Der Dichter und seine Denker

Dürrenmatt bekommt zum 100. Geburtstag eine Fibel zum Werk

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was passiert, wenn der Autor im Werk stirbt? Worüber kann am Kreuz gelacht werden? Welche Deutungswege weist der Minotaurus? Und wie kommt „Motivation von hinten“ (Clemens Lugowski) zustande? In der Diskussion dieser Fragen liegt der Reiz der Werkfibel, die Irmgard M. Wirtz und Ulrich Weber herausgebracht haben. Entstanden ist sie aus einer vom Schweizerischen Literaturarchiv veranstalteten Ringvorlesung zum 100. Geburtstag des Dichters im Wintersemester 2020/21. Dort liegt sein Nachlass, dort wird seit über dreißig Jahren sein umfangreiches Spätwerk, die Stoffe I-IX, erforscht. Grund genug, alles, was man über Friedrich Dürrenmatt zu wissen glaubt und möglicherweise über seine Werke dazulernen möchte in dieser Fibel aufs Neue durchzubuchstabieren.

Alphabet als Framing des Werks

Das Alphabet erweist sich als quicklebendiger Teaser: aus Stichwörtern werden Schlüsselbegriffe, geeignet, den Klassiker zu Lebzeiten so zu erschließen, wie er es wohl selbst gewünscht hat, als er sich als einen „Meteor“ bezeichnete, der über den Literaturhimmel funkelt und statt Karten Krater hinterlässt. Eine Einladung also, sich auf diesen Andersdenker einzulassen, der es ablehnte, auf eine Demonstration zu gehen, weil er sich selbst als solche sah. Es beginnt, wie es besser kaum sein könnte, mit einer Gouache Friedrich Dürrenmatts aus den späten 1970er Jahren. Auf der Skizze sehen wir zwölf schmächtige Figuren, die durch den Raum schweben und mit dem Erdball jonglieren: groteske Nachkommen von Atlas, die sich in Dürrenmatts Sinne zu einem „Endbild“ jener Welten aufspielen, die sie zu tragen bestellt sind. Es sind Meister der Endspiele und der schlimmstmöglichen Wendungen, Denkbildner mit durcheinander- und durchgehenden Geschichten, Alternativfiguren in einem „erzählerisch nicht zu bändigenden Labyrinth“, wie Alexander Honold in seinem geistreichen „W wie Welt“-Artikel schreibt.

Und natürlich beginnt die Fibel mit „A wie Anfangen“. Ulrich Weber, der 2020 eine sehr achtbare Biographie über Dürrenmatt vorgelegt hat, bespricht die Autorrollen, die der Dichter als „Seher ohne Gott“, als zweiter Schöpfer, als Tragikomiker beim „Ausbrüten von Kuckuckseiern“ eingenommen hat. Und nachgerade logisch folgen dem die Beiträge über „B wie Babylon“, „C wie Chaos“ und „D wie Distanz“: Belege dafür, wie vergnüglich und zugleich lehrreich es sein kann, einen Spot im Werklabyrinth des Dichters so zu beleuchten, dass er zum Mittelpunkt eines Gedankennetzwerks wird. Der Minotaurus als „Reflexionsfigur der Moderne“ (Monika Schmitz-Emans) bespiegelt sich selbst, könnte man dabei denken: ein tragikomischer Einfall, der das Chaos aus der Distanz betrachte und dabei die Komik einsetzt, um das Ungestalte zu gestalten.

Kurzweilige Wege zum Stoff

Alle Beiträge können hier natürlich nicht angeführt werden. „E wie Einstein“ (von Eduard Kaeser) sei beispielhaft genannt. Er bringt die Regie des Zufalls, die dem Determinismus einer zur Groteske bestimmten Welt ein Schnippchen schlägt, mit dem berühmten Zitat aus Einsteins Brief an Max Born vom 4.12.1926 auf den Punkt:

Die Quantenmechanik ist sehr achtunggebietend. Aber eine innere Stimme sagt mir, daß das noch nicht der wahre Jakob ist. Die Theorie liefert viel, aber dem Geheimnis des Alten bringt sie uns kaum näher. Jedenfalls bin ich überzeugt, daß der nicht würfelt.

Faszinierend ist auch Ulrich Boss‘ und Elio Pellins Beitrag „F wie Film“, der Dürrenmatts „Schweizer Requiem auf den Western“ unter die Lupe nimmt. Die Analogien zwischen dem Besuch der alten Dame und Fred Zinnemanns Railway- und Town-Western High Noon (1952) liegen mit dem rahmenden Bahnhofs-Einfall und dem Geltungsanspruch des Faustrechts auf der Hand. Sie lassen sich auf den nach den Worten des senegalesischen Regisseurs Djibril Diop Mambéty von Dürrenmatt inspirierten Film Hyènes (1992) übertragen, der in einem Vorort von Dakar spielt und Westernization und Postkolonialismus, Moral und Kapitalismuskritik durchspielt.

Vorherrschend auch in dieser Fibel ist der Komplex von Gelächter und Humor, Ironie und Satire, Groteske und Tragikomik. Wir verstehen, warum Dürrenmatt Pilatus mochte: weil der römische Statthalter seinen Augen und seinem Gottesbild nicht traute, als er Jesus sah, der sich Gottes Sohn nannte – ein Beispiel für die Dramaturgie des Missverstehens in Dürrenmatts Christologie (Andreas Mauz). Und warum dem Dichter Don Quichotte näherstand als Ödipus, der an den Göttern und dem Schicksal zugrunde ging, aber nicht an der Welt als Wille und Vorstellung litt. Auf der späten Lithographie Gelächter von Dürrenmatt, die der Band uns zeigt, sehen wir tanzende und turnende Figuren auf einem verbogenen Kreuz. Dieses närrische Treiben im Angesicht des Endes ist Friedrich Dürrenmatts Galgenhumor.

Titelbild

Irmgard M. Wirtz / Ulrich Weber (Hg.): Dürrenmatt von A bis Z. Eine Fibel zum Werk.
Wallstein Verlag, Göttingen 2022.
360 Seiten , 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783835351868

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