Der vergessene Arbeitskampf

Mit „Die Optimistinnen“ hat Gün Tank den Roman der Mütter geschrieben, die als Gäste mehr bewirkten, als nur hier zu arbeiten

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es hat bis in die 1970er und 1980er Jahre gedauert, dass Gastarbeiter in Deutschland eine literarische Stimme bekamen. Gastarbeiterinnen hingegen werden bis heute, und das nicht nur literarisch, mehr oder weniger totgeschwiegen. Dieses Kapitel jüngster deutscher Geschichte fand bisher keinen Einzug in die Erinnerungskultur. Dass sich dies allmählich ändert, verdanken wir einer jungen Generation Kulturschaffender, die die Geschichten ihrer Großeltern und Eltern im Mainstream ankommen lassen. So erzählt die armenisch-deutsche Autorin Laura Cwiertnia in Auf der Straße heißen wir anders (2022) vom gnadenlosen Gastarbeiterinnen-Dasein ihrer Großmutter von Frankfurt bis nach Bremen und auch Gün Tank widmet sich in ihrem Debütroman ganz dem Thema weiblicher Arbeitsmigration nach Deutschland.

Doch sie schreibt nicht über das übliche Leid unterbezahlter, ausgebeuteter Analphabetinnen der ersten Stunde. Ihre Protagonistinnen sind selbstbewusst, stark und kämpferisch. Sie lassen sich nicht unterdrücken, gängeln oder bevormunden. Sie fordern im Arbeitsleben ein Mitspracherecht, verlangen Deutschkurse während der Arbeitszeit in der Fabrik, bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen und höhere Löhne. Sie erkennen das Problem: „Ohne Sprache und ohne Stimme, allein in einem Land“ zu sein. Der Spracherwerb bedeutet für sie, in ihrer neuen Umgebung mündig zu werden.

Die Autorin erzählt die Geschichte der Gastarbeiterinnen auf drei Zeitebenen, die sich abwechseln. Die Geschichte der Mutter Nour spielt in den Jahren der Arbeitsmigration im Deutschland der 1970er Jahre. Zwanzig Jahre später steht die Tochter Gabriele Su im Mittelpunkt, die zweisprachig in Westberlin aufwächst, und auf der dritten Zeitebene unter der wiederkehrenden Überschrift ‚Heute, eingetaucht im Gestern‘ das Vergangene reflektiert und einordnet. Sie führt die Arbeit der Mutter in der Gewerkschaft Jahre später gewissermaßen weiter und kämpft gegen die gesellschaftliche Ausgrenzung, die bewirkt, dass sie neben ihren deutschen Identitätsanteilen auch die türkischen bewusster pflegt: „Istanbul umarmte mich, Berlin wies mich immer wieder ab.“

Die Hauptfigur des Romans, Nour, eine junge Kurdin, die sich 1972 in Istanbul anwerben lässt und wenig später in einer Porzellanfabrik in der bayerischen Oberpfalz in der sogenannten Leichtlohngruppe arbeitet, beobachtet die Deutschen und deren Sprache sehr genau. Sie fragt sich, wer in aller Welt seine Gäste arbeiten lässt, und erkennt, dass Zeit hier Geld ist. Sie nimmt verwundert wahr, wie stark das Stechuhrleben sogar die Sprache geprägt hat: Alles richtet sich nach dem Akkord und muss stets „schnell, schnell!“ gehen.

Mit ihrer Protagonistin schafft Gün Tank eine aufgeweckte, weltoffene, engagierte Alternative zur unmündigen, unselbständigen, hilflosen Klischee-Gastarbeiterin aus der anatolischen Provinz. Nour ist gebildet, wollte eigentlich nach Paris und ist begeistert von den französischen und amerikanischen Filmwelten. Natürlich hat sie auch Freundinnen aus der Heimat, aber einer abgeschotteten Parallelgesellschaft gehört sie keinesfalls an. Ihr Vorbild ist Margarete Steinmann, eine Porzellinerin aus Thüringen, die in den 1920er Jahren eine der ersten Frauen in der Gewerkschaft war und mit 25 Jahren in der Oberpfalz an ihrer Porzellanstaublunge verstarb. Nour hat ihr Grab auf dem katholischen Friedhof entdeckt und ihre Geschichte vom örtlichen Pfarrer gehört. Dem kargen, harten, lausig bezahlten Arbeitsalltag und dem Leben in viel zu engen fremden Unterkünften, versucht sie zunächst mit Briefeschreiben beizukommen, später schickt sie selbst besprochene Tonkassetten in die Heimat.  

Neben kurdischen und türkischen Frauen gehören unter anderen die Spanierin Mercedes und die Westberliner Hausbesetzerin Rosa aus der 1968er-Zeit zu ihrem weit verzweigten Frauen-Netzwerk. Sie feiern zusammen nicht nur das Fastenbrechen, zu dem natürlich auch deutsche Kolleginnen und andere Nichtmusliminnen eingeladen werden, sondern verbringen ihre spärliche Freizeit auch damit, sich kreativ und sehr bestimmt gegen die ausschließlich männlichen Entscheider aufzulehnen. Ihre Ideen reichen von dem Ostereierprotest, bei dem sie ihre Forderungen „Sprache! Bildung! Lohn!“ auf Ostereier schreiben bis zu einer Rosenaktion, mit der sie ihre männlichen Kollegen für den Arbeitskampf gewinnen wollen.

Gün Tank lässt in ihrem Roman die Erinnerungen an eine aufrührerische Zeit, dessen öffentliches Bild bis heute durch das Mofa des millionsten Gastarbeiters geprägt ist, aus der Versenkung auftauchen. Mit dem Anstieg der Zahl ausländischer Arbeitnehmerinnen in der Bundesrepublik von ca. 50.000 im Jahr 1960 auf über 700.000 bis 1973, die sich häufig an gesundheitsschädlichen Arbeitsplätzen – sogar etwa ein Drittel schlechter vergütet als Männer – in den sogenannten Leichtlohngruppen verdingten, wächst der Widerstand gegen die Ausbeutung und werden Forderungen laut. Die ersten Tumulte, Aktionen und Streiks von Gastarbeiterinnen führen allerdings zu Massenentlassungen. Ein Direktor ohrfeigt im Roman gar eine Spanierin. Die Autorin verschweigt folglich nicht, dass die sozialen Errungenschaften der Protagonistinnen nur eine regionale Momentaufnahme waren: Bei ähnlichen Streiks an anderen Orten kam es zu Spaltungen der Interessengruppen, bei denen sich Deutsche und Ausländer*innen, Männer und Frauen oder aber einzelne Nationen gegeneinander ausspielen ließen.

Die Osteraktion in der Oberpfalz erzielt kleine Erfolge. Es gibt etwas mehr Lohn und zwei Stunden Deutsch in der Woche, aber Nour und die anderen Rädelsführerinnen werden freigestellt. Der Umzug nach Westberlin erscheint folgerichtig. In der Pension von Rosas Eltern geht das Leben weiter, Kreuzberg und das Kiezleben passen sowieso besser zu Nour. Schon bald lernt sie Martin kennen, stellt ihn den Eltern in Istanbul vor und erlebt die verschiedensten Höhen und Tiefen einer Familiengründung ebenso intensiv und zeitlich gerafft wie sie von der Gastarbeiterin zur Arbeitskämpferin wurde. Nach wenigen Jahren führt sie, vorerst alleinerziehend, mit ihrer Tochter Gabriele Su und deren kleiner Schwester Işıl einen Dreifrauenhaushalt und beginnt, sich politisch in der Gewerkschaft zu engagieren.

Durch Besuche bei ihrem Bruder Ömür, der in Dänemarks Hauptstadt lebt, nimmt sie mit ihrer Tochter in den 1980er Jahren an den alternativen Widerstandsveranstaltungen Kopenhagens teil. Ömür arbeitet dort auf dem umkämpften Abenteuerspielplatz ‚Byggeren’ im Szenestadtteil Nørrebro, der schließlich trotz aller Proteste dennoch gewaltsam abgerissen wird. Durch dessen dänisches Umfeld, zu dem auch Gastarbeiter aus Marokko gehören, stärkt Tank unsere Wahrnehmung der Arbeitsmigration als transnationales historisches Phänomen. Ein Sinnbild hierfür ist das auf dem Spielplatz praktizierte Sprachgemisch aus Türkisch, Kurdisch, Arabisch, Tamazight, Dänisch und Deutsch. 

Zweifelsohne stecken viele Jahre der Recherche in diesem Roman und zahlreiche Geschichten, die viele Frauen der Autorin, wie sie in der Danksagung betont „auf der Fähre in Istanbul, in der Berliner U-Bahn, bei Gewerkschaftstreffen oder im Café“ vertrauensvoll erzählt haben. Sie bieten dem Lesepublikum endlich eine ganz neue Perspektive auf die Arbeitsmigration – die einer linken, deutsch-türkischen Menschenrechtsaktivistin vor 50 Jahren. Sie sind einen Roman lang integraler Bestandteil der europäischen und jüngsten deutschen Geschichte, dank transnationaler Familien- und Freundschaftsbande und der Einordnung in die Timeline historischer Ereignisse – von der Nachkriegszeit über den Klassenkampf in der Türkei, den Vietnamkrieg und die RAF bis hin zum Mauerfall. Die Lebensanliegen der Migrantinnen wie Nour, Tülay oder Mercedes, gesellschaftliche Veränderungen zum Guten und Gerechten anzustoßen und gegebenenfalls sogar das eigene Wohl dem sozialen Fortschritt unterzuordnen, stehen dabei für das Verbindende der Kulturen. Dass dem Debüt die sprachliche Finesse fehlt und es eventuell den Vorwurf des midcults verschmerzen muss, kann die Leserschaft dabei getrost ignorieren.

Titelbild

Gün Tank: Die Optimistinnen. Roman unserer Mütter.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2022.
208 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783103971361

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