Barbarisch-primitive Künstler

Ladina Fessler schreibt eine Rezeptionsgeschichte von Gauguins „Verwilderung“ in der Literatur des Expressionismus

Von Thomas SchwarzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Schwarz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

An der Schnittstelle zwischen Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte ist an der Universität Basel eine Dissertation entstanden, die Aufschluss bietet über die Gestaltung von Künstlerfiguren in der deutschen Literatur des Expressionismus. Ausgangspunkt der Untersuchung von Ladina Fessler sind Paul Gauguins Südsee-Bilder und sein literarischer Reisebericht Noa Noa, der das „Verwildern“, das „Going native“ eines zivilisationsflüchtigen Malers auf Tahiti schildert. Das zweite Kapitel beginnt mit einer Analyse von Victor Segalens Überlegungen zum Exotismus, aus denen sich ein Vergleichsmaßstab ableiten lässt für das Reflexionsniveau, das der deutsche Expressionismus erreicht. Fesslers erster Prüfstein ist Carl Einsteins Theoretisierung des Primitivismus in Negerplastik (1915). Die Fallstudien des dritten Kapitels führen von Gottfried Benns Drama Der Vermessungsdirigent (1919) über Carl Sternheims Erzählungen Ulrike (1917) und Gauguin und van Gogh (1924) bis hin zu Robert Müllers Roman Tropen. Der Mythos der Reise (1915). Fesslers Studie fragt, wie solche Autoren „das neue Selbstverständnis des avantgardistischen Künstlers reflektieren“ und wie sie sich mit ihren „Darstellungen ‚verwilderter‘ bildender Künstler im ‚primitivistischen’ Diskurs“ positionieren. Ferner lotet sie die Konsequenzen aus, die sich aus der Primitivismuskritik für eine primitivistische Praxis ergeben, konkret für die ethische Frage, wie eine Annäherung an fremde Kulturen aussehen sollte.

In Noa Noa hat sich Gauguin als kultureller Überläufer inszeniert, der im Bruch mit der europäischen Kultur ein einfaches Leben auf einer Pazifikinsel führen möchte. Einer der wichtigsten Prätexte war Pierre Lotis Roman Le mariage de Loti (1880). Das Manuskript hat Gauguin 1893 nach seiner Rückkehr von Tahiti verfasst, aus ihm ist in Kooperation mit Charles Morice die Textvorlage für die Erstpublikation in Frankreich (1901) hervorgegangen. Fessler wertet zunächst Gauguins Originalmanuskript aus. Am Anfang steht die „Desillusionierung“ Gauguins in Tahitis Hauptstadt Papeete, in der er nicht das erhoffte Paradies vorfindet, sondern europäische Trivialität. Um „barbarischer“ zu werden, folgt eine „Annäherung“ an die indigene Kultur. Gauguin gesteht seine „Unterlegenheit gegenüber den ‚Wilden‘ ein“. Die „Initiation“ in deren Gemeinschaft gelingt ihm als randständiger Künstler. Gauguins Inszenierung des „Going native“ folgt dem Narrativ einer anti-kolonialen Emanzipationsbewegung. Für die Rezeption Gauguins in Deutschland ist die Übersetzung entscheidend, die 1907/8 zuerst auszugsweise in der Zeitschrift Kunst und Künstler erfolgte, ein Jahr später in Buchform.

Unmittelbar nach dem Tod Gauguins auf Hiva Oa kommt der französische Marinearzt Segalen mit dessen Werk in Kontakt. Er bringt Teile seines Werks von Polynesien zurück nach Frankreich. 1904 publiziert er im Mercure de France einen Nachruf, Gauguin dans son dernier décor. Fesslers wichtigster Punkt ist, dass Segalen hier Gauguin als eine Art ‚Monster‘ auftreten lässt, das er allerdings einer moralischen Beurteilung entzieht. Das Monströse wird in diesem Diskurs positiv umgewertet. Im Anschluss an Gauguin kritisiert Segalen am Kolonialismus, dass die Bewohner der Marquesas im Kontakt mit der Zivilisation aussterben. Seine Liste der Gründe umfasst Opium, Krankheiten wie die Syphilis und als Folge die Unfruchtbarkeit. In seiner postum ab Mitte der 1950er-Jahre publizierten Fragmentsammlung zur Theorie eines alternativen Exotismus verwirft Segalen den „imperialen Exotismus“ mit seinen stereotypen Fremdbildern. Er fasst das Exotische als Diverses, das exotistische Persönlichkeiten schockartig wahrzunehmen vermögen, wenn sie des Blicks der anderen gewahr werden. Sie müssen in der Lage sein, aus ihrer exotistischen Lebenskunst heraus die Distanz zum Anderen in seiner Unverständlichkeit wahrzunehmen und auszukosten.

Einsteins Manifest Negerplastik gilt als Gründungsdokument des primitivistischen Diskurses. Der Verfasser plädiert „für eine Befreiung“ der von ihm präsentierten Objekte aus Afrika „aus ihrem ethnologischen und historischen Kontext“, um einen „kompromisslos ästhetischen Zugang“ zu ihnen zu ermöglichen. Er kritisiert die rassenbiologistische Herabsetzung des „Negers“ als inferior im Verhältnis zum Europäer. In Afrika sei vielmehr eine bedeutende Kultur zugrunde gegangen. Fessler liest Einsteins Negerplastik als kunstkritischen Text, der „eine primitivistische Ästhetik propagiert und dies entsprechend der Segalenschen Strategie mit einer grundsätzlichen Exotismus- und Primitivismuskritik tut“. Sie macht darauf aufmerksam, dass die Ansätze beider Autoren im Grunde die Praxis eines „Going native“ ausschließen. Einstein grenzt sich vom zeitgenössischen „Primitivenrummel“ ab und verweist auf Picassos Kunst als Mittel zur „Bewältigung der Probleme des Primitivismus“.

In Benns Vermessungsdirigent tritt Picasso als monströs primitivistische Künstlerfigur auf, der die Regression gelingt. Der Protagonist von Sternheims Ulrike kultiviert einen Primitivismus, der an Projektionen von masochistischen Gewaltphantasien auf Frauen in Gauguins Noa Noa anschließen kann. Nach dem Tod seiner Frau malt er ein Bild mit dem Titel Nevermore, eine unmissverständliche Anspielung auf ein gleichnamiges Gemälde Gauguins. Dieser selbst tritt in der Erzählung Gauguin und van Gogh auf den Plan, verfällt dort allerdings der Kritik. In Opposition zu Gauguin steht hier der intellektuellere van Gogh für einen „Primitivismus der Zukunft“. Auch die barbarischen Protagonisten von Müllers Tropen sind „gewalttätige und monströse Figuren“. Einer von ihnen rühmt sich seiner Bekanntschaft mit Gauguin. Im Dschungel Amazoniens treffen sie auf den Künstler Kelwa, dessen „primitive“ Kunst sichtlich einer Illustration Oskar Kokoschkas zu seinem die Gewalt heroisierenden Drama Mörder. Hoffnung der Frauen (1910) nachempfunden ist. Fessler erklärt, dass die Protagonisten des Romans eine primitivistische „Theorie des neuen Sehens“ entwickeln. Als dessen „Richtschnur“ gilt die Kunstanschauung Gauguins, zum Beispiel seine flächige „Farbauffassung“. Vor diesem Hintergrund wird im Roman die Wahrnehmung der Kunst Kelwas geschärft und aufgewertet. Der Roman mündet in Gewaltexzesse, die Fessler als „ästhetisches Experiment“ liest. Ein „Netzwerk“ primitivistischer Künstlerfiguren bündle bei Müller den Primitivismusdiskurs, es justiere das „Going native“ der Protagonisten und diene als „Korrektiv nach exotistischen und rassistischen Ausfällen“: „Der Text fokussiert einen spezifischen avantgardistischen Primitivismus, der die Möglichkeiten eines radikalen Aufbruchs und ‚Going native‘ ernsthaft angeht.“

Fessler konstatiert, dass die von ihr behandelten Künstlertexte „Kritik am romantischen Exotismus und Primitivismus der Gegenwartskunst“ formulieren, gleichzeitig aber einen „positiven Begriff von Primitivismus“ ins Spiel bringen: Die „primitivistischen Künstlerfiguren“ untersuchen die „Möglichkeiten des ‚Going native‘“ und werden als „Figurationen eines ‚Going native‘ ‚trotz alledem‘ lesbar.“ Als Gemeinsamkeit der Künstlerfiguren ihrer Textreihe hält sie die „extreme ‚Verwilderung‘ der Künstler“ nach dem Vorbild Gauguins fest, dessen Einfluss Fessler überzeugend nachweisen kann. In Müllers Tropen wird in der ersten Person Plural programmatisch über die „Figurationen des Abschieds und Neubeginns“ reflektiert, die für die „primitivistischen Künstlerfiguren“ charakteristisch sind. Fessler liest die Passage, mit der sich die Ergebnisse ihrer Studie zu einem innovativen primitivistischen Selbstverständnis zusammenfassen lassen, als „Manifest des Primitivismus“:

Wir sind ein neues Geschlecht. Wir haben die Sehnsucht überwunden. Wir verstehen unsere Vorgänger, die wir selbst einmal gewesen sind, nicht mehr. Wir lesen diese Bücher […]. Sie ärgern uns. […] Wir stellen einen neuen Typus auf, wir tragen Sorge für einen neuen Geschmack. Wir schreien Zeter und Mordio über die alte Eleganz, wir schreien uns heiser und lassen uns auf der Gasse auspfeifen […]; wir haben Ideen, um eine ganze Generation neu einzurichten.

Diese „primitivistische Neuerfindung“ ist auch der Gestus, mit dem die Künstler bei Sternheim und Benn auf den Plan treten, um bürgerliche und romantische Kunstideale zu verabschieden. Fesslers Studie zeigt, dass sie als literarische Figuren die unterschiedlichen „Möglichkeiten eines radikalen künstlerischen Aufbruchs“ durchspielen.

Titelbild

Ladina Fessler: Primitivistische Künstlerfiguren im Expressionismus. Der Echoraum von Gauguins „Going native” bei Carl Einstein, Carl Sternheim und Robert Müller.
Narr Francke Attempto Verlag, Tübingen 2022.
297 Seiten , 78,00 EUR.
ISBN-13: 9783772087622

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