Stress auf zwei Kontinenten

In Volker Kutschers neuntem Gereon-Rath-Roman hat es den Titelhelden in die USA verschlagen

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit Transatlantik legt Volker Kutscher bereits seinen neunten Gereon-Rath-Roman vor. Er knüpft unmittelbar an die Ereignisse an, die der Kölner Autor in Olympia (2020), dem Vorgängerband der durch die Fernsehserie Babylon Berlin (seit 2017 bisher vier Staffeln) noch populärer gewordenen Reihe um den Berliner Kommissar, beschrieben hat. Das 1936 in Berlin spielende Buch endete spektakulär. Und auch zu Beginn von Band 9 gibt es weiterhin nur drei Menschen, die wissen, dass Gereon Rath noch am Leben ist. Für alle anderen ist er tot, angeschossen auf der Flucht von einem ehemaligen Freund und anschließend in den Landwehrkanal gestürzt und ertrunken. So muss im aktuellen Band des Kölner Autors (Jahrgang 1962) Raths Frau Charlotte einen Großteil der Handlung tragen.

Die hatte eigentlich selbst vor, Nazideutschland in Richtung auf das noch freie Prag zu verlassen, zusammen mit ihrem ehemaligen Ziehsohn Friedrich „Fritze“ Thormann. Mit ihm trifft sie sich inzwischen gelegentlich wieder, nachdem er im Haus des SA-Funktionärs Rademann alles andere als glücklich geworden ist, die pädophilen Annäherungen des Mannes zu ertragen hatte und als unliebsamer Zeuge eines Mordes im Olympischen Dorf, der vertuscht werden sollte, für eine Weile in eine psychiatrische Anstalt verbracht worden war. Doch als Fritze einem jungen Mädchen, Hannah Singer, das er von früher kennt und in den Wittenauer Heilstätten wiedergesehen hat, zur Flucht verhilft und obendrein Charlottes beste Freundin Greta Overbeck in einen Mordfall verwickelt wird, muss sie ihre Fluchtpläne erst einmal aufschieben.

Denn natürlich will sie den jungen Thormann mitnehmen und Greta, die für eine Weile untergetaucht ist, von dem Verdacht befreien, den SS-Mann, mit dem sie zuletzt zusammengewesen ist, ermordet zu haben. Also werden alte Verbindungen reaktiviert und neue Bekanntschaften – von denen eine, die mit dem Musiker Friedhelm Siegel, sich sogar zu einer kleinen Liebesgeschichte entwickelt – dazu benutzt, ihr bei den schwierigen und nicht ungefährlichen Unterfangen, in die Charlotte wie stets, wenn sie sich etwas vorgenommen hat, ihre ganze Energie steckt, zu helfen.

Transatlantik greift etliche Handlungsdetails aus Olympia wieder auf, ohne in jedem Fall erzählerisch auf das im vorausgehenden Band Geschehene zu rekurrieren, so dass diejenigen Leserinnen und Leser, die bereits heimisch sind im Romankosmos von Volker Kutscher, zunächst im Vorteil sein dürften. Aber auch Neulinge in der Welt von Gereon Rath, seiner Frau Charlotte sowie zahlreicher weiterer Romanfiguren, sollten schnell merken, wie akribisch bis in kleinste Details, sorgsam die historischen Zusammenhänge einbeziehend und spannungsgeladen bis zum Schluss hier eine der dunkelsten Perioden der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts zu literarischem Leben wiedererweckt wird. Dass der Autor erneut nicht jeden einzelnen Handlungsfaden auch zu einem Ende bringt, sorgt im Übrigen dafür, dass genug Stoff für einen weiteren, den zehnten und wohl letzten Band der Reihe, die nach dem Willen des Autors am Vorabend des Zweiten Weltkriegs enden soll, übrig bleibt.        

Doch vorerst schreibt man noch das Jahr 1937. Unter dem Berliner Funkturm wird die Hitler-Ausstellung „Gebt mir vier Jahre Zeit“ vorbereitet, für Charlotte „eine einzige eklig eitle und verlogene Selbstbeweihräucherung der Nazi-Clique und ihres selbsternannten Führers“. Von freier Presse kann deutschlandweit schon längst keine Rede mehr sein. Jüdische Ärzte müssen, wenn sie deutsche Staatsbürger, die ihnen auch nach dem Erlass der Rassegesetze das Vertrauen nicht entziehen, weiterhin behandeln wollen, Zuflucht zu gefährlichen Täuschungsmanövern nehmen. Erste groß angelegte Luftschutzübungen, die die gesamte Berliner Bevölkerung für Stunden in die Keller treiben, lassen erahnen, dass „der Ernstfall“ in den Köpfen der Herrschenden bereits eine Rolle spielt. Und bei Oranienburg legen Häftlinge unter mörderischen Bedingungen und befehligt vom späteren Lagerkommandanten des KZ Buchenwald, Karl Otto Koch, letzte Hand an die Baracken und Wachanlagen des Konzentrationslagers Sachsenhausen.

All das bezieht Kutscher in seinen Roman mit ein, in dem im Jahr Eins nach Olympia bereits der Countdown in Richtung auf den knapp zwei Jahre später beginnenden Zweiten Weltkrieg läuft. Jeglichen Widerstand gegen ihre Gewaltherrschaft haben die Nazis gebrochen. Gegen Abtrünnige in den eigenen Reihen gehen sie ebenfalls rigoros und mit äußerster Brutalität vor, denn Strafen haben sie nicht zu befürchten. Denunzianten werden ermuntert und belohnt.Und so muss sich Charlotte Rath vorsehen, wem sie bei ihren detektivischen Nachforschungen vertraut und wem gegenüber sie sich lieber bedeckt hält. Das sorgt im Verlauf des Buches für einige Irritationen und Gefahrensituationen, denen die junge Frau stets mit knapper Not entkommt, hindert sie allerdings nicht daran, das weiterzutun, was in ihren Augen gerecht und moralisch ist.      

Derweil gestaltet sich das Leben Gereon Raths, den, weil seine Leiche nicht wieder aus dem Landwehrkanal aufgetaucht ist, bei seinen alten Feinden innerhalb von SS und Gestapo beileibe nicht jeder für tot hält, auf der anderen Seite des Atlantik nicht unbedingt konfliktärmer. Eine noch in Deutschland spielende Episode des Romans hat den Ex-Kommissar wieder mit einer alten Bekannten, der Gräfin Sorokina, aus seinen ersten Berliner Jahren zusammengeführt und Kutscher nutzt die Gelegenheit, um die beiden auf eine der spektakulärsten und gefährlichsten Ozeanüberquerungen jener Tage zu schicken, nämlich an Bord der „Hindenburg“, jenes Luftschiffs, dass nach seiner Landung am 6. Mai 1937 auf dem Flughafen Lakehurst in Flammen aufging, nachdem die Wasserstofffüllung des Ballons Feuer gefangen hatte.

Und sollte sich Gereon nach den hektischen letzten Jahren, in denen er sich Stück für Stück zu einem anderen Menschen entwickelte, einem, dem seine Karriere im Nazireich immer suspekter wurde, auf eine ruhigere Zeit bei seinem in Amerika lebenden Bruder gefreut haben, muss er bereits, nachdem er dem Flammentod mit knapper Not und der nicht gerade uneigennützigen Hilfe der Gräfin entkommen ist, feststellen, dass er seinen Todfeind Johann Marlow auch jenseits des Ozeans nicht losgeworden ist.   

Nach inzwischen neun vorliegenden Bänden und kurz vor der Vollendung seiner Dekalogie um zwei Menschen und ihren Kampf darum, menschlich zu bleiben in einer Zeit, die in vielen anderen nur das Schlechteste zutage förderte, hat Kutscher mittlerweile zu einer unverwechselbaren Handschrift gefunden. Seine raffinierte Mischung aus überprüfbarer Zeitgeschichte und zahlreichen in diese verstrickten, erfundenen Biographien hat Millionen Leser gefunden und bei anderen Autoren Schule gemacht. Doch noch sind die Geschichten um Gereon Rath, seine Frau Charlotte, ihren ehemaligen Ziehsohn Fritze Thormann und einige andere um dieses personelle Zentrum herumgruppierte Figuren – zu denen auch solche der Zeitgeschichte gehören – nicht zu Ende erzählt. Denn auch wenn einige seiner ältesten Feinde in Transatlantik ihr verdientes Ende finden, wartet in Berlin immer noch ein Mann auf Rath, der ihm tödliche Rache geschworen hat und, anders als Kutschers Hauptfigur, den Vorteil besitzt, dass er über die Macht verfügt, jederzeit das Leben von Gereons Frau als Druckmittel einsetzen zu können.     

Titelbild

Volker Kutscher: Transatlantik. Der neunte Rath-Roman.
Piper Verlag, München 2022.
560 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783492071772

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