Sehet her – ich bin!

Mit dem Gedichtband „Ich bin nicht“ beansprucht der geflüchtete Sam Zamrik seinen Platz in der Gesellschaft

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sam Zamrik floh aus Syrien nach Deutschland. Er ist Poet und Metaller. Mit seinem ersten Gedichtband Ich bin nicht tritt er an die Öffentlichkeit und verleiht dem Leben eines jungen Geflohenen Ausdruck. Seine Verse sind melancholisch und hart, mal langsam, mal hektisch. Sie sind zugleich geprägt von lebensbejahender, bunter Schicksalsliebe und tiefschwarzer Heavy-Metal-Härte – ganz wie die Songs seiner Metal-Band „Eulen“. Zamrik berichtet in einem Vorwort aus der „Vorhölle, die eine Bewerbung um Asyl in der düsteren Grenzstadt Eisenhüttenstadt bedeutet“ und in Gedichtform von der Flucht. Er erinnert nasses, salziges, morsches Holz, Hitze, Qualen und verschimmeltes Brot. Schweiß mischt sich mit Tränen. Nah kommt das Gesicht von Narjas – faltige Wangen, Salztränen: „Ihre Augen starren in den/ Hohlraum meiner Knochen“. Zeilensprünge wie dieser treiben den Lesenden weiter. Sie werden in ihrer Härte noch übertroffen vom „Zickzack-/Kurs“ im Gedicht „Ohne Mitte“, in welchem einzelne Wörter, dann zwei oder drei Wörter und ganze Sätze rechtsbündig, zentriert, im Flattersatz auf die Seite gestreut werden. Das Gedicht beginnt mit der Aussage: „Ich bin niemand.“ Es folgt eine rastlose und von ständigen Veränderungen geprägte Suche. Der Entwurzelte sucht Halt. Der Inhalt prägt die Form.

Sam Zamrik schreibt Gedichte auf Deutsch und auf Englisch. Im Gedichtband steht jedem Gedicht seine Übersetzung gegenüber. Es ist stets gekennzeichnet, wer die Übersetzung vorgenommen hat – ob „Dichterkolleg*innen“ (so schreibt es der Autor) wie Björn Kuhligk und Sylvia Geist oder auch Zamrik selbst. Dem Lesenden wird erlaubt, beide Versionen zu sehen. Es ist gewünscht, zwischen Sprachwelten zu wechseln, ihre Wortfülle zu genießen und Bezüge zu entdecken: „Es gibt kein Leben/ in Damaskus,/ nur lebendige Tode.“ Gemeint sind womöglich eher die lebenden Toten, deren fauler Atem die hernach folgenden Zeiten durchweht. Der Bezug zur Metal-Welt des Autors ist mitunter leichter im englischen Original zu erkennen. Zamrik arbeitete als Songtextschreiber im Rahmen der Underground Musikbewegung „New Wave of Syrian Metal“. „Only living Dead“ ist auch ein Song der Heavy Metal Band „Mind of the Sick“, deren 2014 erschienenes, gleichnamiges Album Tracks wie „Death to Old Life“ enthält. Die Grenzen zwischen dem Gedruckten und dem Gesungenen verschwimmen. Das lyrische Ich versucht in Zamriks Gedichtband, sein altes Leben zu beerdigen und ein neues Leben zu beginnen – immer wieder: „Ich starb noch ein paar Mal,/ aber vorher lebte ich/ die Leben, die ich lebte.“ Es ist nicht die Angst vor dem eigenen Tod, der Irreversibilität des Sterbens, die es umtreibt, sondern es ist die Angst vor der Unendlichkeit, dem ewigen Gefangensein im Erlebten, dem Kreisen um die Albträume der Kindheit und der Flucht. Die Gedichte sind geprägt von der Angst, dass der immer präsente Strudel im Kopf nicht endet. Wären somit beide Übersetzungen geeignet gewesen? Sind es doch „lebendige Tode“, denen das lyrische Ich ausgesetzt ist? Aus diesen wäre der reale Tod die Erlösung. Die Lesenden sind eingeladen, an dieser Gedankenreise teilzuhaben. Sie begeben sich unweigerlich zusammen mit dem lyrischen Ich auf den Weg des Flüchtenden – eine intensive und verstörende Erfahrung. „Ich will, dass es weh tut“, ruft das lyrische Ich aus.

Einen Ausweg findet das Ich in einer explosiven Erotik. Die Gedichte „Die Liebenden“, „Nagelspiel“ und „Beten“ sind masochistische Höhepunkte des Gedichtbandes. Bebende Körper vereinen sich in einer rauschhaften und Grenzen verschiebenden Bewegung. Zittern, Stöhnen, Beißen. Die Verse handeln vom Fallenlassen in eine Narben hinterlassende Lust. „Jetzt schlag mich“, bettelt das Ich und betet. Es betet und geht auf im scheinbaren Widerspruch aus Schmerzen und Hoffnung, aus dem Friedrich Nietzsche die Maxime Amor fati entwickelte – den Willen, die eigene, schmerzhafte Situation nicht nur zu akzeptieren, sondern aus ihr Kraft zu ziehen, um das eigene Schicksal zu gestalten. Auch Zamriks Band „Eulen“ zitiert Nietzsche, sie singen über Amor fati. Sie wandeln einen Psalm um und erklären, dass sie sich einem neuen Gott zuwenden wollen: sich selbst. Sie bejahen das Leben und wollen es verbessern. Im Weg steht ihnen die eigene Fremdheit in der Welt. Der Gedichtband setzt genau hier an. Zamrik schreibt, dass seine „Fremdheit“ und seine „Braunheit“ nicht weggewaschen werden könnten. Dies führe ihm nun die deutsche Bürokratie vor Augen.

Denn sein Fluchtweg endet in der Bürokratie und in der Entfremdung von anderen Menschen. Das lyrische Ich erwacht mit einer „an die Stirn gehefteten/ Akte, die ausweist,/ was ich wirklich bin:/ Die Entfremdung/ verkörpert.“ Es sei nicht. Man bestimmt über sein Leben. Dieser Zustand hat dem Gedichtband zu seinem Titel verholfen: Ich bin nicht. Dieser Vers ist eine Anklage. Und ein Weckruf, der sich nicht nur an die Politik, sondern an die Gesellschaft richtet; Zamrik will seine Leserinnen und Leser wachrütteln. Auch ein Nachhallen von Max Frischs Parabel Andorra mit ihren „Ich bin nicht schuld“ ausrufenden Protagonisten ist zu vernehmen. Wie Frisch warnt Zamrik vor Passivität und kollektiver Angst vor dem Fremden. Sie mahnen, es dürfe nicht zum Bruch der Gesellschaft kommen. Seit Zamriks Flucht aus Syrien im Jahr 2015 sind etliche Jahre vergangen. Aber sind die, welche nun schon so lange in Deutschland wohnen, auch angekommen? Und trifft sie Schuld, wenn sie nicht ankommen? Schonungslos richtet er den Blick auf das Leid, die andauernde Schwebe syrischer Flüchtlinge zwischen „tausend Welten“, die er im Gedicht „[i]ntegrationswillig“ auslotet. Zamrik ruft mit seinem Gedichtband selbstbewusst aus: Sehet her – ich bin! Ein junger Poet, der leidet, anklagt und liebt. Ein Mensch, der seinen Platz beansprucht. Ein Mensch, der gehört und nicht bestimmt werden will.

Titelbild

Sam Zamrik: Ich bin nicht. Gedichte.
Aus dem Englischen von Heike Geißler, Sylvia Geist, Björn Kuhligk, Monika Rinck, Ulf Stolterfoht.
Hanser Berlin, Berlin 2022.
131 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783446273825

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