Eine bäuerliche Jekyll and Hyde-Variation aus Oberösterreich

Reinhard Kaiser-Mühleckers Roman „Wilderer“ schlägt in den Bann, wirft Fragen auf, überzeugt aber hier und da nicht

Von Günter HelmesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Helmes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie für andere Romane des vielfach ausgezeichneten Neo-Naturalisten Reinhard Kaiser-Mühlecker, kann auch für Wilderer danach gefragt werden, welchem Genre der in 30 Kapitel untergliederte zuzuschlagen ist. Der beginnt „Ende Juli“ morgens um 4 Uhr trübe und befremdend und endet nach ca. drei Jahren erzählter Zeit düster und verstörend. Ist es ein (Anti-)Heimat-, ein Bauern-, ein Sozial-, ein Familien- oder gar ein Generationenroman? Oder doch eher ein psychologischer, ein Entwicklungs- oder ein Liebes- bzw. Eheroman?

Für jede dieser Zuordnungen lassen sich Argumente unterschiedlicher Anzahl und unterschiedlichen Gewichts ins Feld führen und zueinander ins Verhältnis setzen – ebenso ironischer wie glücklicher Weise mit der prognostizierbaren Folge allerdings, dass Andere guter Gründe halber zu anderen Ergebnissen kommen würden.

Von daher soll es an dieser Stelle zum einen und taxonomischen Gelüsten wehrend genügen herauszustreichen, dass Wilderer von allen diesen Genres etwas hat und damit per se Themen- und Handlungsvielfalt sowie Gehaltreichtum verspricht – zu viel des Guten allerdings womöglich. Zudem fällt als ungewöhnlich auf, dass Wilderer viel Landwirtschaft und technische Geräte betreffendes Sachbuchwissen vorhält.

Zum anderen soll Kaiser-Mühlecker selbst und dessen um der Bewusstwerdung und des Erkennens willen auf das genaue Registrieren von „Gewohnte[m], täglich Gleiche[m]“ und überhaupt von Vorgängen und Handlungen jeglicher Art gerichtetem Schreiben darin ein Stück weit gefolgt werden, dass Beobachtung und Darstellung den Vorrang vor Klassifikation und Be- oder gar Verurteilung haben sollen.

Wilderer spielt – auch von Corona und der Impffrage ist an einem Punkt die Rede – zur Jetztzeit vornehmlich auf einem heruntergewirtschafteten und in lärmbelästigender Autobahnnähe liegenden Bauernhof im oberösterreichischen Bezirk Wels. Der Niedergang von Höfen, aber auch derjenige ganzer Orte scheint hier allerdings nichts Ungewöhnliches zu sein.

Im Zentrum des Erzählens steht ein alleinstehender Mann in den frühen Zwanzigern namens Jakob Fischer. Er, aus dessen auch erzählsprachlich immer wieder aufgegriffenen, oft mit Rigorosität, Drastik und Verachtung einhergehenden Perspektive häufig erzählt wird und der zugleich abstößt und für sich Interesse und Mitgefühl weckt, schmeißt besagten Hof „seit er dreizehn Jahre alt war“ – „alleine“ wohlbemerkt. „Alleine“ deshalb, weil er in seinem Anfang fünfzig Jahre alten Vater Bert – zu diesem und zu zwei, drei weiteren Figuren später mehr – alles andere als eine Hilfe hat. Im Gegenteil, Bert ist für ihn ein „Wahnsinnige[r]“, der nur „Schwachsinn“ und „Geschwätz“ produziert. Mit der an ihr Zimmer gefesselten Großmutter und der erzählerisch unterbelichtet bleibenden Mutter gibt es zudem zwei weitere Familienmitglieder auf dem Hof, doch leben alle „aneinander vorbei“ und haben „keine Verbindung“.

Schlecht ist es auch um Jakobs Verbindung zu seinem in Wien mit einer extravaganten Lilo verheirateten Bruder Alexander und zu seiner in Hamburg lebenden und immer wieder in neue Beziehungen verstrickten Schwester Luisa bestellt; er ist in seinen Augen über weite Strecken des Romans nur ein „Pantoffelheld“ und eine „Schießbudenfigur“, sie hingegen ein „launisches Biest“ von „unerträglich rücksichtsloser und egoistischer Art“, „ekelhaft, boshaft und unberechenbar“. Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, dass der gnaden- und rücksichtslos gegen sich selbst, der „einsam und stur wie ein Esel“ als gering geachteter Außenseiter lebende Jakob schon mit zwölf, dreizehn Jahren das anhaltende Gefühl entwickelt hat, „aus dem Dasein verbannt worden zu sein, […] wie in ein Abseits, in dem er aber nicht wirklich weiterleben durfte.“ Kann es da verwundern, dass sich Jakob den „Tod, wie auch immer herbeigeführt, als die reinste Erlösung, ja fast als Belohnung“ vorstellt? Den Tod fordert er jedenfalls seit Jahren immer mal wieder heraus, indem er beim Aufwachen mit einer Pistole russisches Roulette spielt.

Was wir nicht alles über Jakob erfahren! Es ist so viel, dass der Roman auch gut, besser vielleicht sogar den Namen des einen Anti-Helden abgebenden Protagonisten im Titel geführt hätte, auch wenn es tatsächlich Wilderer im eigentlichen wie im übertragenen Sinne im Roman gibt, Tiere hier und Menschen dort. Doch sind alle Figuren des Romans als solche nur bedingt von Interesse und tendenziell mäßig entfaltet, haben nur ein relatives Eigenrecht und eher die Funktion, katalytisch zu einem ausdifferenzierten Psychogramm, ja einer Psychopathographie Jakobs als eines – nach Kräften wohlanständigen – Gewalttäters beizutragen. Dies bzw. diese zu liefern, ist wohl die beeindruckendste, als Erschütterung in Erinnerung bleibende Leistung des Romans. Der erinnert damit beispielsweise an Das verlorene Kind (1926) von Rahel Sanzara und dessen monströs-unschuldige jugendliche Mörder-Figur.

Jakob, schon der Handschrift nach in gewisser Weise ein Kind geblieben und öfters ohne Worte für das, was er empfindet und meint, hat ein gelinde gesagt gestörtes Verhältnis zu Frauen. Unablässig beschäftigt es ihn, der ebenso angstvoll wie verbissen um Identität ringt, ob er mehr nach seinem verstorbenen, als rechtschaffen geltenden Großvater oder nach dem Taugenichts von eigenem Vater kommt. Er, der „nie etwas“ vergisst, ist die Zuverlässigkeit selbst, macht Dinge mit „Hand und Fuß“ und schuftet „wie keiner sonst“ allüberall und von sehr früh bis sehr spät. Dies nicht nur aus Entgegenkommen und um anerkannt zu werden, sondern auch deshalb, weil er kein „weitere[r] Untergeher“, kein „weitere[r] Verlierer“ sein will. Andere hingegen haben für ihn „keine Ahnung“ oder sind, Städter und Intellektuelle im weitesten Sinne zumal, „Arschlöcher“. Gegen sein „Schicksal“ aufzubegehren, kommt Jakob, dem Menschen der „Gewohnheit und des „Misstrauen[s]“, freilich nicht in den Sinn, sind „Glück“ und „[g]lücklich“ doch Worte, die er „noch nie mit sich in Verbindung gebracht“ hat.  

Immer dann, wenn Jakob den Durchblick verliert oder in seinen Hoffnungen, Erwartungen oder Wünschen enttäuscht wird – häufiger fühlt er sich „ausgenutzt und für dumm verkauft“ und überdies selbst schuld daran –, kommt in ihm der „Wunsch nach einem Krieg“ hoch. Überhaupt fühlt er sich häufiger von etwas „Namenlosem“ bedrängt, „das so groß war, so mächtig, dass er hinterher“, dann nämlich, wenn er über das „Namenlose[]“ die Kontrolle behalten konnte, „mitunter durchaus mit Stolz, jeweils nur staunen konnte, dass so etwas in ihm Platz hatte.“ In diesen bestürzenden Zusammenhang gehört, dass sich für Jakob Rechtmäßigkeit, Erlösung, Zärtlichkeit und (Tod bringende) Gewalt nicht ausschließen, zumindest unbotmäßigen Tieren wie wildernden Hunden gegenüber, und dass es ihm ein hohes Bedürfnis ist, nach seinen scheußlichen Un-Taten eine alles verschleiernde Ordnung zu schaffen – „lächeln[d]“ und mit sich selbst im Reinen. Hier stellt sich assoziativ Romuald Karmakers Kammerspielfilm Der Totmacher (1995) mit einem grandiosen Götz George in der Hauptrolle ein.

Vieles verändert sich für und an Jakob, als mit der etwas älteren Katja eine junge Künstlerin in sein Leben tritt und er kurz danach wider Erwarten von der bis kurz vor deren Tod verabscheuten, ihrerseits eine Fehleinschätzung Jakobs bereuenden Großmutter im großen Stil erbt – „Judengeld“ freilich, „kein ehrlich erworbenes Vermögen“ also. Zwar ist das gebrannte Kind Jakob nicht in die anfangs etepetete auftretende Katja verliebt – für ihn ist sie vielmehr eine „Tagediebin“, ihr Malen dauerhaft „ein Spleen“ und ihr Werben um ihn eine „eigene Art von Wilderei“ –, doch lernt er mit der Zeit, ihr zu vertrauen und sie zu lieben. ‚Sie hat mich „gerettet“‘ und „Ich darf diese Frau niemals verlieren“, wird ihm irgendwann bewusst.

Jakob und Katja heiraten jedenfalls, bekommen einen Sohn und bauen unter ihrer, der de facto Chefin Leitung den Hof wieder mit großem Erfolg auf. Doch mehr und mehr schleichen sich Probleme in die Ehe ein und die Distanz zwischen den beiden wächst, zumal nach einem Besuch Jakobs in einem Bordell. Jakob, der „abwechselnd traurig – oder leer – und verbittert“ ist, wird klar: „Der Riss würde wachsen“. Und er sagt sich fatalistisch: „Bin bloß gespannt, wie’s zu Ende geht.“ Als schließlich das „Namenlose“ über Jakob siegt und ihn zu einer grauenhaften, weil planvoll und ruhig ausgeführten Tat verleitet, verlässt ihn Katja fluchtartig und for good.

Ein paar Hinweise auf weitere, stärker als andere konturierte Figuren: Dem zu Jakobs Vater Bert bereits Gesagten ist hinzuzufügen, dass er „alles, was man ihm je gegeben oder was er zur Verfügung hatte, verspielt“ hat. Jedes Mal, wenn Luisa auftaucht, de jure seine Tochter, starrt er unablässig „auf ihre[] Brüste[] und auf ihre[n] Hintern“. Freilich ist Luisa gar nicht seine leibliche Tochter, sondern das Ergebnis eines Seitensprungs der Mutter, den diese aus Rache an dem schon auf der Hochzeit untreuen Gatten begangen hat. Bei Luisa jedenfalls, für die Jakob nichts anderes ist als eine lächerliche Figur, scheint es so zu sein, dass die zu vermutenden väterlichen Übergriffe in jungen Jahren sie auf ihr unstetes Leben und ihre inkorporierte Feindseligkeit Männern gegenüber hin traumatisiert haben.

Von Zweifeln an der Sinnhaftigkeit ihres Tuns und von Langeweile befallen, ist es Katja, die sich den in diesem Falle nur zu klarsichtigen Jakob – „sie waren Bewohner unterschiedlicher Welten, zwischen denen es keine Verbindung geben konnte“ – gegen dessen anfänglichen Widerstand angelt. Warum sie dies so konsequent betreibt, scheint nicht hinreichend motiviert. Katja jedenfalls bekommt immer, was sie will, und ist Jakob „immer ein paar Schritte voraus.“ Obwohl hoch engagiert auf dem Hof, wird sie als Künstlerin immer erfolgreicher – auch hier melden sich Zweifel an der Glaubwürdigkeit an, zu denen sich andere, auch anderes betreffende und abschließend angesprochene gesellen. Doch auch Katja scheint, folgt man Jakob, Abgründe zu haben und Gewalt- bzw. Tötungsphantasien zu kennen. Und dass sie skrupellos sein kann, zeigt die nonchalante Art, mit der sie das „Judengeld“ kommentiert: „’Pecunia non olet’“.

Weitere Zweifel und Fragen zum Schluss: Es entsteht der Eindruck, dass etliche Aussagen und Reflexionen Jakobs, solche beispielsweise die Geschwister und Katja betreffend, gedanklich und sprachlich das übersteigen, was die Figurenanlage hergibt. Auf Überfrachtung hinauslaufende Zweifel kommen auch mit Blick auf die Motiv- und die Handlungsfülle.

Bezüglich der an einen vollständigen, oft gebrauchten Setzbaukasten erinnernden Motivfülle kulminiert dies am Schluss des Romans in einem unbeholfen wirkenden Big Bang an nachgeschobener Auflösung des ‚Rätsels‘ Jakob. Auf der Handlungsebene wird, einer zuweilen unanschaulichen Chronik als Ansammlung fortlaufender Ereignisse ähnlich, ein additives Erzählen in die Fläche betrieben. Das bietet häufiger, vor allem auf Jakob bezogen, substantiell nichts Neues und lässt fragen, warum das eine erzählt und anderes nicht erzählt wird. Braucht es vom eher novellenhaften oder eine Erzählung abgebenden Stoff her beispielsweise tatsächlich die Geschichten um Fritz und Rosi in dieser Ausführlichkeit? Wäre es andererseits nicht wichtig gewesen, Jakobs Veränderung nach der Erbschaft detailliert nachzuzeichnen, anstatt mehr als minder knapp zu konstatieren, dass Jakob nunmehr niemandem mehr „gram“ sei? Und ja, der einen oder anderen literaturgeschichtlich zum charakterlichen oder (familien-)systemischen Stereotyp, zu Kolportage geronnenen Anlage und Ausführung hätte es auch nicht bedurft.

Titelbild

Reinhard Kaiser-Mühlecker: Wilderer.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2022.
352 Seiten, 24 EUR.
ISBN-13: 9783103971040

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