Schleichender Prozess der politischen Radikalisierung

Der Roman „Braunsiel“ von Frank Salewski erzählt von jungen Menschen und ihren schwankenden Leitbildern

Von Martin LowskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Lowsky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Moral dieses Romans, der aus drei Erzählebenen besteht, könnte so lauten: „Lieber Leser, liebe Kinder, lasst euch nicht mit Nazis oder AfDlern ein, sie sind böse, egal, wie nett sie daherkommen, denkt daran, ihr habt immer eine andere Wahl!“ Dieser Satz wird am Ende ausgesprochen, in der dritten Erzählebene, doch so einfach ist die Moral des Ganzen doch nicht; zu Recht brechen nach diesen Worten die Anwesenden in Gelächter aus. Doch um den Zusammenhang von faschistischem Denken und Nettigkeit, von politischer Verlockung und menschlicher Verbundenheit geht es wohl. Die früheste Erzählebene ist eine Geschichte in Briefen und spielt 1932/33. Ein junger Berliner schert aus der Firma seines Vaters aus und wird Dorfschullehrer in Schleswig-Holstein, wo ihn der Bürgermeister und der schulbehördliche Vorgesetzte protegieren und zugleich unter Druck setzen: Er möge sich doch auch den Braunen anschließen. Angewidert von diesen Leuten findet er Gleichgesinnte in einer seiner Schwestern und im Schmied des Dorfes, einem Pazifisten, doch schließlich, sich einsam fühlend und eingeschüchtert, gibt er nach: Er und der Pazifist waren bisher dem „Starrsinn“ verfallen, und welche „Erleichterung“ ist es jetzt, zu den Nazis zu gehören und erst einmal einfach bei ihnen mitzusingen.

Die zweite Erzählebene betrifft die 1980er Jahre, Handlungsort ist wieder das Dorf in Schleswig-Holstein; eine Familie zieht von Bremen dorthin. Der Sohn, noch Schüler, findet nicht recht Anschluss, bis er einen Freund aus der Neonazi-Szene gewinnt, an Zeltlagern teilnimmt und an „Rasselehrgängen, bei denen die Köpfe vermessen werden“, und Mitglied der NPD und später dann der AfD wird. Dessen Sohn, wir befinden uns nun in der dritten Erzählebene, bricht aus dieser Sphäre aus; seine Großmutter und seine Urgroßmutter unterstützen ihn. Im Jahre 2020 zieht er als Student in eine Kieler Wohngemeinschaft ein. Er ist ein großer Leser (von Robert Lowry etwa und Bov Bjerg). Er versucht sich schriftstellerisch und ist zweifacher Autor – nämlich der Autor der anderen beiden Erzählebenen. Was er da nach und nach vollbringt, legt er regelmäßig, sorgfältig ausgedruckt, seinen Mitbewohnern vor. Diese erörtern das Geschriebene; es ergeben sich Lob und Spott und Diskussionen darüber, wie „vielschichtig“ die Figuren sind. Beeindruckend ist, wie in all dem Erzählen und dem Sprechen über das Erzählen die verschiedenen Erzählepochen ineinandergreifen. (Nebenbei gesagt: Welcher Schriftsteller wünschte sich nicht so literarisch aufgeweckte Mitbewohner!)  

Das äußere Geschehen ist trotz seiner Einblicke in die rechtsradikalen Lager nicht originell und wirkt geradezu behäbig, aber erstaunlich ist doch, wie behutsam, gleichsam schleichend und zugleich packend innere Entwicklungen dargestellt werden – also die Haltungen der Menschen, die feige sind oder zumindest ohne große Mühen ein glückliches Leben führen wollen und schließlich in bestimmten politischen Szenen landen. Dieser Blick auf seelische Vorgänge wird noch dadurch verstärkt, dass die meisten Personen des Romans miteinander verwandt sind. So ist der Student, der schriftstellert, der Urgroßneffe des Protagonisten der ersten Erzählebene, der wiederum der Neffe seines schulischen Vorgesetzten ist. Das familiäre Geflecht in diesem Roman ist offenbar ein Bild dafür, dass all die psychischen Nöte von uns Menschen einander ähnlich sind.

Zu bemängeln sind kleine Ungeschicklichkeiten: Es wird viel zu oft „gegrinst“ und „breit gegrinst“, Berlin hatte früher keinen „Hauptbahnhof“, und in den Briefen erscheinen lange Sätze à la „Wie du ja weißt (usw.)“, die Fremdkörper sind und nur dastehen, damit der Leser wichtige Fakten von früher gesagt bekommt. Und warum der simple Untertitel ‚Eine Dorfgeschichte‘ für dieses erzähltechnisch komplizierte Werk?

Durchaus Glanzpunkte des Romans sind zwei Passagen, die aus dem eigentlichen Romangeschehen herausfallen und wie poetische Zugaben des schriftstellernden Studenten anmuten. Zum einen ist es die Episode ‚Eine der Letzten ihrer Art‘: Eine greise Tumorkranke berichtet im Zugabteil über Kriegsgräuel und ihre persönliche Hitlerbegeisterung. Zum anderen die Schilderung der Unterrichtsstunde eines Aushilfslehrers. „Fick disch, du häschlischer Vogel“ / „Ruheee, setzt euch hin!“; so klingt es zwei Seiten lang. Da erscheint dem Armen sein anderer Job im Burger-Imbiss samt „Klos putzen“ doch verlockender.

Ein Clou im Zusammenhang mit dieser bitteren Schul-Episode ist: Der Autor Frank Salewski, geboren 1967, hat jahrelang erfolgreich als Sonderschullehrer mit verhaltensauffälligen Schülern gearbeitet.

Titelbild

Frank Salewski: Braunsiel. Eine Dorfgeschichte.
Killroy Media, Asperg 2022.
216 Seiten , 17,00 EUR.
ISBN-13: 9783931140458

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