Painted From Memory

Mit „The Shards“ hat Bret Easton Ellis ein melancholisches Meisterwerk über den Abschied von der Kindheit geschrieben

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das letzte, was man von Bret Easton Ellis gelesen hat, war seine umstrittene Cancel Culture-Abrechnung Weiss, ein mehrere hundert Seiten umfassender Essay über die Zumutungen der woken digitalen Gesellschaft, zumal für einen Autor, der seine Karriere darauf aufgebaut hat, gegen jegliche Konventionen ethischer oder moralischer Art konsequent zu verstoßen. Dazu kam sein „Auftritt“ in Benjamin von Stuckrad-Barres autofiktionalem Roman Panikherz, in dem ein sichtlich weggedröhnter und intellektuell minderbemittelter Ellis samt Partner sich mit Stuckrad-Barre in L.A. zum Essen trifft und sich bis auf die Knochen blamiert. Man muss vermuten, dass diese Begegnung, wie so vieles in Panikherz, zumindest so nicht stattgefunden hat, und hofft inständig, dass Ellis von diesem literarischen Exkurs seines gelegentlichen Imitators wusste. In jenem Gespräch mit Stuckrad-Barre spricht Ellis auch davon, keine Romane mehr schreiben zu wollen, sondern sich auf das Internet zu spezialisieren, was er in Form eines viel gehörten Podcasts in den letzten Jahren auch tatsächlich getan hat. Und jetzt doch ein 800seitiger Roman, der längste in seiner literarischen Laufbahn? 

Besonders gespannt war man ja nicht auf ein neues (auto)fiktionales Werk des Autors, dessen Karriere in den 80er Jahren mit den zu postmodernen Klassikern avancierten Romanen Unter Null und Einfach unwiderstehlich fulminant begann und mit American Psycho 1991 seinen Höhepunkt fand. Danach ging es jedoch steil bergab. Einer noch gelungenen Kurzgeschichtensammlung (The Informers) folgten die zwar unterhaltsame, aber etwas maßlose Fashion-Terrorismus-Melange Glamorama, das schrecklich platte autofiktionale Werk Lunar Park und die misslungene Unter Null-Fortsetzung Imperial Bedrooms. Ein solch überzeugendes, ambitioniertes und schlichtweg großartiges Buch wie The Shards hat also mit Sicherheit niemand erwartet.

Wieder einmal greift Ellis zum Mittel des autofiktionalen Erzählens, das in den letzten zwanzig Jahren sein Werk geprägt hat, das er jedoch bisher nur leidlich interessant gestalten konnte. Ellis erzählt von seinem 17-jährigen Selbst und dessen letztem Jahr auf einer Elite-High School in L.A. in den frühen 80er Jahren. Es geht um Freundschaft, Liebe, Sex, Coming-Out, um jene seltsame Phase auf der Schwelle zum Erwachsensein, eine traumgleiche Zeit für Teenager, die den Verlust der Unschuld erleben, der natürlich erst retrospektiv als solcher wahrgenommen wird. Manisch sucht der Erzähler Bret Ellis nach jenem Punkt, an dem der Verlust seiner Unschuld eingeleitet wurde, nach dem Moment, als sein jugendliches Selbst unwiderruflich in die Welt der Erwachsenen getreten ist und es für ihn kein Zurück mehr in die vermeintliche Geborgenheit der Kindheit gab, die, immerhin handelt es sich hier um die Welt des Bret Easton Ellis, natürlich so auch nie existiert hat. Seine Protagonisten sind weiterhin vernachlässigte reiche Snob-Teenager, die trinken, sich mit Drogen vollpumpen und zügellosen Sex haben, egal mit welchem Geschlecht. Nach außen hin wird die Fassade der gelackten Eliteschüler gewahrt, die Reize der Oberflächlichkeit zelebriert, der Verlust jeglicher produktiver Kommunikation inszeniert.

Und natürlich treibt wie so oft in Ellis‘ Büchern auch wieder ein grausamer Serienkiller sein Unwesen, die Beschreibungen von dessen Verbrechen stehen denen Patrick Batemans in American Psycho um Nichts nach. Doch die Bedeutung dieser sensationsheischerischen Ebene entschwindet im Verlauf der 800 Seiten immer mehr in den Hintergrund, bis es eigentlich egal ist, was hier genau passiert – in dieser seltsam anmutenden Geschichte um verschwundene, gefolterte und getötete Teenager, jenem irren Serienmörder sowie der mysteriösen Sekte, die das L.A. der frühen 80er heimsucht und möglicherweise mit diesem unter einer Decke steckt. 

Der Reiz dieses Romans liegt nämlich viel eher zum einen darin, dass man nicht weiß, ob man es mit einem zuverlässigen Erzähler zu tun hat: Ist Bret Ellis vielleicht am Ende selbst jener durchgeknallte Serienkiller, den alle nur den „Trawler“ nennen? Oder gibt es den „Trawler“ zwar, ist er aber nicht mehr als eine von Brets Paranoia hochgebauschte Zeitungsmeldung, da er glaubt, in seinem neuen Klassenkameraden Robert Mallory den „Trawler“ zu erkennen? Oder aber ist Robert tatsächlich jener Serienkiller und die abgestumpfte Freundesclique wie auch deren ebenso entrückte Eltern wollen Bret einfach nicht glauben? Zum anderen ist es gerade dieses völlige Desinteresse, mit dem Brets Umwelt seinen immer manischeren Berichten von „Trawler“ und dessen Taten begegnet, die möglicherweise den vielen Drogen, dem Alkohol und dem allgemeinen südkalifornischen Ennui der dekadenten 80er Jahre geschuldet sind, die Ellis schon immer so meisterhaft beschrieben hat. Möglicherweise begegnen sie Brets wachsendem Irrsinn auch deswegen mit einem hohen Maß an Gleichgültigkeit, weil er, der sich bereits mit 17 als Schriftsteller inszeniert, einfach mit zu viel Phantasie gesegnet ist.

Interessanterweise verliert dieses Buch keineswegs an Faszination, je weiter man in die Geschichte vordringt, gerade weil Ellis gar nicht daran interessiert ist, sein autofiktionales Rätsel für die Leser*innen nachvollziehbar aufzulösen. Und die Täuschung zieht sich bis in den Paratext hinein. Das Nachwort zeichnet Ellis‘ Karriere nach, allerdings im Kontext der Romanfigur Bret. Und selbst das Autorenfoto auf dem Schutzumschlag ist ein Bild aus Ellis‘ High School Jahrbuch. Das Schönste an diesem Roman aber ist wohl der Ton, in dem er geschrieben ist, der ziemlich genau den Ton jenes Textes trifft, auf den sich Ellis explizit und implizit immer wieder beruft: Joan Didions Essay The White Album aus dem Jahr 1978. In diesem zeichnet die Autorin die Paranoia der Post-68er in einem nach den Manson-Morden aufgewühlten Los Angeles nach und parallelisiert die gesellschaftliche Stimmung mit ihrer eigenen Paranoia-induzierenden Nervenkrankheit, unter der sie in jener Zeit litt. Didion begann, wie viele ihrer Zeitgenossen in den späten 60er Jahren, in Allem ein Zeichen zu sehen. Gemeinsam ließen diese unseligen Zeichen den dunklen Schatten, der sich auf den Sommer der Liebe gelegt hatte, immer dichter werden. 

Jenen Verlust der Unschuld reflektiert auch Ellis in Bezug auf den Abschied von der eigenen Kindheit in einem seiner Ansicht nach von einer ähnlichen Paranoia geprägten L.A. der frühen 80er Jahre. Der eifrige Didion-Leser Bret – die Autorin und sogar The White Album werden nicht nur mehrfach genannt, Bret bezeichnet Didion immer wieder als seine Lieblingsautorin – versucht, das L.A. Didions sprachlich wie ästhetisch nachzubilden. Manson wird zum „Trawler“, aus Bands wie den Doors oder den Stones werden Ultravox und die GoGos, aus Marihuana Kokain und Beruhigungspillen. Aber letztlich ist die Welt zyklisch geordnet, alles wiederholt sich, nur unter anderen Vorzeichen.

Es wäre sicherlich verlockend, ein Jahrbuch von Ellis‘ Abschlussklasse zu suchen und hier nach einem Schlüssel zu dieser Geschichte und ihrem Wahrheitsgehalt zu fahnden. Gab es Menschen wie Susan Reynolds, Robert Mallory oder Debbie Schaffer wirklich? Sind in jener Zeit wirklich ein paar Teenager auf bestialische Weise ermordet worden? War Ellis wirklich in den Tod eines Robert Mallory verwickelt? Aber würde dies etwas bringen? Im Grunde ist die Serienkiller-Story, der ganze Brutalitäts-Kitsch, die Paranoia, die explizite Beschreibung von Sexualakten doch nur ein Täuschungsmanöver. Man muss diesem Buch aufgeschlossen begegnen und immer wieder versuchen, zwischen den Zeilen zu lesen. Dann bleibt eines übrig: ein Roman über das Ende der Kindheit und die unstillbare Melancholie eines 60-jährigen Mannes, der diese, wie die meisten von uns, niemals verwunden hat. Übrig bleiben nur die titelgebenden Scherben.

Titelbild

Bret Easton Ellis: The Shards. Roman.
Ins Deutsche übersetzt von Stephan Kleiner.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023.
736 Seiten , 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783462004823

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