Wenn Tiere Politik und Kultur prägen

Marion Darilek vergleicht das Widerspiegeln gesellschaftlicher Wirklichkeiten im „Reinhart Fuchs“ und dem „Roman de Renart“

Von Jörg FüllgrabeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Füllgrabe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gab offenbar nicht nur Zeiten, in denen das Wünschen noch geholfen hat, sondern auch solche, in denen Tiere im Feld der Politik mindestens so erfolgreich waren wie dortselbst aktive Menschen – und mitunter drängt sich der Eindruck auf, dass dies in bestimmter Hinsicht auch einen Gegenwartsbezug hat. Dass politisches Taktieren und Handeln nicht unbedingt für alle Beteiligten von Vorteil ist, scheint eine Konstante der Weltgeschichte zu sein und wird hier von Marion Darilek unter dem Titel Füchsische Desintegration anhand des eben defätistischen Agierens des Protagonisten im Reinhart Fuchs diskutiert.

Kondensationsfeld ist der, so scheint es, unausweichliche Prozess politischer Diffusion und Erosion, der in dem Moment einsetzt, in dem die etablierte Ordnung durch den Ausfall machtausübender und -tragender Kerngewalt instabil wird; kaum merklich zunächst, aber unerbittlich. Dass derlei gerade zum literarischen Thema wird, ist angesichts der potenziellen Dissonanzen bei zu klarer Beurteilung der Dinge nicht weiter verwunderlich.

Die vorliegende Publikation ist eine überarbeitete Fassung der von der Autorin 2019 abgeschlossenen Dissertation und erschließt – nicht zuletzt durch den Vergleich des mittelhochdeutschen Reinhart Fuchs mit dem französischen Roman de Renart – in gewissem sinne ein pan- oder doch zumindest mitteleuropäisches Kulturphänomen. Dass es dabei nicht allein um Literatur gehen kann, wird allein schon anhand des Sujets naheliegen. Allgemeine kulturhistorische Aspekte wie explizit politikgeschichtliche Positionen werden im Rahmen der Bearbeitung des Themas als erweiternde Elemente von relevanter Bedeutung miteinbezogen.

Das „merkwürdige erzeugnis unsrer literatur“, wie die Autorin in ihrer Einleitung Jacob Grimm zitiert, wird dann im Folgenden auf die Interdependenzen von tierischem und menschlichem Sein untersucht, wobei die einzelnen Arbeitsschritte und Leitfragen – ein produktives Relikt der ursprünglich eingereichten Dissertationsschrift – zunächst in einer Einführung dargelegt werden. Der Aspekt des Revolutionären oder zumindest des Rebellischen, die gegebene Ordnung nicht allein reflektierend auf den Prüfstand stellend, sondern letztlich durch umstürzlerisches Gehabe aus den Angeln zu heben suchend, ist in gewissem Sinne der Überbau, unter dem sich die Romanentwicklung vollziehen muss. Dementsprechend ist am Ende der Einführung zu lesen: „Jenen programmatischen Verfahren der Kritik und Infragestellung, der Erschütterung und Unterminierung, der Dekonstruktion, Auflösung und Dekonstruktion von Ordnungsentwürfen auf ganz unterschiedlichen Ebenen möchte die vorliegende Arbeit auf den Grund gehen, indem sie nach ‚Desintegrationsstrategien‘ im Reinhart Fuchs fragt.“

Dabei deutet sich ein interessanter Weg an, der mit einem recht umfangreichen Resümee des Forschungsstandes zum Themenfeld unterfüttert wird. Hier werden neben einem Blick auf Aspekte wie etwa Entstehung, Überlieferungsstränge und damit einhergehende Tradierung sowie einer auch chronologische Aspekte berücksichtigenden Konkordanz mit dem Roman de Renart bereits auch einzelne Interpretationsansätze vorgestellt, die eine weitere ‚Leitplankenfunktion‘ haben und die in den sich anschließenden „theoretischen Ansätzen“ und einem „methodischen Zugriff“, also dem vierten Kapitel, dann weiter ausgeführt werden, um der Füchsischen Desintegration auf die Schliche kommen zu können.

Diese theoretischen Vorbemerkungen samt methodischem Zugriff dienen demnach dazu, eine respektive mehrere Meta- und Referenzebenen zu erschließen, anhand derer die Bedeutungs- und Interpretationsverortung der Dichtung(en) erfolgen kann. Die Kontextualisierung der deutschen Dichtung in einen europäischen Kontext als ein wesentliches Element dieser Hinführungsstrategie bietet sich allein schon deshalb an, weil ein Vergleich zur französischen Tradition gezogen wird, aber selbstverständlich würde dieses Vorgehen auch grundsätzlich naheliegen, ohne einen direkten Textvergleich anzustellen. Dass die Parameter Satire und Parodie gerade in der Tierdichtung wesentliche Elemente darstellen, ist ebenfalls bereits angesichts der Konstellation von tierischem Personal in ‚menschlichem‘ Ambiente naheliegend. Und so bieten sich die folgenden Bemerkungen nachgerade wie von selbst an:

„Die Vernetzung von parodistischen und satirischen Verfahren lässt sich grundsätzlich am Beispiel des Verhältnisses von höfischer Literatur und Tierepik aufzeigen. Denn insofern die höfische Lyrik und Epik als wesentlicher Bestandteil und zentrales Repräsentationsmedium der höfischen Kultur und damit als Instrument aristokratischer Selbstdarstellung und Identitätsstiftung zu betrachten sind, impliziert eine parodistische Adaption immer auch eine Reflexion, je nach Form und Intention der Parodie auch eine Kritik oder Unterminierung der damit verbundenen Ordnungen, Normen und Werte sowie des damit einhergehenden ideologischen Überbaus und erfüllt somit zugleich eine satirische Funktion.“

Dem ist kaum zu widersprechen, zumal vermutlich ein wesentlicher Beweggrund zum Verfassen und Rezipieren von derlei ‚tierischen‘ Texten darin gelegen haben wird, ein Ideal tierischen Verhaltens (das unter der erst später so formulierten Prämisse eines ‚Zurück zur Natur‘ als Optimum politisch-sozialer Ordnung begründet worden sein mag) oder das Gegenteil einer solchen Perfektion, nämlich die ‚tierisch‘ verbrämte Schlechtigkeit menschlicher Politik und menschlicher Gesellschaft, zu kritisieren, ohne dabei die real existierenden Verhältnisse allzu eindeutig erkennbar zu machen. Dies wird von der Autorin dann auch in einem fünften Kapitel verdeutlicht, indem der Begriff der „Desintegration“ als wesentlicher operativer Faktor zur Erschließung der literarischen Texte eingeführt und erläutert wird. Da dieses Kapitel allerdings sehr klein ist, wäre es problemlos möglich gewesen, das Ganze noch unter „theoretische Vorbemerkungen“ zu subsumieren – vielleicht rührt die Herausstellung aber schlicht daher, dass Desintegration als Begriff im Titel der Publikation aufgeführt ist.

Nach diesen Präliminarien wird der eigentliche Hauptteil, „Analysen und Interpretationen“, angegangen. Dass hierbei gerade die negativen Assoziationen zur literarischen Gestalt wie auch der biologischen Realität des Fuchses in den Blick genommen werden, sollte nicht überraschen. Realiter waren Füchse als Räuber kleinerer Nutztiere der bäuerlichen Bevölkerung nicht nur ein Dorn im Auge, sondern mitunter eine Bedrohung ihrer Existenz, und dementsprechend ist auch die literarische (Be-)Wertung des Tieres. Füchse werden als klug dargestellt, allerdings nicht oder allenfalls äußerst selten als weise. Das bedeutet, dass die List und Pfiffigkeit des Tieres gelegentlich zwar durchaus auch anderen hilfreich sein mag, in erster Linie aber selbstbezogen ist. Füchsische Schläue überlistet Dummheit (das ist durchaus angemessen), brutale Herrschaftsgewalt (das ist bewundernswert), aber auch großherzige Gutmütigkeit – und das ist verwerflich! Die Ambivalenz zumindest in der Wahrnehmung des Fuchses sowie seine charakterlichen Brechungen machten das Tier also zum perfekten Kandidaten für systemkritische Texte.

Diesen Auffassungsmustern gemäß steigt der interpretatorische Teil mit der auf den ersten Blick irritierenden Phrase „Fuchs, du hast den Hahn gestohlen“ ein – eine Formulierung, die offenkundig mit dem Kinderlied über die durch einen Fuchs gestohlene Gans in Beziehung steht. Allerdings ist es in der mittelalterlichen Dichtung tatsächlich ein Hahn, wobei denn auch – ganz im Sinne der im Kontext juristischer Durchsetzung geforderten Unmittelbarkeit der Konsequenz von Verbrechen und Strafe – der Räuber bei Uneinsichtigkeit mit letalen Konsequenzen bedroht wird.

Sowohl in der späteren Kinderliedfassung als auch im Text spielen anthropische Aspekte eine wesentliche Rolle; bereits in der Basishandlung wird deutlich, dass es nicht um eine naturwissenschaftliche Beschreibung, sondern moralische Zuordnung geht. Während das Lied gewissermaßen unterhalb des kleinräumigen Institutionalen bleibt, sind die mittelalterlichen Referenztexte, auf die Marion Darilek Bezug nimmt, systembezogen: Die Handlung wird aus dem gewissermaßen ‚privaten‘ Raum des Hühnerhofs in den Rahmen des tierischen Staatswesens transferiert, wo selbstverständlich nicht der geschädigte Bauer, sondern das durch den Hahn als pater familias sowie dessen Ehefrau vertretene Hühnerkollektiv Klage führt. Die hier mit eingebaute Thematisierung der Erkrankung des königlichen Löwen, dessen Rolle als Herrscher der Tiere auch für die Einhaltung von Rechtssicherheit steht und dessen Name sicherlich nicht zufällig Vrevel ist, führt dazu, dass bestimmte Untergebene ihre Grenzen austesten, indem sie sich Freiheiten herausnehmen, die ihnen nicht zustehen – ein Verhalten, das von einem starken, also ‚funktionsfähigen‘ Regenten nicht geduldet und somit unterbunden würde. Das wäre dann aber für die eigentliche Pointe zu wenig gewesen, denn unversehens schließen der schlaue Fuchs und der Herrscher der Tiere ein informelles Bündnis, das im Endeffekt noch mehr tierische Opfer, auch in der Hühnerschar, fordert. Erzählt wird demnach unterhalb der tragikomischen Handlung eigentlich der allgemeine politische, rechtliche und soziale Ordnungsverfall.

Dass der durchtriebene Protagonist in französischer wie deutscher Überlieferung nicht nur als Beutegreifer in Erscheinung tritt, sondern sich auch im Kontext des Amourösen bewegt, wird anhand einer reichlich abstrusen Episode deutlich, in der die Komplexität der Beziehung von Fuchs und Wolf behandelt wird. Diese wird immer wieder auch in anderen Fabeln zum Thema gemacht, wobei es zumeist darum geht, dass der kleinere Verwandte seinem größeren Vetter durch List dessen Beute abjagt, was auf den Sieg des Intellekts über die reine körperliche Kraft verweisen soll. Gleichwohl, und dies ist die Grundlage dieser Betrügereien, werden beide auch in der Fabel nahezu durchgehend als verwandte, versippte Tiere beschrieben, sodass der hier folgende Vertrauensbruch besonders schwer wiegt. Dieser liegt darin, dass der schlaue Fuchs die Frau seines Wolfsvetters mit dem Versprechen auf kulinarische Genüsse zu seinem Bau lockt, wo das größere Tier allerdings im Eingang steckenbleibt.

Der füchsische Protagonist nutzt die Zwangslage seiner wölfischen Verwandten in sexuellem Sinne aus, wobei aus beiden Referenztexten nicht eindeutig hervorgeht, ob es sich um Zwang, Überredung oder Einvernehmlichkeit handelt. Das Ganze zieht, da von vielen Tieren beobachtet, einen Skandal nach sich und spielt auf mehreren Ebenen sowohl mit der animalischen Begierde und damit der Zügellosigkeit, aber eben auch mit sozialen Paarverhältnissen, da die Wölfin zumindest verehelicht ist. Diese Episode greift damit einerseits Stereotype der Zuschreibung von Verhaltensweisen auf, andererseits – unter Rückgriff auf Erzählungsparameter wie die des Stricker – aber auch menschliches Verhalten und damit die Kontrafaktur von moralisch-gesellschaftlichem Verhaltenskodex und emotionaler Lebenswirklichkeit.

Auch für Heldisches findet sich in den beiden Fuchs-Überlieferungen ein prominentes Beispiel. Es geht um den Krieg der Ameisen gegen den König der Tiere, in dem der – allerdings nur scheinbar ehrliche – Makler Reinhart entscheidend zur Schlichtung des Konflikts beiträgt. Die bereits im Zusammenhang mit dem ‚Mord am Hühnerhof‘ anklingende Absurdität findet in der Ameisen-Episode ihre kongeniale Fortsetzung. Die staatsbildenden Tiere, die bereits seit der Antike synonym für Fleiß, Zusammenhalt, aber auch Opferbereitschaft stehen, werden hier zu Handelnden in einem ungleichen Kampf, der in gewisser Hinsicht das vorweg nimmt, was Gulliver im Land der Liliputaner widerfahren wird. Ausgangspunkt ist der Anspruch des königlichen Löwen, die Insekten – beheimatet in ihrer burc, einem Ameisenhaufen – sollten sich seiner Herrschaft unterwerfen. Die Weigerung der Tiere erzürnt den Herrscher dermaßen, dass er mit einem kühnen Sprung diese burc zerstört, dafür aber den Preis zahlen muss, dass sich eine Vielzahl der kleinen Insekten in seinem Fell und insbesondere der Mähne verfängt und dem Herrscher empfindlich zusetzt. Erfolgreich, was die bloße Zerstörung angeht, aber darin gescheitert, was darüber hinausweist, muss sich der König mit seinem Gefolge zurückziehen – und ist dann auf füchsische Unterstützung angewiesen.

Denn die große Stunde Reinharts schlägt schließlich auf dem anberaumten Hoftag, auf dem er sich gewissermaßen als Wunderheiler zu gerieren vermag und nicht zuletzt durch Versprechungen und Überredung die Ameisen dazu bewegt, von ihrem Opfer abzulassen. Es erfolgt somit ein Ausgleich, bei dem der Begriff ‚Verhandlungsfrieden‘ naheliegt. In der Ausgestaltung weist Marion Damilek Parallelen zur Heldendichtung nach und mag insbesondere Anspielungen auf die Klage erkennen. Auch auf historischer Ebene werden Bezüge zu den Verheerungen der oberitalienischen Städte, hier insbesondere Mailands, bemüht, was folgerichtig erscheint.

Dem füchsischen Protagonisten freilich dürften derlei Bezüge gleichgültig sein. Reinhart/Renart ist um seinen Status und sein Fortkommen besorgt und blickt als literarische Figur natürlich auch nicht über die (Buch-)Seiten seiner Welt hinaus. Das gilt jedoch nicht für das Publikum, und so ist das Zwischenfazit der Autorin hervorzuheben: „In allen drei untersuchten Feldern zeigt sich ein raffiniert kalkuliertes Spiel mit der Leser- bzw. Hörererwartung, indem der Text unter Bezugnahme auf animalische und literarische Erzählmuster und Wissensbestände Spannungs- und Sympathiesteuerungsbögen entwirft […], nur um sie schließlich in sich zusammenbrechen zu lassen.“

So wird geschickt zum zweiten Fokus der „Analysen und Interpretationen“ übergeleitet, in der der titelprägende Begriff der Desintegration, nämlich als „Desintegration religiöser Ordnungen“, benannt wird. Hierbei wird eine aus heutiger (Wissens-)Sicht irritierende Konstellation vorgestellt, denn es ist zwar allgemein bekannt, dass es ‚Wölfe im Schafspelz‘ gibt, kaum jedoch, dass diese gelegentlich auch das Mönchshabit tragen. Der ‚mönchische Wolf‘ war in der Literatur des Mittelalters zumeist nicht der Beleg für die Allmacht Gottes, der die Bestie zu besänftigen vermochte, sondern Vehikel der Kritik am klerikalen, hier spezifisch monastischen, Auseinanderfallen von christlichem Anspruch und gelebter Wirklichkeit.

Wenn wie in den beiden Fuchsromanen auch noch deutlich ausgeführtes Unwissen hinzukommt, wird die Absurdität des Ganzen noch einmal auf die Spitze getrieben. Und „da Reinharts Täuschung just an den Strategien der eschatologischen Vergewisserung als Teil der mittelalterlichen Frömmigkeitspraxis erfolgreich ansetzt, artikuliert der Text […] ein profundes Misstrauen gegenüber der kirchlichen Lehre und dem religiösen Ordnungsdenken“.

In einer absonderlichen Episode verliebt sich zunächst der Fuchs in sein Spiegelbild, das ihn aus einem Brunnen anschaut, springt daraufhin in den Brunnen beziehungsweise einen Zugeimer und kommt nur durch List und Glück noch einmal davon: Seinem stärkeren Verwandten, dem Wolf, widerfährt eine ähnliche Gefühls- und Realitätsverwirrung. Da sich der Brunnen in einem Klosterhof befindet, überlebt zwar auch der Wolf, dieser wird allerdings, nachdem er aus dem Brunnen gerettet wurde, von den Mönchen halbtot geschlagen und nur wegen seiner vermeintlichen Tonsur am Leben gelassen.

Eine Posse um klerikales Leben und kirchliche Insignien. Aber nicht nur diese erste Ebene scheint von Interesse gewesen zu sein, sondern besagter Brunnen transportiert trotz seiner Einbettung in klösterliches Gelände zudem eine Unterwelts- beziehungsweise Jenseitsmetaphorik, die im mittelhochdeutschen Reinhart auch noch durch die aufkommenden Vorstellungen des Purgatoriums erweitert ist. Dennoch wird deutlich: „Das ambige Körperzeichen der Tonsur bewirkt […] eine grundlegende Infragestellung der religiösen Lesbarkeit der Welt und in der Folge eine Desintegration religiöser Ordnungsgewissheit.“

Diese Effekte werden auch in Zusammenhang mit dem eigenwilligen Interpretieren der letztlich religiös begründeten Praxis des Eidesschwurs deutlich. Hier nun soll der Fuchs mit eigenen, unlauteren Mitteln gestraft werden, wobei die Einbeziehung eines sich tot stellenden Hundes, in dessen Maul der Fuchs sein Pfote als ‚Schwurort‘ legen soll, vermutlich auf Tyr und den Fenriswolf anspielt, hier jedoch glimpflich ausgeht. In der französischen Version eigenständig, im Deutschen dank der Hilfe eines Dachses, erkennt der Fuchs den Betrug und bleibt ungeschädigt. Dass damit aber zumindest das Hinterfragen oder gar die Ablehnung religiöser Metasysteme als Garanten gerechter Politik und Justiz verbunden sind, ist unbestreitbar, die Transponierung aus der Welt der Tiere in die der Menschen scheint eindeutig.

Um Vertrauen und Vertrauensbruch geht es auch, wenn in der literarisch-tierischen Sphäre Reliquien und damit verbundene Wunder ad absurdum geführt werden, sodass auch hier ein wesentlicher Pfeiler mittelalterlicher Religions- und Ordnungspraxis zur Disposition gestellt wird. Und es scheint, so Marion Darilek, dass der mittelhochdeutsche Text hier sehr viel fundamentaler kritisiert, indem die Skepsis gegenüber der Reliquienverehrung grundsätzlich und nicht nur hinsichtlich eines möglichen Missbrauchs zum Ausdruck gebracht wird. Diese Richtung wird sogar hinsichtlich der Gebetspraxis aufrechterhalten, etwa in einer Episode, in der Reinhart der Anteil eines durch seine List erst erbeuteten Schinkens vorenthalten wird. Auch hier weisen die Handlungen der tierischen Protagonistinnen und Protagonisten auf die im menschlichen Kontext real vollzogene Pervertierung religiöser Praktiken zum Zwecke des Rechtsbruchs hin – und die Anklänge an gesellschaftlichen Missbrauch waren gewiss nicht nur den Menschen des Mittelalters naheliegend.

Und obgleich der Fuchs im vorliegenden Zusammenhang beinahe zum Opfer geworden wäre, ist er letztlich der Prototyp des Betrügers und – ein Exkurs der Autorin weist dies anhand diverser Belegstellen nach – damit auch in theologischem Sinne höchst verdächtig und eindeutig negativ konnotiert, auch wenn sich das Tier als Instrument göttlichen Strafens im theologischen Überbau durchaus als ‚funktional‘ erweisen kann. Im Reinhart scheint aber sogar dieser letztlich der Vergewisserung eines absolut gerechten und für das Weltganze unabdingbaren göttlichen Heilsplans dienende Aspekt aufgehoben: „Dieser Bruch […] ist es, der auch in Bezug auf die Verfahren religiöser Wertung eine Desintegration von Deutungs- und Ordnungsgewissheit bewirkt.“

Als letzter Themenbereich wird die „Desintegration von Körper und Herrschaft“ in den Blick genommen, die sich in den Fuchs-Erzählungen vornehmlich durch die destruktiven Elemente äußert, mit denen die Apotheose eines auch die moralische Wertigkeit widerspiegelnden Körperideals gebrochen wird. Dies beginnt mit einem Blick auf den König der Tiere, den Löwen Vrevel, dessen Widersprüchlichkeit, wie bereits an anderen Stellen der Untersuchung hervorgehoben, nochmals intensiv herausgearbeitet wird. Die bereits in der antiken Fabel, aber etwa auch der biblischen Überlieferung hervorstechende charakterliche Ambivalenz zeigt sich ebenfalls in Zusammenhang mit den untersuchten Fuchs-Erzählungen. Aspekte der Körperlichkeit des Löwen weisen, so die Autorin, einerseits heilstheologische Aspekte auf, führen aber – nicht zuletzt durch den krankheitsbedingten Verlust (herrscherlicher) Stärke – schließlich zu einem moralischen Verfall; am Ende steht der Tod des Herrschers.

Als weitere wichtige Figur im Reigen dieser Tiere fungiert Brun der Bär. Im Exkurs wird auch hier auf die Überlieferung und Deutung des Bären als das aufgrund seiner Fähigkeit, zumindest kurzzeitig aufrecht zu gehen, ‚menschlichste‘ Tier verwiesen. Sowohl im Roman de Renart als auch dem Reinhart Fuchs wird zugleich die animalische Natur des Bären dargestellt, die allerdings im französischen Text weitaus mehr betont wird, während Brun im Reinhart als Hofkaplan nicht nur allgemein menschenähnlich fungiert, sondern eine wesentliche, insbesondere theologisch prominente Rolle einnimmt. Aber auch diese mächtige Figur wird letztlich zum Opfer des heimtückischen Fuchses, der die Vorliebe des Bären für Honig nutzt, um diesen in eine Falle zu locken, aus der er sich nur unter Verlust seines Pelzes oder zumindest wesentlicher Teile davon zu befreien vermag. Umgekehrt zur dargestellten Enthaarung, die eine Anlehnung an den Menschen nahelegen könnte, verliert das Tier dabei jedoch die Attribute, die ihn als menschenähnlich auszeichnen: Die Sprache des Tieres geht zugunsten des animalischen Brummens verloren, während Brun unter den Spottworten Reinharts in der Wildnis verschwindet.

Noch wesentlich radikaler ist das Verhalten des Fuchses seinem Herrn, dem Löwenkönig Vrevel, gegenüber. Bereits die falschen und verderblichen Ratschläge Reinharts sind Zeichen für die Aushebelung einer an Gerechtigkeit orientierten Ordnung. Die dann erfolgende Vergiftung und die damit einhergehende Erschütterung des politischen Gefüges tun ein Übriges, um die vermeintlichen Gewissheiten ins Wanken zu bringen: „[D]er Zerfall des physischen wie politischen Körpers des Königs, der einer endgültigen Vernichtung von König und Königtum gleichkommt, geht mithin einher mit der Desintegration des moralischen Werturteils.“ Es zeigt sich also ein wahrlich schreckenerregendes Ende des Epos, das neben den bereits zuvor thematisierten Verunsicherungen beziehungsweise der ausgesprochenen Herrschaftskritik angesichts der destruktiven Geschehnisse des Niedergangs der staufischen Herrschaftsmacht wohl auch die Ängste vor der drohenden politischen Anarchie transportierte.

Als nachgeschobener Exkurs, der an früherer Stelle aber sicherlich zielführender, weil den Kern verdeutlichender, gewesen wäre, wird noch einmal das Verhältnis zwischen Fuchs und Dachs untersucht, das im Reinhart Fuchs wesentliche Voraussetzung dafür ist, dass Reinhart einer ihm gestellten Falle entkommen kann und am Leben bleibt. Diese eigentlich gute Tat, die zumindest implizit menschliche Tugenden wie Empathie und Hilfsbereitschaft in tierischem Kontext erkennen lässt, erweist sich allerdings insofern als fatal, als sie zur Folge hat, dass Reinhart sein unheilvolles Treiben weiter fortsetzen kann, an dessen Ende der Zerfall von politischer Ordnung und Struktur steht. Warum die an sich guten Argumentationsgänge nicht bei der bereits zuvor erfolgten Thematisierung der Rettung des Fuchses erfolgten, wird auch nach wiederholtem Lesen nicht nachvollziehbar; eine Umstellung wäre hier eleganter gewesen.

So folgt der Wiederaufnahme der Dachs-Episode recht unvermittelt das Fazit. Zwar numerisch von jenem Epilog geschieden, der ebenfalls als Untereinheit des Komplexes „Epilog und Synthese“ fungiert, ist eben genau diese Komposition zumindest verwunderlich. Dass dabei die Synthese, also die „Desintegrationsstrategien“ recht knapp ausfallen, sei nur am Rande bemerkt. Eindeutigkeit wie Sicherung sind in diesem Text wohl zu erwarten; diese Erwartungen werden aber nicht erfüllt, denn „in der Summe führt der ‚Reinhart Fuchs‘ […] eine vollständige Desintegration von Ordnungsgewissheit vor Augen, die sowohl intradiegetisch die erzählte Welt als auch extradiegetisch die erzählerische Vermittlung umfasst“. Im Kern ist diese Aussage zwar zutreffend, wird doch die Herrschaft des Löwen erschüttert und ein Machtvakuum sichtbar. Inwieweit jedoch von Vollständigkeit gesprochen werden sollte, lässt sich insofern in Frage stellen, als der Wesenskern der Monarchie nicht zur Disposition gestellt wird. Wie desintegriert sind nun das füchsische Denken, Handeln und ihre Konsequenzen? Der Leitbegriff wird adäquat definiert und eingeführt, inwieweit der Terminus „Desintegration“ für die Argumentation alternativlos ist, kann allerdings durchaus hinterfragt werden.

Das Verdienst der Publikation respektive ihrer Verfasserin sollte gleichwohl nicht gering geschätzt werden. Bereits die Akribie, mit der die vorbereitende Lektüre erfolgte, und die Sorgfalt, mit der die Argumentation nicht nur durchgeführt, sondern auch durch Zitate belegt wird, ist eine exzellente Basis für weitere Arbeiten. Allein die Lektüre der ausgewählten Zitate regt dazu an, zumindest den mittelhochdeutschen Text in toto zu lesen.

Insgesamt findet hier wissenschaftliches Arbeiten in kurzweiliger Form seinen Niederschlag, sodass sich die Lektüre nicht bloß informativ, sondern auch unterhaltsam gestaltet. Positiv ist die umfangreiche Bibliographie, ein Manko das Fehlen eines Registers, das durch das detaillierte Inhaltsverzeichnis nicht komplett ersetzt werden kann. Auch der feste Einband ist optisch wie haptisch wunderbar gestaltet. So wird die Füchsische Desintegration sowohl ihren Weg in die Bücherregale finden als auch immer wieder auch zur Hand genommen werden, wenn es um Füchse, Könige, das herrscherliche Ganze und die (politische) Ordnung in der mittelalterlichen Welt geht. Allerdings werden einem Erwerb des Buches in erster Linie auch angesichts der obwaltenden wirtschaftlichen Rahmenbedinungen vermutlich mehrere abwägende Überlegungen vorausgehen.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Marion Darilek: Füchsische Desintegration. Studien zum ‚Reinhart Fuchs‘ im Vergleich zum ‚Roman de Renart‘.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2020.
464 Seiten, 86,00 EUR.
ISBN-13: 9783825347369

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