Für einen Moment der Welt entfliehen

In dem Roman „Nicht aus der Welt“ imaginiert Anne Köhler einen Zufluchtsort für Menschen, die eine Auszeit von ihrem Leben benötigen

Von Miriam SeidlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Miriam Seidler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn es einen Preis für skurrile Romanfiguren gäbe, Anne Köhler hätte gute Chancen, ihn mit ihrem neuen Roman Nicht aus der Welt zu gewinnen: ein ewiger Student, eine gerade Mutter gewordene Universitätsprofessorin, der Geschäftsführer eines ungewöhnlichen Hotels, ein Möchte-Gern-Journalist, ein Barkeeper und Linda, die nicht mehr weiß, wer sie ist und wo sie herkommt. Zusammen finden die Figuren auf der Suche nach sich selbst im Lauf des Romans in einer Hotel-Bar in Berlin und in einem Dorf an der polnischen Grenze. Bis es allerdings soweit ist, gibt es einige Irrungen und Wirrungen, die durch die Biographien der Figuren, ihre Fehler und Schwächen bedingt sind.

Der Roman beginnt mit der Geschichte des Langzeitstudierenden Hempel. Er steht am Berliner Flughafen, Schweißtropfen auf der Stirn, weil er erstmals in ein Flugzeug steigen soll und grundsätzlich Berlin eigentlich nicht verlassen möchte. Eingebrockt hat er sich diese Situation aber selbst, weil er zu feige war, seiner Freundin Elfie zu gestehen, dass die Teilnahme am New York Marathon nicht sein großer Traum ist, wie er es zu Beginn ihrer Beziehung einmal in der Hoffnung auf einen möglichst unerreichbaren Wunsch formuliert hat. Der völlig unsportliche junge Mann hat nun jahrelang so getan, als würde er auf dieses Ziel hin trainieren, hat sich aber stattdessen in Cafés oder an der Uni herumgetrieben. Als dann die Zusage für die Teilnahme am Marathon kam, stand nicht die Erfüllung seines großen Traumes bevor, sondern er sah sich sehenden Auges in seinen größten Albtraum schlittern. Schließlich konnte er nun seiner rührigen Freundin, die bereits ihre und seine Wohnung mit einer New-York-Wandtapete ausgestattet hat, nicht mehr beichten, dass das mit dem Marathon vielleicht doch nicht so wirklich seinem Naturell entspricht.

Dabei muss man diesem Hempel zugestehen, dass er wirklich keine guten Startbedingungen hatte. Seine Mutter hat ihn nicht nur alleine großgezogen, sondern war auch davon überzeugt, dass etwas Besonderes aus dem Sohn eines Musikers werden müsse. Darunter verstand sie als großer Schlagerfan, dass auch ihr Sohn eines Tages ein erfolgreicher Sänger sein wird. Da sie aber nicht nur für den Schlager schwärmt, sondern zugleich absolute Weihnachtsfanatikerin ist – bereits im September beginnt sie ihr Haus weihnachtlich zu schmücken – gab sie ihrem Sohn den Vornamen des Sängers, der mit White Christmas einen der wohl berühmtesten Weihnachtsgassenhauer geschrieben hat: Bing Crosby. Bing Hempel ist es also gewohnt, Erwartungen nicht zu erfüllen – allerdings liegt ihm sehr viel an Elfie, die ihm mit ihrer einfühlsamen Art – man könnte auch sagen einem Helfersyndrom – Sicherheit gibt. Der innere Kampf zwischen seinem Phlegma und dem Wunsch, Elfie nicht zu enttäuschen, lässt ihn zu Beginn des Romans verzweifelt am Flughafen stehen. Den Flug muss er alleine antreten, da Elfies beste Freundin just an dem Wochenende heiratet, an dem der Marathon stattfindet. Da muss Elfie schweren Herzens in Berlin bleiben, plant aber zumindest den Marathon per App, mit der man einzelne Läufer tracken kann, zu verfolgen. In seiner Not beichtet Hempel dem Flughafenmitarbeiter am Schalter seine missliche Situation, der ihn nicht nur aus dem Sichtfeld von Elfie bringt, sondern ihn auch wenig später an einen geheimen Ort bringt: das Hotel, das im Verlauf des Romans noch eine zentrale Rolle spielen wird.

Der sprühende Einfallsreichtum und die mit sprachlicher Raffinesse entwickelten Details, mit denen die Figur ausgestattet ist, geben nur einen kleinen Vorgeschmack auf das, was noch folgen wird. Der Flughafenmitarbeiter ist zugleich Page in einem Hotel, das es offiziell nicht gibt. Ein geheimer Mäzen hat das Haus von vier Architekturstudenten errichten lassen, um hier Menschen eine Zuflucht zu geben, die aus unterschiedlichsten biographischen Gründen eine Auszeit benötigen. Die Hotel-Bar ist die Anlaufstelle für die Gäste. Der Barkeeper Juri ist neben der Hausdame Irina ihr Ansprechpartner. Über das Haus selbst herrscht der neurotische Valentin.

Auf den ersten Blick scheint der klar strukturierte und penibel auf sein Äußeres achtende Valentin, der neben der Arbeit im Hotel als Lehrbeauftragter an der Universität beschäftigt ist, das absolute Gegenteil des nur wenig jüngeren Hempel zu sein. Im Lauf der Lektüre zeigen sich doch einige Gemeinsamkeiten der beiden Figuren: Auch Valentin hat es als Nachzügler in seiner Familie nicht leicht. So leidet er unter anderem an dem Gefühl, dass seine Geburt seine Mutter an einem selbstbestimmten Leben gehindert habe. Er ist in einem Souterrainzimmer aufgewachsen und bestand deshalb beim Bau des Hotels darauf, auf dem Dach ein gläsernes Zimmer zu bauen, von dem aus er nicht nur in den Himmel blicken, sondern auch große Teile des Innenhofs des Hotels überwachen kann. Valentin ist pedantisch, braucht absolute Ordnung sowohl in seiner Wohnung als auch in seinem Tagesablauf sowie in seinem Terminkalender. Nach dem Tod seiner Mutter hat ihn sein einziger Freund, der Architekt Daniel, der inzwischen in Hongkong arbeitet, dazu überredet, eine Therapie zu beginnen. Daniel ist Valentins einzige Bezugsperson, die Beziehung der beiden hat homoerotische Züge, dennoch schafft er es nicht, den Freund in Hongkong zu besuchen:

Daniel atmete hörbar ein und stieß einen Seufzer aus. Irgendetwas hatte er auf dem Herzen. Daniel existierte zumeist völlig geräuschlos. Valentin hatte das immer besonders an ihm gemocht. Es brauchte mehrere Ansätze, bis Daniel endlich herausbrachte: „Als ich damals weggegangen bin aus Berlin …“ Seine Stimme brach. Er schien darauf zu warten, dass Valentin das Wort übernahm, aber der blieb still. „Du hast mich nie besucht“, sagte Daniel schließlich. Dem war nichts hinzuzufügen. Valentin hatte Daniel nie besucht. „Du bist ja nicht aus der Welt“, hatte Valentin damals beim Abschied zu ihm gesagt, wohl wissend, dass Daniel zwar nicht aus der Welt verschwand, wohl aber aus Valentins Reichweite.

Wenn Valentin nicht weiter weiß, sprich wenn er die Hilfe Daniels benötigen würde, um seinen Alltag zu bewältigen, ruft er den fernen Freund nicht an, sondern faltet Vögel oder andere Tiere aus Origami. Im Lauf des Romans wird er allerdings so aus dem Gleichgewicht gebracht, dass ihn auch das Falten nicht mehr beruhigen kann.

Das erste Anzeichen dafür, dass der Alltag aus den Fugen geraten könnte, ist der Umzug von Valentins Therapeutin in einen anderen Stadtteil. Alle seine Versuche, sie davon zu überzeugen, dass man ein lieb gewordenes Viertel nicht verlassen dürfe, scheitern, denn sie zieht dorthin, wo sie aufgewachsen ist. So muss Valentin nun seinen Stadtteil verlassen, um seinen wöchentlichen Termin  wahrzunehmen. Die Beschreibung seiner Fahrt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln ist wie so viele Beschreibungen Köhlers ein kleines Kabinettstück. Valentins Verachtung von Schmutz und fremden Menschen machen ihm das Leben schwer, bereiten aber den Leser*innen ungemeines Vergnügen. Da er, um alle Eventualitäten auszuschließen, viel zu früh losgefahren ist, setzt er sich in der Nähe der Praxis auf eine Parkbank, neben eine Frau mit einem Kinderwagen. Die Szene, die aus einem Film von Woody Allen stammen könnte, ist Valentins erste Begegnung mit der Professorin Friederike.

Obwohl auch diese eher verschlossen ist, kommen beide ins Gespräch. Dem Fremden kann die junge Mutter, von der nicht klar wird, ob sie an einer vorübergehenden Wochenbettdepression leidet oder tatsächlich eine unüberwindbare Abneigung gegenüber dem Mutterdasein verspürt, ihr Herz ausschütten:

Unwillkürlich musste sie lächeln, obwohl ihr vielmehr nach Heulen zumute war. In diesen einfachen Worten lag trotz der gestelzten Ausdrucksweise so viel Verständnis, dass es Friederike rührte. Gleichzeitig schockiert es sie, dass ein Fremder auf einer Bank ihr mehr Empathie entgegenbrachte als ihr eigener Mann. Vielleicht war es dieses Gefühl von Fürsorge und Anteilnahme in Kombination mit Übermüdung und Erschöpfung, das bei Friederike alle Barrieren niederriss. Als wäre ein Damm gebrochen, flossen die Worte nur so aus ihr heraus. Sie redete sich den ganzen Frust von der Seele, sprach alles aus, was sie seit Monaten in sich hineingefressen hatte. Sie redete sich richtig in Rage, erzählte ihm, dass die Mutterschaft sie, die immer gut für ihre Überzeugungen habe eintreten können, plötzlich unsicher und feige habe werden lassen, ja, dass sie sich gar nicht mehr wie sie selbst fühle. Erst in diesem Moment wurde ihr das in aller Tragweite bewusst: Die Person, die sie vor der Schwangerschaft gewesen war, war nicht mehr da. Zum ersten Mal sprach sie laut aus, was sie sich kaum zu denken traute: dass sie sich wünschte, ihr Baby wäre nie geboren worden.

Für Menschen wie die von Valentin nur als „transparente Frau“ bezeichnete Friederike ist das Hotel geschaffen worden, und so wird ihr einige Tage später auf der Toilette eines Cafés eine Zimmerkarte und die Hoteladresse unter der Kabinenwand hindurchgeschoben. Friederike ergreift die Chance, klettert aus dem Fenster und verschwindet.

Mit diesem Ort, der offiziell nicht existiert, einer sprichwörtlichen Utopie, schafft Köhler einen Raum, der wie ein Märchenschloss mit geheimen Wegen und verschiebbaren Wänden ausgestattet ist. Dass die Utopie auch zur Falle werden kann, zeigt die Autorin an der Figur Linda. Diese lebt schon lange im Hotel und hat sich in ihrem ehemals sterilen Zimmer häuslich eingerichtet. Obwohl sie unter extremer Höhenangst leidet, kriecht sie jeden Tag hinaus auf den kleinen Balkon ihres Zimmers, um Valentin zu beobachten. Sie kennt nicht nur seinen Tagesablauf, sondern auch seine Gewohnheiten und ist in der Lage, aus seinem Verhalten seine aktuelle Stimmung abzulesen.

Dynamik kommt in das Geschehen, als Friederike den von Selbstzweifeln geplagten Hempel auf dem Flur des Hotels aufliest und nach einigen Whiskys in der Hotel-Bar beschließt, Linda, die seit Stunden auf dem kalten Hotelbalkon liegt, vor dem Erfrieren zu retten. Es ist ein Vergnügen, zu verfolgen, wie Köhler im Aufeinandertreffen der Figuren eine Reise entwickelt, die alle dazu nötigt, sich mit ihren geheimsten Wünschen und Sehnsüchten auseinanderzusetzen. Und so stellt der Roman an alle die Frage, was im Leben tatsächlich wichtig ist und wofür es sich lohnt, die eigenen Ängste und Voreingenommenheiten zu überwinden.

Der Roman Nicht aus der Welt ist aus der wechselnden Innenperspektive seiner Protagonist*innen geschrieben. Das Geflecht aus Notlügen, geheimen Sehnsüchten und unerfüllten Träumen wird in seinen verschiedenen Facetten ausgeleuchtet und in immer wieder neuen Konstellationen diskutiert. Gekonnt und mit viel Humor zeigt die Autorin durch die wechselnden Sichtweisen, wie sehr Fremd- und Selbstwahrnehmung auseinanderdriften können. Keine Figur scheint tatsächlich ein zuverlässiger Beobachter zu sein. Manchmal ist es beim Lesen daher notwendig innezuhalten, und sich noch einmal zu vergegenwärtigen, ob tatsächlich gerade über die Figur gesprochen wird, die kurz vorher noch über ihre eigene Situation sinniert hat. So wird beispielsweise die Sympathie, die die Leser*innen im Lauf der Lektüre für Friederike entwickeln, wenn diese aus der Perspektive von Valentin oder ihrer eigenen Innensicht beschrieben wird, in Frage gestellt, wenn der Barkeeper sie schnoddrig als die „Tante im Leopardenprint“ bezeichnet oder Hempel in Anbetracht der dauerrauchenden Frau resigniert feststellt:

Sie sah ihn streng über ihre Zigarette hinweg an, die ihr schräg im Mundwinkel hing. Sie schien sich in der Rolle der verwegenen Westernheldin zu gefallen. Mittlerweile kam sie Hempel ein bisschen irre vor.

Ein bisschen irre sind wohl alle diese Figuren, aber macht nicht gerade das gute Literatur aus? Mit ihrem zweiten Roman hat sich Anne Köhler wieder als eine Meisterin der atmosphärischen Beschreibungen und der psychologischen Figurenzeichnung erwiesen. Ihre Protagonist*innen sind so überspitzt gezeichnet, dass sie knapp an der Grenze zum Unwahrscheinlichen vorbeischrammen, und dabei so fesseln, dass man nach 352 Seiten enttäuscht feststellt, dass die Lektüre zu Ende ist.

Titelbild

Anne Köhler: Nicht aus der Welt. Roman.
DuMont Buchverlag, Köln 2022.
352 Seiten, 24 EUR.
ISBN-13: 9783832180041

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