschätzungen“ in herkömmlichen Autobiographien wählte er den „spielerischen Ansatz“ eines „Selbstporträt(s) aus Collagen“. Die „Fülle von Beobachtungen, Erlebnisse, Analysen, Anstößen, Irrtümern, Anekdoten […] aus dem Fundus der Vergangenheit“ sollten „nicht in einen gefälligen Lebenslauf münden, sondern Bruchstücke bleiben“. Er entschied sich für „eine primitive alphabethische Ordnung“, „weil sie angenehm neutral und wunderbar zufällig ist.“ Spieler und Schelm bis zuletzt, beschränkte er sich allerdings auf den Buchstaben A, denn „ein geordneter Haufen Fragmente mit A zeigt […], dass das längst nicht alles ist, was der Autor mitzuteilen hätte.“ Gerade weil dieses Buch „viel mehr Lücken als Seiten hat“, fächert es noch einmal die ganze Vielfalt eines beeindruckenden Schriftstellerlebens auf. Es gewährt Einblicke in die Schreibwerkstatt und – erstaunlich freimütig – auch in schwierige Lebensphasen. Über die Familie, über den Literaturbetrieb und über Kolleg*innen, über das Verhältnis zu Religion und Sprache, über literarische Vorbilder, über Freundschaften und Gegner – über all das und noch viel mehr wird offen, nie aber in peinlichem Enthüllungsgestus geschrieben. Ein ehrliches und hilfreiches Buch – und (obwohl vieles im Wissen um den bevorstehenden Tod zu Papier gebracht wurde) ein Buch voller Humor. Lakonisches Fazit: „Es gibt kein Muss mehr, kein Sollen […]. Es gibt nur noch: Ich darf, ich möchte, wenn möglich.“ 

Delius‘ Autobiographie ist ein wunderbares Abschiedsgeschenk für die zurückbleibenden Altersgenossen. Und für Nachgeborene ist sie ein Anreiz, sich mit der eigenen Herkunft zu befassen und mit einer Zeit, „als die Bücher noch geholfen haben“ (so der Titel eines früheren Erinnerungsbuches). Neugierig Gewordene finden in der im Rowohlt Taschenbuch Verlag erschienenen „Werkausgabe in Einzelbänden“ genug Stoff zum Weiterlesen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Friedrich Christian Delius: „Darling, it’s Dilius!“. Erinnerungen mit großem A.
Rowohlt Verlag, Berlin 2023.
320 Seiten, 24 EUR.
ISBN-13: 9783737101639

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