Den Hunger mit Worten stillen

Knut Hamsuns Meisterwerk, grandios übersetzt nach der Erstfassung von 1890

Von Liliane StuderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liliane Studer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hunger ist der wohl bekannteste Roman von Knut Hamsun (1859–1952). 1890 erschienen, hat er den dreißigjährigen Autor, der bereits in den späten 1870er-Jahren mit literarischen Werken an die Öffentlichkeit getreten war und von 1882 bis 1888 in den USA lebte, berühmt gemacht. Bis Knut Hamsun für sein Lebenswerk den Nobelpreis für Literatur bekam, vergingen nochmals dreißig Jahre. Dass der norwegische Autor aktiv für den Nationalsozialismus eintrat und nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer hohen Geldstrafe wegen Kollaboration mit den deutschen Besatzern verurteilt wurde, beeinträchtigt bis heute die Wahrnehmung seiner Werke. Doch trotz aller berechtigten Einwände gegenüber Hamsuns politischer Haltung ist Hunger ein großartiger Roman, der den Autor zum Hauptvertreter der modernen Literatur Ende des 19. / Anfang des 20. Jahrhunderts machte. Und es ist ein Glück für die deutschsprachigen Leser:innen, dass der Menasse Verlag im Januar die neue Übersetzung von Ulrich Sonnenberg nach der Erstfassung von 1890 herausgegeben hat. Obwohl eigentlich nichts passiert, lesen wir den Roman atemlos von der ersten bis zur letzten Seite und folgen fasziniert den sprachlichen Eskapaden, den trostlosen Abstürzen, den manchmal umwerfend komischen, manchmal grotesk sich selbst überschätzenden Geschichten des Ich-Erzählers, ein junger Mann, der in gnadenloser Offenheit seine Irrungen und Wirrungen vor uns Leser:innen ausbreitet.

In vier Teilen, „Stücke“ genannt, erzählt der männliche Protagonist detailgenau und gleichzeitig herrlich fabulierend seinen Lebensalltag, wie er ihn während eines unfreundlichen Herbstes und kalten Winters erlebt. Der Hunger ist sein ständiger Begleiter, ein Hunger, der ihn in die Knie zwingt, ihm die scheußlichsten Qualen beschert, ihn sogar einmal dazu verleitet, zu stehlen, der ihm aber seine Sprache nicht verschlägt, ja, der ihn vielmehr zu sprachlichen Höchstleistungen befähigt, in denen er in einer Mischung von Größenwahn, Verzweiflung, Überschätzung und Realitätsferne seine desolate Situation mit seinem ihm eigenen Humor offenlegt.

Der junge Mann flaniert, rennt, stolpert, stürzt durch Kristiania, die damalige Hauptstadt Norwegens, auf der Suche nach Geld, nach etwas Essbarem, getrieben vom großen Hunger, der ihn manchmal verwirrt reden lässt. Ganz real ist, dass er die Miete schuldig bleibt – mehrmals –, und also sein Zimmer verlassen muss. Dass er danach nirgends übernachten kann, realisiert er erst später, doch für einen wie ihn ist das kein Problem:

Durch Gedankenassoziationen befand ich mich plötzlich in einem großen Zimmer mit zwei Fenstern, in dem ich einmal in Hægdehaugen [Stadtteil im Nordwesten von Kristiania] gewohnt hatte, auf dem Tisch sah ich ein Tablett voll mit gut belegten Smørrebrøds, die ihr Aussehen veränderten, sie wurden zu einem Beefsteak, einem verführerischen Beefsteak, einer schneeweißen Serviette, zu Unmengen von Brot, einer Silbergabel. Und dann ging die Tür auf: Meine Zimmerwirtin trat ein und brachte mir noch Tee … Erscheinungen und dumme Träume.

Mittlerweile verträgt er gar kein Essen mehr, „ich war nicht so veranlagt; es war eine Besonderheit von mir, eine Eigenart“ – so seine Erklärung.

Dass er eigentlich ein begnadeter Feuilletonist ist, erkennt endlich auch ein Redakteur, der ihm für einen seiner Texte 10 Kronen bezahlt, für ihn die Rettung für den Moment, nicht für länger.

Die Geschichte nachzuerzählen, kann nicht gelingen. Denn Hunger muss gelesen werden, jedes Wort, jede Abschweifung in eine noch so kleine Geschichte, jeder Gang ins Pfandhaus oder zur Verabredung mit Ylajali, der geheimnisumwitterten Frau, der er immer wieder begegnet. Oder ist auch sie nur eine Erscheinung? Der Protagonist trifft ständig auf irgendwelche Personen, die er oft mit Namen anspricht, die jedoch schnell auch wieder verschwinden. Und jede dieser Begegnungen treibt ihn an, noch eine Geschichte zu erzählen, nochmals aufzuzeigen, was für ein großartiger Schreiber er ist: „Ich war völlig gefesselt von meinen eigenen Geschichten, seltsame Bilder zogen an meinen Augen vorbei, das Blut stieg mir zu Kopf, und ich lachte aus vollem Hals.“ Einen Augenblick später sieht er in sich nur noch den Verlierer.

Die letzte Krise hatte mir ziemlich übel zugesetzt; mir fielen die Haare büschelweise aus, auch die Kopfschmerzen waren sehr unangenehm, vor allem morgens, und die Nervosität wollte sich nicht legen. Tagsüber saß ich da und schrieb mit von Lappen umwickelten Händen, nur weil ich meinen eigenen Atem auf ihnen nicht ertrug. […] Ich war ziemlich am Ende.

Öfters führt er Zwiegespräche mit Gott, an dessen Existenz er gerne glauben möchte, was aber nicht einfach ist:

[Ich] blieb mitten auf der Straße stehen und sagte laut, wobei ich die Fäuste ballte: Eines will ich dir sagen, mein lieber Herr Gott: Du bist ein Scheißkerl!“ Wütend und mit zusammengebissenen Zähnen nicke ich hinauf zu den Wolken: „Zum Teufel noch mal, du bist ein Scheißkerl!“

Dann ging ich ein paar Schritte und hielt wieder inne. Plötzlich ändere ich mein Verhalten, ich falte die Hände, lege meinen Kopf schief und frage mit süßlich frömmelnder Stimme: „Hast du dich auch an Ihn gewandt, mein Kind?“

Es hörte sich nicht richtig an.

Mit einem großen I, sage ich, mit einem I wie eine Domkirche. Und noch einmal: „Hast du auch Ihn angerufen, mein Kind?“ Und ich senke den Kopf, lasse meine Stimme weinerlich klingen und antworte: „Nein!“

Auch das hörte sich nicht richtig an.

Du kannst sowieso nicht heucheln, du Narr! […]

So gehe ich und schule mich selbst in Heuchelei, stampfe ungeduldig auf der Straße auf, wenn es mir nicht gelingt, und schimpfe mich einen Hohlkopf, während erstaunte Passanten sich umdrehen und mich betrachten.

Es sind solche Passagen, mit dem für Hunger typischen Wechsel von Präsens und Imperfekt, die nach mehr rufen, die ein Interesse wecken an diesem Mann in prekären Verhältnissen, der nicht sonderlich sympathisch wirkt, dem es trotzdem gelingt, mit seinen Geschichten die Leser:innen einzufangen. Und so ist Felicitas Hoppe nur zuzustimmen, die in ihrem erhellenden Nachwort abschließend festhält:

Hamsuns Größenwahn ist von einer welterfahrenen Komik grundiert, die nach wie vor unsere Konventionen entlarvt und unsere provinziellen Ängste in die Waagschale wirft.

Schließlich träumen wir alle davon, unsere Erniedrigungen in literarische Triumphe zu verwandeln. Hamsun hat es uns meisterhaft vorgemacht. Mit allen Risiken und Nebenwirkungen. Und bis heute macht es ihm keiner nach.

Titelbild

Knut Hamsun: Hunger. Roman. Neuübersetzung nach der Erstausgabe von 1890.
Aus dem Norwegischen von Ulrich Sonnenberg.
Manesse Verlag, München 2023.
256 Seiten , 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783717525608

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